Chronisch kranke oder behinderte Kinder stellen ein wichtiges Patientenkollektiv in der Hausarztpraxis dar, das viel Aufmerksamkeit benötigt. Den gesunden Geschwistern dieser Kinder wird nicht nur in der Arztpraxis, sondern häufig auch im direkten sozialen Umfeld wenig Beachtung entgegengebracht. Dies kann mitunter schwere psychische Folgen haben. Dass Hausärzte hierauf unbedingt ein Auge haben sollten und welche Unterstützung es gibt, schildern Claudia Heins von der Stiftung FamilienBande und Ursula Neuhaus vom Geschwisterkinder-Netzwerk.

In Deutschland leben rund 2 Mio. Brüder und Schwestern von chronisch kranken oder behinderten Kindern. "Um diese gesunden Geschwisterkinder geht es, die früh viel Verantwortung übernehmen, deren Bedürfnisse aber oft übersehen werden", erklärte Claudia Heins, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Novartis-Stiftung FamilienBande. Die Belastungen, denen die Geschwister ausgesetzt sind, können zur Entwicklung von psychischen Störungen und Auffälligkeiten führen, wie z. B. eingeschränkte Teilhabe in Familie, Schule und Freizeit, Depressionen, Ängste, auffälliges Verhalten. "Wir wollen, dass auch diese Kinder sich ungestört entwickeln können", erläutert Heins das Ziel der Stiftung. Als einzige bundesweite und angebotsübergreifende Plattform fördert die Stiftung den Auf- und Ausbau von übertragbaren bedarfsgerechten Hilfsangeboten sowie die Entwicklung und Weitergabe von Know-how.

Der Bedarf ist groß

Auch, wenn es nicht auf den ersten Blick offensichtlich ist: Der Bedarf an Unterstützung für die Familien und insbesondere die Geschwister der kranken Kinder ist groß. Rund 70 % der gesunden Geschwister empfinden eine geringe, 20 % eine mittlere und 10 % eine hohe Belastung. Aber empirische Studien haben gezeigt, dass diese Belastungen zur Entwicklung von psychischen Störungen und Auffälligkeiten führen können. Hier setzt die Stiftung FamilienBande mit einem präventiven Ansatz an.

Dass das soziale Umfeld der kranken Kinder stark mitbetroffen ist, sieht auch Ursula Neuhaus, Projektkoordinatorin vom Geschwisterkinder-Netzwerk beim Netzwerk für die Versorgung für schwerkranke Kinder und Jugendliche e. V. Der Trägerverein betreut viele Familien mit schwerkranken Kindern in ganz Niedersachsen (http://www.geschwisterkinder-netzwerk.de/das-netzwerk.html). "Während die Eltern Hilfe von außen erhalten, bleibt außer der unmittelbaren Versorgung für die Geschwisterkinder in Krisensituationen oftmals keine Zeit. Auch im Alltag müssen die Geschwister wegen des hohen Pflegebedarfs des kranken Kindes oft zurückstecken. Dies kann im Extremfall ihre gesamte Kindheit betreffen", warnt Neuhaus. Das Geschwisterkinder Netzwerk hilft Betroffenen und Einrichtungen in Niedersachsen und Umgebung z. B. beim Aufbau und der Unterstützung von Freizeitangeboten speziell für Geschwisterkinder wie auch durch Bereitstellung von kostenlosem Arbeitsmaterial für Gruppenleiter von Geschwistergruppen. "Aus unserer Arbeit wissen wir, dass Geschwisterkinder oft versuchen, ihre belasteten Eltern zu schützen und daher ihre eigenen Probleme und Gefühle nicht schnell zeigen", erläuterte Neuhaus. Sie profitieren besonders von dem Zusammensein mit anderen Geschwistern, die ihre Situation nachvollziehen können und ähnliche Probleme kennen.

Heins weist insbesondere auf die von den gesetzlichen Krankenkassen als Präventionsmaßnahme anerkannten Gruppenangebote (Kasten) hin, durch welche nachweislich die Resilienz gestärkt wird: "Die Geschwisterkinder können nach der Teilnahme mit der Situation besser umgehen."

Was kann der Hausarzt tun?

