Sexualität und Alter – ist das vereinbar? Oh ja! Ein erfülltes Sexualleben von Patienten im Alter hat auch nichts Peinliches, sondern verbessert die Lebensqualität. Die Lust auf Sex bei älteren Menschen wird aber leider weiter tabuisiert, vor allem im Alten- und Pflegebereich. Ein Umdenken hin zu einem offenen und taktvollen Umgang mit diesem sensiblen Thema muss dringend stattfinden.

In unserem medizinischen Arbeiten und Denken nimmt die Sexualität in höherem Lebensalter nur einen geringen Raum ein. Nicht nur in Lehrbüchern der Geriatrie finden sich fast nur somatische Sichtweisen der Sexualität unter dem Gesichtspunkt von Erkrankungen und Funktionsstörungen, speziell der erektilen Dysfunktion beim Mann und der mangelnden Lubrikation bei der Frau. Genannt werden daneben die postoperativen und vor allem internistischen Erkrankungen, die das Sexualleben im Alter massiv beeinträchtigen können oder es gar unmöglich machen.

Prof. Dr. H. Beegemann bringt in der Schriftenreihe Geriatrie Praxis von 1989 deutlich das Defizitmodell des Alters, das seinerzeit galt, zum Ausdruck. Er schreibt: "Die Sexualität – so wird uns fröhlich verkündet – bleibe von alledem unberührt (dem Alter), und ihre regelmäßige Übung bis ins hohe Alter sei der Jungbrunnen schlechthin. Tatsächlich gibt es Beispiele von Greisen, die auch in späteren Jahren noch ihren Beitrag zum Bevölkerungswachstum leisteten. Doch kann uns auch solch ermunternder Optimismus nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Fleisch, von dem die Bibel sagt, dass es sündig sei, im Alter faul und träge wird, so dass es schließlich weder seinen Träger noch dessen Partner stimulieren oder befriedigen kann."

Eine zu ihren sexuellen Empfindungen befragte 82-jährige Frau: "Ich habe mein ganzes Leben lang die Vorstellung gehabt, wenn der Sex aufhört, hört das Leben auf. Er ist immer da, in Form von Träumen, von Vorstellungen, von Onanie. Es ist keinesfalls so, dass man müde wird und dass einen die Lust verlässt. Gott sei Dank!"

Christine Dietz-Grygier (Psychologin GZ Gütersloh)

Im Lehrbuch der Gerontopsychiatrie und -psychotherapie fand ich immerhin einen achtseitigen Artikel über Sexualstörungen, mit Hinweisen auf die körperlichen Beeinträchtigungen, das Ursachenbündel aus Persönlichkeitsveränderungen, verändertem Lebensumfeld (wie Verwitwung oder Heimaufnahme) sowie psychischen Erkrankungen (Depressionen, Demenz) mit Einfluss auf die Sexualität.

Beim Thema "Sex im Alter" hat sich (glücklicherweise!) viel verändert. Der gesellschaftliche Wandel infolge der 68er-Jahre, die Einführung der Anti-Baby-Pille, die stärkere Berücksichtigung feministischer Anliegen und partnerschaftlicher Entwicklungen haben auch dem Umgang mit Sexualität einen neuen Stellenwert verschafft.

Die Erklärung sexueller Rechte der World Association for Sexual Health (WAS), die 1999 beim WAS-Kongress in Hongkong verabschiedet wurde, hält in ihrer Präambel fest: "Sexualität ist ein integraler Bestandteil der Persönlichkeit jedes Menschen. Ihre volle Entfaltung hängt von der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse ab, wie der Wunsch nach Berührung, Intimität, Gefühlsäußerung, Lust, Zärtlichkeit und Liebe (...). Sexuelle Rechte sind universelle Menschenrechte, und sie gründen in der angeborenen Freiheit, Würde und Gleichheit aller Menschen. So wie die Gesundheit ein fundamentales Menschenrecht ist, so muss es auch die sexuelle Gesundheit sein (…)." So lautete die idealtypische Beschreibung analog der Gesundheitsdefinition der WHO.

Das Sexualleben

Der Ausdruck sexuellen Erlebens zeigt eine große Bandbreite, wie den Geschlechtsverkehr, das Streicheln der Genitalien oder der Haut, das Berühren und Händehalten, das Beobachten der Person und das Sprechen über sexuelle Themen oder Fantasien. Sexualität ist zudem abhängig von verschiedenen Faktoren der Persönlichkeit, des Lebensumfelds und der Lebensbedingungen.

