Hegt ein Patient starke Befürchtungen und negative Erwartungen, durch ein Medikament oder eine medizinische Intervention krank zu werden, spricht man vom sogenannten "Nocebo-Effekt". Dieses Phänomen lässt sich umgehen: Durch ein klärendes Arztgespräch, das auf die positiven Effekte eines Arzneimittels oder einer Therapie zielt, und so eine Überbewertung potenzieller Nebenwirkungen durch den Patienten verhindert.
Ein Patient bricht eine erfolgreiche Therapie aufgrund von Nebenwirkungen ab, nachdem er sich ausführlich mit dem Beipackzettel befasst hat. Eine weitere Patientin sorgt sich um die Wirksamkeit ihrer Behandlung, weil sie auf ein Generikum umgestellt werden soll. Und ein Teilnehmer einer randomisierten kontrollierten Pharmastudie berichtet über Nebenwirkungen, obwohl er in den Placeboarm randomisiert wurde und lediglich ein Scheinpräparat eingenommen hat. All dies können Beispiele für den Nocebo-Effekt sein, dem "Gegenstück" zum Placebo-Effekt. Nocebo-Effekte können unerwünschte Nebenwirkungen auslösen und verstärken, die nicht durch die pharmakologischen Effekte der Medikation erklärbar sind und auch bei Scheintherapien auftreten [1, 2].
Wie ausgeprägt die Wirkung von Nocebo-Effekten sein kann, lässt sich an den Kontrollarmen klinischer Studien ablesen. Auch dort treten unerwünschte Nebenwirkungen mit hoher Prävalenz auf, obwohl die Studienteilnehmer beziehungsweise Patienten keinerlei pharmakologisch aktive Substanz erhalten. Dabei entsprechen die berichteten "Nebenwirkungen" in der Regel denen des Verums und können bis zum Studienabbruch führen [3]. So kommt bei Studien zur präventiven Wirkung von Statinen jeder zweite Patient aus der Placebogruppe, der die Studien wegen des Auftretens unerwünschter Nebenwirkungen abbricht. Bei Studien zur Wirkprüfung von Antidepressiva ist es jeder dritte Patient [3 – 5].
Nocebo-Effekte in der klinischen Praxis?
Die Bedeutung von Nocebo-Effekten für Patienten und Behandler ist inzwischen für nahezu alle Erkrankungen und deren Therapien beschrieben worden und unter unterschiedlichen Gesichtspunkten für die klinische Praxis relevant [6, 7]:
Auftreten unerwünschter Nebenwirkungen
Durch Nocebo-Effekte können die Nebenwirkungen medizinischer Behandlungen induziert oder verstärkt werden. Sexuelle Dysfunktionen (reduzierte Libido, Erektions- und Ejakulationsstörungen) z.B. traten unter Finasterid- beziehungsweise Atenolol-Behandlung bis zu zehnmal häufiger bei Patienten auf, die über diese möglichen Nebenwirkungen informiert waren [8 – 10]. Im Kontext chemotherapeutischer Behandlungen berichteten 40 % der Patientinnen, die als Nebenwirkung Übelkeit erwarteten, schon im Vorfeld der Therapie, dass ihnen schlecht sei. Keine antizipatorische Übelkeit trat hingegen auf, wenn die Patientinnen Symptomfreiheit erwarteten [11].
Non-Adhärenz und Behandlungsabbruch
Nocebo-Effekte können zu Non-Adhärenz und Therapieabbrüchen beitragen. So wurde in einer multizentrischen Studie zur Wirksamkeit von ASS versus Sulfinpyrazon nicht in allen Studienzentren über mögliche gastrointestinale Nebenwirkungen aufgeklärt. Die Abbruchrate wegen subjektiver gastrointestinaler Nebenwirkungen lag bei den aufgeklärten Patienten um ein Sechsfaches höher [12].
Wirksamkeit von Interventionen
Die Wirksamkeit von medizinischen Interventionen kann durch negative Erwartungen verringert oder sogar vollständig aufgehoben werden. In einem Schmerzexperiment führte allein die verbale Information, dass die Schmerzmittelgabe unterbrochen und dadurch das Schmerzempfinden verstärkt wird, zu einer fast vollständigen Aufhebung des analgetischen Effekts des Opiats Remifentanyl [13]. Nocebo-Effekte können auch durch die Umstellung von Therapien auf Generika oder Biosimilars induziert werden. Tatsächlich erzielen in Placebo-Studien "preisgünstige" oder als Generikum bezeichnete Placebos schlechtere Wirkungen im Vergleich zu Scheinmedikamenten, die als "teuer" oder als das Markenpräparat angekündigt wurden [14, 15].
