Menschen, die den Verlust eines Ehepartners oder nahen Verwandten betrauern, suchen nicht selten Hilfe beim Hausarzt. Um die Betroffenen wirksam unterstützen zu können, gilt es zwischen einer normalen Trauerreaktion, einer Depression und einer pathologischen Trauerform, der sogenannten "anhaltenden Trauerstörung", zu unterscheiden.
Hausärzte sind diejenigen im Gesundheitssystem, die am häufigsten regelhaft mit Patienten zu tun haben, die aufgrund des Verlusts einer nahestehenden Person trauern. Sie sind auch diejenigen, die am häufigsten von Trauernden um Unterstützung gebeten werden. Insofern bedarf es in dieser Schlüsselposition des Wissens über aktuelle Entwicklungen zum Thema Trauer.
Unterscheidung Trauer, anhaltende Trauerstörung und Depression
Die internationale Forschungsgemeinschaft ist sich weitgehend einig darin, dass Trauer sich signifikant von Depression und Angststörungen unterscheidet [8]. Obschon es Überlappungen einiger Symptomkomplexe gibt, können Unterschiede zwischen Trauer und Depression ausgemacht werden (vgl. Kasten 1 und 2). Bei den meisten Trauernden nimmt nach einer gewissen Zeit die Symptomatik graduell ab, zudem kommen bei Trauernden typische depressive Symptome wie Selbstabwertung, motorische Verarmung oder Gefühle der Wertlosigkeit deutlich seltener vor [12]. Bisherige Studienergebnisse [8, 12] weisen darauf hin, dass frühestens sechs Monate nach Verlust zwischen einer normalen Trauer und einer anhaltenden Trauerstörung unterschieden werden kann (Kasten 1).
- A. Verlust durch Tod
- B. Trennungsschmerz: Sehnsucht oder Verlangen (physischer oder psychischer Schmerz); täglich oder in belastender Intensität
- C. Kognitive, emotionale oder behaviorale Symptome
- Verwirrung über die eigene Rolle im Leben oder ein vermindertes Gefühl von Selbst (als ob ein Teil von sich selbst gestorben wäre)
- Schwierigkeiten, den Verlust zu akzeptieren
- Vermeidung der Erinnerung an den Verlust
- Schwierigkeit, anderen zu vertrauen
- Verbitterung oder Wut in Bezug auf den Verlust
- Schwierigkeiten, das Leben weiterzuführen (neue Freunde, Hobbys etc.)
- Gefühlstaubheit
- Empfindung, dass das Leben unerfüllt, leer und bedeutungslos ist
- Gefühl von Schock, Benommenheit und Betäubung
- D. Seit dem Verlust sind mindestens 6 Monate vergangen.
- E. Die Störung verursacht klinisch signifikante Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen Lebensbereichen.
- F. Die Störung kann nicht besser durch depressive Störungen, generalisierte Angststörungen oder durch eine posttraumatische Belastungsstörung erklärt werden.
Prävalenz
Bisherige Prävalenzstudien zeigen, dass 65 – 99 % der Trauernden einen normalen, nicht pathologischen Trauerverlauf haben. Ein spezifischer Anteil Trauernder erlebt aber einen komplizierten, lang anhaltenden Verlauf, welcher auch durch komorbide psychische Störungen begleitet werden kann [12]. In Deutschland liegen die aktuellen Zahlen bei 6,7 % [4].
Trauer und Medikamente
Der Unterschied zwischen Trauer und Depression hat Konsequenzen. Bisher gibt es keine Studienergebnisse, die zeigen, dass bei normaler Trauer oder anhaltender Trauerstörung Antidepressiva oder Anxiolytika hilfreich und wirksam sein können. Es wird sogar im Gegenteil befürchtet, dass dadurch der Trauerprozess unnötig verlängert wird [1, 8, 13].
Dennoch gibt es Verläufe, in denen eine depressive Störung und/oder Substanzmissbrauch bis hin zu einer Suchterkrankung hinzukommen können. Wenn zusätzlich zur Trauer eine eindeutige mindestens mittelgradige depressive Störung vorliegt, sollte der Einsatz eines Antidepressivums geprüft (mittelgradig) bzw. vorgeschlagen (schwer) werden [5, 9].