Die körperlichen Ursachen von Sexualitätsstörungen seien hier nur kurz angerissen:
  • Männer: erektile Dysfunktion, Z. n. Prostataresektion mit der Folge ausbleibender Ejakulation beziehungsweise Impotenz.
  • Hintergrunderkrankungen, z. B. KHK (39 %), Diabetes mellitus (28 %), arterielle Hypertonie (15 %), zudem Hyperlipidämie, Adipositas, körperliche Inaktivität, Nikotin- und Alkoholabusus. Verschiedene Medikamente sind ebenfalls beteiligt, u. a. Analgetika, Betablocker, Digitoxin, Diuretika und Lipidsenker.
  • Frauen: Postmenopausale Atrophie der Vaginalschleimhaut mit geringerer Lubrikation, dadurch Schmerzen beim Geschlechtsverkehr.
  • Psychische Folgen von Ablatio mammae, Uterusexstirpation, Harninkontinenz. Internistische Erkrankungen und Medikamentennebenwirkungen ähnlich wie bei Männern.

Die gezielten symptomatischen und kurativen Behandlungen liegen entweder in den Händen entsprechender Fachkollegen aus Gynäkologie, Urologie, Endokrinologie oder bei Hausärzten oder Geriatern. Die Berücksichtigung von Kolleginnen betone ich ganz besonders bei älteren Patientinnen und bei Fragestellungen, die gleichgeschlechtliches Verständnis und Empathie voraussetzen. Damit nähern wir uns den psychischen und psychiatrischen Sichtweisen der Sexualität im Alter.

In welcher Zeit ist man geboren?

Die Alterskohorten von Menschen, die vor 1945 geboren sind, weisen zumeist eine deutlich andere Sozialisation und sexuelle Entwicklung auf als nach 1945 Geborene. Besonders traten erhebliche Veränderungen nach 1955 auf: Es kamen die sogenannten "Baby-Boomer" und die Menschen mit sozialen Prägungen aus den 1960er- und 1970er-Jahren (z. B. die "68er", die sich gegen jegliche Autorität auflehnten, oder die "Blumenkinder" der "Flower-Power-Bewegung" mit ihrem Motto "Make love – not war!").

Aber auch die älteren Menschen, unsere typischen Patienten, haben zu einem erheblichen Teil diese Veränderungen erlebt und sich daran angepasst. So sehen wir bei Personen von 65 – 70 Jahren noch immer ein großes Interesse an Sexualität und noch eine hohe Zahl sexuell aktiver alter Menschen. Dies hängt natürlich von ihren aktuellen Lebensumständen ab, aber auch deutlich von ihren früheren Erfahrungen mit sexuellen Aktivitäten. Das zeigen auch Untersuchungen: Ältere haben noch immer ein erhebliches Interesse an Sex, was sich auch in Träumen und Fantasien ausdrückt.

Wenn der Partner verstirbt ...

Dass Wunsch und Wirklichkeit mit zunehmendem Alter (leider) immer mehr auseinanderklaffen, hat einen wesentlichen Grund: das in der Regel frühere Versterben des männlichen Partners. So bleibt die Sexualität im hohen Lebensalter vor allem ein Frauenthema. Auch andere Faktoren spielen beim Rückgang der Sexualität im Alter eine Rolle. Dabei machen Frauen und Männer verschiedene Angaben. Neben organischen Veränderungen, die man möglicherweise behandeln kann, sind auch psychische Gründe erheblich. Solange eine Partnerschaft besteht, wird diese aber immerhin von fast drei Viertel der Frauen als "gut" und "sehr gut" bezeichnet – was natürlich zur Sexualität keine genauen Aufschlüsse erlaubt.

Festzuhalten bleibt, dass die Sexualität im Alter (vermutlich) einen ähnlichen Stellenwert hat wie in jüngeren Jahren, wenngleich sich die sexuellen Aktivitäten verändern: Dem genitalen Geschlechtsverkehr wird ein geringerer Wert beigemessen als den Qualitäten von Zärtlichkeiten, Kuscheln, Berührungen, Intimität und Vertrauen. Und schließlich sei daran erinnert, dass es einige Hinweise dafür gibt, dass Sex einfach eine salutogenetische Wirkung hat.

Sobald dieses Gleichgewicht gestört ist, wird es schwierig: Älteren Menschen wird es nicht leicht gemacht beziehungsweise haben sie oft Hemmungen, über sexuelle Probleme zu sprechen. Hier stehen wieder die gesellschaftlichen Vorurteile im Raum und im Weg. Man spricht nicht darüber – schon gar nicht im Detail.

Wer kann da helfen? Ärzte sind primär auf die Unterstützung ihrer Patienten bei der Behandlung von deren Erkrankungen angewiesen. Beim Thema "Sexualität" muss zunächst aber der Boden für ein vertrauensvolles Gespräch bereitet werden. Es mag dann auch hilfreich sein, den Betroffenen an eine kompetente Adresse zu verweisen, z. B. an eine Beratungsstelle, einen Psychologen oder gegebenenfalls auch an einen Paar- oder Sexualtherapeuten.