Der Hausarzt kann eine wichtige Rolle dabei einnehmen, belastete Geschwisterkinder zu identifizieren und ihre Bedürfnisse wieder in den Vordergrund zu rücken. Dies ist jedoch gar nicht so einfach, denn Geschwisterkinder "funktionieren" im Alltag. "So bleibt das gesunde Geschwister mit seinen Gefühlen allein – mit Ängsten, Trauer, Eifersucht, mit Schuldgefühlen oder Scham. Oft ist erst im Erwachsenenalter zu sehen, welche Spuren diese Kindheit als gesunder Bruder, gesunde Schwester eines kranken oder behinderten Kindes hinterlassen hat", erklärte Heins. Hausärzte können intervenieren, denn sie kennen meist die gesamte Familie und sie wissen um die besondere Familiensituation von Geschwistern.

Oft können schon wenige gezielte Fragen des Arztes die Aufmerksamkeit der belasteten Eltern auf das Geschwisterkind lenken. Neuhaus rät: "Es hilft schon, wenn der Arzt bei dem Besuch der Eltern mit dem kranken Kind auch nach den Brüdern oder Schwestern fragt. Ist das Kind im Freundeskreis eingebunden? Ist das Geschwisterkind sehr zurückgezogen? Eltern haben einen feinen Sinn, ob es ihrem Kind gut geht oder ob da etwas schlummert."

Konkrete Unterstützung durch großes Angebot

Um schließlich aktiv zu werden, stehen einige konkrete Angebote zur Verfügung: In der Angebots-Suchmaschine bei www.stiftung-familienbande.de sind fast 300 Angebote registriert, die per PLZ gesucht werden können. Das können reine Freizeitangebote für Geschwisterkinder sein oder Gruppenangebote wie "SuSi" oder der GeschwisterTREFF (Kasten). Vor allem in Ballungsgebieten ist das Angebot schon recht ordentlich. Im ländlichen Bereich ist das schwieriger. Die Entfernungen zwischen den Betroffenen sind oft sehr groß. Aber durch die Nutzung von Fahrdiensten oder -gemeinschaften können Unterstützungsprojekte auch hier durchgeführt werden. Und die Vernetzung über moderierte soziale Medien kann helfen, so z. B. in Trauerphasen über Projekte wie www.Da-Sein.de.

Ein solches Angebot will natürlich auch finanziert werden. "Die Versorgungslandschaft ist erfreulicherweise gewachsen, aber dennoch tendenziell labil", gibt Heins zu bedenken. Denn die Angebote speziell für Geschwister sind zumeist spendenfinanziert. Bleiben die Spenden aus, konzentrieren sich die Einrichtungen wieder auf die Versorgung der behinderten/kranken Kinder. Und einmal mehr haben die Geschwisterkinder das Nachsehen – mit allen damit verbundenen Risiken. Deshalb unterstützt FamilienBande gezielt die übertragbaren und auf ihre Wirksamkeit hin überprüften Gruppenangebote wie "SuSi" und GeschwisterTREFF, bei denen gesetzliche Krankenkassen für ihre Mitglieder die Kosten als Präventionsmaßnahme übernehmen können. Zusätzlich zu den Spenden wird die Stiftung von den Unternehmen der Novartis Gruppe in Deutschland unterstützt.

Zertifizierte Gruppenangebote
Zwei zertifizierte Gruppenangebote können derzeit als Präventionsmaßnahme bei Krankenkassen abgerechnet werden: "Supporting Siblings" (SuSi) und "GeschwisterTREFF – Jetzt bin ICH mal dran". Ersteres wurde entwickelt und evaluiert vom Institut für Sozialmedizin in der Pädiatrie Augsburg (ISPA), letzteres in Kooperation des ISPA mit dem Verbund für Geschwister. Diese standardisierten, präventiven Angebote sind der Kern des Versorgungskonzeptes GeschwisterCLUB und haben das Ziel, mit überprüfbar wirksamen Methoden die persönlichen Ressourcen und Lebenskompetenzen der Kinder zu stärken, damit sie aus eigener Kraft mit ihrer besonderen Lebenssituation umgehen können. Mehr Infos unter: www.ispa-bunterkreis.de und http://www.verbund-fuer-geschwister.de



Autor:

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (22) Seite 28-29