Risikofaktoren für komplizierte Trauer
Für die Identifikation von Betroffenen kann neben diagnostischen Kriterien auch Wissen über Risikofaktoren hilfreich sein. Für anhaltende Trauerstörung (Kasten 1) gelten folgende Risikofaktoren [nach 10]:- Die Art des Verlusts (plötzlich und/oder unerwartet; mehrfach; schwer; nicht anerkannt; einer Person, für die Verantwortung empfunden wurde oder für die andere verantwortlich gemacht werden)
- Persönliche Vulnerabilität (symbiotische Beziehung zu dem Verstorbenen bzw. Abhängigkeit; ambivalente Beziehungen; fehlendes Selbstbewusstsein/Vertrauen in andere; persönliche Verletzlichkeitsgeschichte)
- Fehlende soziale Unterstützung (soziale Isolation; Familie nicht anwesend oder wenig hilfreich)
Interventionen und Therapie bei anhaltender Trauerstörung
Die Studienlage verweist aktuell vor allem auf verhaltenstherapeutische Ansätze, wie z. B. von Boelen, van den Hout und van den Bout [11, 13]. Mit Einführung einer anhaltenden Trauerstörung als ICD-Diagnose sollten hilfreiche Behandlungsansätze regelhaft Teil der Qualifizierung und Ausbildung von Psychotherapeuten und psychiatrischen/psychosomatischen Fachärzten werden, aber auch Hausärzte Hilfestellung bekommen, diese Diagnose besser erkennen und stellen zu können. Wenn ausreichend qualifizierte Therapieangebote bestehen, können Hausärzte sicher sein, dass ihre Patienten dort die notwendige Hilfe und Unterstützung bekommen. Darüber hinaus können Betroffene die Behandlung durch Krankenkassen finanziert bekommen, ohne eine andere Diagnose vorzuschieben. Seitens der Betroffenen kann es erleichternd sein, dass das Problem den Namen bekommt, nach dem es sich anfühlt.
- Antriebsstörungen, motorische Verarmung
- Gefühllosigkeit, Freudlosigkeit
- dauerhaft niedergedrückte Stimmung mit Morgentief, Selbstabwertung, Gefühl der Wertlosigkeit
- Grübeln und Gedankenkreisen können nicht durch Ablenkung unterbrochen werden
- Suizidgedanken, die vor allem mit der Belastung durch die Symptome einer Depression verbunden sind und sich von Todeswunschgedanken unterscheiden, welche motivational Ausdruck der Sehnsucht nach dem Verstorbenen sind
Angebote wie Trauerbegleitung, Trauercafés oder Trauergruppen können für einen großen Teil aller Trauernden unabhängig vom Schweregrad hilfreich sein, ersetzen bei anhaltender Trauerstörung aber keine psychotherapeutische Behandlung.
Angst vor Pathologisierung von Trauer
Die aktuelle Diskussion um diese Diagnose ist geprägt von der Angst vor Pathologisierung von Trauer bzw. von allen Trauernden [2, 3]. Diese Angst ist eine Furcht vor Ohnmacht, vor Ausgrenzung, vor Missbrauch. Dem kann man nur begegnen, indem die Diagnose Depression oder anhaltende Trauerstörung bei Trauernden nur dann gestellt wird, wenn ein entsprechender Verdacht sehr gründlich anhand der Kriterien, der Anamnese oder Tests/evaluierten Fragebögen geprüft worden ist und die Diagnose zudem eine Behandlungskonsequenz nach sich zieht.
Entscheidend sind zudem Leidensdruck und Behandlungswunsch. Patienten sollten zudem transparent über die Diagnose und deren mögliche Konsequenzen aufgeklärt werden. Das betrifft aber alle F-Diagnosen. Ärztinnen, Ärzte und Psychotherapeuten sind hier aufgerufen, Haltung zu zeigen und sich an der Öffentlichkeitsarbeit zum Abbau vorhandener Ängste vor Pathologisierung und Stigmatisierung durch diagnostizierte psychische Störung zu beteiligen.

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (1) Seite 16-18