Beim Wechsel von Markenprodukten auf Generika berichten viele Patienten einen Wirkungsabfall beziehungsweise einen Anstieg an Nebenwirkungen. Zwischenzeitlich konnte gezeigt werden, dass diese Effekte auch auftreten können, selbst wenn die Medikamente real gar nicht umgestellt sind, Patienten jedoch befürchten, dass sie umgestellt worden wären. Das Gefühl, ein "billigeres" Medikament verabreicht zu bekommen, löst bei vielen Patienten Ängste aus, dass dieses weniger wirksam oder nebenwirkungsreicher sein könnte.
Wie werden Nocebo-Effekte vermittelt?
Die psychologischen Mechanismen von Nocebo-Effekten umfassen Erwartungs- und Lernprozesse. Negative Erwartungen können durch verbale und schriftliche Informationen induziert werden, wie sie etwa bei Aufklärungsgesprächen üblich sind. Hier kann ein positives "Framing" hilfreich sein, indem der Arzt neben Risiken und Nebenwirkungen auch die Wirksamkeit und Effektivität mit dem Patienten bespricht.
So wurde die Injektion eines Lokalanästhetikums als signifikant weniger schmerzhaft bewertet, wenn der Nutzen ("um den Einstichbereich taub machen") statt der Nebenwirkungen ("ein Stich und Brennen, als hätte Sie eine Biene gestochen") betont wurde [16]. Auch unbeabsichtigte Suggestionen können negative Erwartungen auslösen. Der gut gemeinte Wunsch: "Ich hoffe, dass das Medikament bei Ihnen anschlägt", lässt sich auch so interpretieren, dass das Arzneimittel möglicherweise gar nicht wirkt oder schlimmstenfalls die Erkrankung nicht behandelbar ist [17].
Auch negative Vorabkommunikation unter Patienten kann schaden
Negative Erwartungen können auch durch soziale Interaktionen unter Patienten beim "Wartezimmergespräch" oder in Internetforen verstärkt werden. Nocebo-Effekte wirken dadurch unter Umständen regelrecht "ansteckend": Eine Studie zum Höhenkopfschmerz zeigt, dass Studienteilnehmer, die im Vorfeld einer Bergexkursion öfter über das Risiko für Höhenkopfschmerz gesprochen hatten als die anderen, später häufiger und stärker dieses Symptom zeigten und zudem einen höheren Prostaglandinspiegel aufwiesen [18].
Auch negative Vorerfahrungen hinsichtlich eines Wirkstoffs oder einer medizinischen Intervention können die Erwartungshaltung beeinflussen. Daher sollten (negative) Erwartungen vom Arzt erfragt und gegebenenfalls mit dem Patienten besprochen werden. Daneben tragen Lernmechanismen wie die klassische Konditionierung zu Nocebo-Effekten bei. Hier wird eine Assoziation zwischen einem Reiz und einer Reaktion wie im berühmten Pawlowschen Experiment erworben, in dem Hunde auf den konditionierten Reiz eines Glockentons als konditionierte Reaktion Speichelfluss entwickelten.
Vergleichbar kann auch eine Assoziation zwischen Aussehen, Geruch oder Geschmack eines Medikaments und dessen Wirkung (bzw. Nebenwirkung) entstehen. Solche konditionierten Nebenwirkungen können auch auf andere Präparate und sogar Scheinmedikamente generalisieren [19].
Das Phänomen der antizipatorischen Übelkeit als Reaktion auf eine Chemotherapie (vgl. oben) lässt sich ebenfalls durch die klassische Konditionierung erklären. Hinweisreize des klinischen Kontexts, etwa der Geruch von Desinfektions- und Reinigungsmitteln, werden hier mit den Nebenwirkungen der Chemotherapie assoziiert. Die Folge: Nach einigen Zyklen kann schon der Krankenhauskontext als konditionierter Reiz die antizipative Übelkeit als konditionierte Reaktion auslösen [20]. Nocebo-Effekte lassen sich auch durch soziale Lernprozesse vermitteln, indem sie als das Ergebnis der Beobachtung anderer Personen auftreten, die das gleiche Medikament einnehmen [21].
Alles Einbildung? Biochemische und neurobiologische Korrelate
Die biochemischen und neurobiologischen Korrelate von Nocebo-Effekten lassen sich vor allem für die Nocebo-Hyperalgesie gut dokumentieren [5, 22]. Für dieses Phänomen wurde eine verminderte Freisetzung von Dopamin und endogenen Opioiden sowie eine Beteiligung des Cholecystokinin-Systems gezeigt, das bei der Schmerz- und Angstverarbeitung eine wichtige Rolle spielt [17, 23, 24].
Mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) ließ sich eine Reihe von Gehirnstrukturen identifizieren, die an Nocebo-Effekten beteiligt sind. Für die Nocebo-Hyperalgesie wurde eine verstärkte Aktivierung von Hirnregionen gezeigt, die in die Schmerzverarbeitung involviert sind, darunter der anteriore cinguläre Cortex (ACC), der präfrontale Cortex (PFC), der Hippocampus und die Insel [22].
Nocebo-Effekte haben somit messbare neurobiologische Korrelate, die zeigen, dass es um mehr als "Einbildung" geht.
Wie lassen sich Nocebo-Effekte vermeiden?
Das Wissen um die klinischen Implikationen des Nocebo-Effekts führt zu der Frage, wie man die negativen Erwartungs- und Lerneffekte im Praxisalltag berücksichtigen und vermeiden kann. Dieser Effekt hat jedenfalls schon in die S3-Leitlinie zur "Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen" mit einer Aussage Einzug gehalten, die sicher für die gesamte Medizin gilt: "[…], der Nozeboeffekt soll durch Vermeidung negativer oder angsterzeugender Informationen so weit wie möglich reduziert werden".
Folgende Maßnahmen können dazu sinnvoll beitragen [3, 25]:
Positiv formulieren
Die Diskrepanz zwischen der Notwendigkeit, den Patienten über die möglichen Nebenwirkungen des Medikaments zu informieren, und der Gefahr, den Nocebo-Effekt zu provozieren, versetzt die Ärzte in eine schwierige Situation. Ein Kompromiss wäre, beim Aufklärungsgespräch die positive Wirkung des Medikaments zu betonen und Informationen über mögliche Nebenwirkungen positiv auszudrücken ("Die meisten Patienten vertragen das Medikament gut" statt "Manche Patienten haben starke unerwünschte Reaktionen"). Ein Arzt kann auch nachfragen, ob ein Patient über Nebenwirkungen überhaupt informiert werden will – in Anbetracht dessen, dass diese Informationen die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen erhöhen kann [6, 7].
Verständlich erklären
Medizinische Fachbegriffe sind für Patienten oft unbekannt, weshalb es wichtig ist, fachspezifische Formulierungen zu vermeiden ("Wir haben keine Zeichen einer bakteriellen Infektion gefunden" statt "Der Test für bakterielle Infektion war negativ").
Kosten berücksichtigen
Auf der einen Seite können Informationen über die Kosten von Medikamenten Nocebo-Effekte auslösen, etwa wenn Patienten Angst haben, ein preisgünstigeres Medikament (Generika) von minderer Qualität zu bekommen. Auf der anderen Seite beeinflussen Kosten und Verpackung von Medikamenten auch Nocebo-Reaktionen, da teurere Medikamente solche Reaktionen ausgeprägter auslösen (Hyperalgesie) [26].
Erste Erfahrungen mit dem Medikament
Gerade bei der Erstgabe eines Arzneimittels werden beim Patienten Erwartungen und Konditionierungsprozesse angestoßen, die für die Entwicklung von Nocebo-Effekten und somit für den weiteren Behandlungsverlauf bedeutsam sind. Vor allem zu Behandlungsbeginn sollte der Arzt deshalb bedenken, wie sich mögliche Nebenwirkungen reduzieren lassen. Auftretende Nebenwirkungen können weniger belastend sein, wenn sie für den Patienten erklärbar ("die Nebenwirkung zeigt an, dass das Medikament nun zu wirken begonnen hat", "die Nebenwirkung tritt oft kurz am Anfang auf und lässt dann nach") und kontrollierbar ("die Nebenwirkung kann ich selbst durch XY reduzieren") sind.
Psychologische Faktoren berücksichtigen
Angst und negative Stimmung sind häufige Begleiter von Krankheiten und medizinischen Interventionen, können aber auch Nocebo-Effekte, insbesondere die Hyperalgesie, verstärken [13]. Auch unter diesem Gesichtspunkt sollte man die Stimmung des Patienten entsprechend berücksichtigen.
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert
- Arzt-Patient-Interaktion: Risiken und Nebenwirkungen des Arztgesprächs
- Patientenaufklärung: Der Beipackzettel reicht nicht
- Compliance fördern: Damit die Arbeit des Arztes Früchte trägt
- Arzt-Patienten-Kommunikation: Vom Sinn und Unsinn der Patienten-Motivierung
- Heiter bis wolkig: Wartezimmer der Erkenntnis
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (15) Seite 32-36