Hier sei noch auf zwei alterspsychiatrische Probleme von Sexualität im Alter hingewiesen:
  • Beschwerden im Rahmen einer Depression
  • Schwierigkeiten, die oft bei Demenzen auftreten

Depressionen und sexuelle Störungen

Depressionen allein können schon Ursache von sexuellen Störungen sein: Antriebs- und Lustlosigkeit, Freudlosigkeit beziehungsweise ein mangelndes Vermögen, Freude zu empfinden (Anhedonie), Zurückgezogenheit, Mangel an Selbstvertrauen sowie in der Folge auch:
  • Ängste bis zur völligen Hemmung der Sexualität,
  • Partnerschaftsprobleme
  • Lerndefizite (sexuelle Erfahrungslücken)
  • Selbstverstärkungsmecha nismen der Versagensangst als wesentlicher auf- rechterhaltender Faktor

Bei der Anamneseerhebung (auch Fremdanamnese) und Diagnostik kann es wichtig sein, nach dem Sexualleben zu fragen. Erfahrung und Einfühlungsvermögen werden hier besonders vorausgesetzt. Auch stellt sich die Frage nach einer geeigneten Behandlung. Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) sehen für die leichte und mittelschwere Depression eine psychotherapeutische Behandlung als indiziert an. Erst bei Versagen einer solchen Therapie sollten Antidepressiva eingesetzt werden. Die Realität sieht mangels Therapeuten, die ältere Patienten behandeln – insbesondere bei sexuellen Störungen –, ganz anders aus. Umso wichtiger ist die richtige Auswahl des Medikaments: das langsame Einschleichen ("Start low – go slow") und eine ausreichend hoch dosierte und lange Behandlung. Die Faustregel: Bis zu zwei Drittel der "Erwachsenendosis" geben, notfalls höher gehen, und gegebenenfalls sechs bis zehn Wochen auf Einsetzen des Therapieerfolgs warten. Erst dann ist bei Behandlungsversagen eine Medikamentenänderung mit ähnlichem Vorgehen angezeigt. Das heißt: Die Anbehandlung eines depressiven Patienten im Alter kann durchaus ein Vierteljahr dauern. Der Patient sollte durch eine entsprechend sorgfältige und Hoffnung vermittelnde Betreuung durch diese Zeit begleitet werden.

Demenz und sexuelle Störungen

Bei Demenzen mit sexuellen Störungen ist die Begleitung oft ungleich umfangreicher und schwieriger, da die Patienten in der Regel nicht über sexuelle Probleme klagen. Für Patientinnen trifft das (derzeit noch) häufiger zu. Meist sind es die Partner beziehungsweise betreuende Fachkräfte in der häuslichen oder in der Tagespflege, in Klinik oder Pflegeheim, die in dieser Situation hilflos sind und über ungesteuerte Hypersexualität, Übergriffe und distanzloses und peinliches Verhalten der Erkrankten klagen.

Im Umgang damit spielen dann bekannte Vorurteile ("in dem Alter – das geht doch nicht!") eine wesentliche Rolle: In Heimen herrschen überwiegend sexualfeindliche Rahmenbedingungen. Das Personal wird mit dem Problem alleingelassen und ist überlastet. Das Spannungsfeld zwischen bedrohlich wirkender, beschämender Sexualität demenzkranker Bewohnerinnen und Bewohner und der "sauberen" Dienstleistung Pflege ist dringend bearbeitungsbedürftig. Hier haben Heimärzte sowie sonstige Berater noch eine verdienstvolle Aufgabe vor sich.

Der vorurteilsbelastete Umgang mit dieser Heimproblematik steht in deutlichem Kon-trast zu den jüngeren Initiativen zur Inklusion Behinderter auch bei Demenzen und entsprechenden Überlegungen, auch Demenzkranken ihre Sexualität zu ermöglichen. Zu erwähnen sei hier der Einsatz von Berührerinnen und Sexualassistentinnen sowie ihrer männlichen Kollegen, der bisher oft zu einer Entspannung der Problematik geführt hat.

Im Arbeitsbereich der Alten- und Pflegeheime sind besondere Sensibilität, Erfahrung und Einfühlungsvermögen erforderlich, um sowohl dem Anliegen des Patienten als auch der Betreuungspersonen gerecht zu werden. Der Einsatz von Medikamenten ist hier nicht zielführend, sondern kann lediglich der Behandlung der Grunderkrankung und ihrer Folgestörungen dienen.

Zwei Aussagen von Pflegeberaterinnen erscheinen mir in diesem Zusammenhang wichtig: Dorothea Meudt, Diplom-Berufspädagogin für Pflege, sagte 2011 beim Frankfurter Netzwerk Ethik in der Altenpflege: "In unserer aufgeklärten Zeit scheint der Umgang mit Sexualität zur Normalität zu gehören, vergangen sind die Zeiten, in denen es als unanständig galt, über Lust, Erotik, sexuelles Verlangen und sexuelle Störungen zu sprechen. Gleichzeitig ist Sexualität eine Thematik, die besonders von Betreuenden in der Pflege alter Menschen nach wie vor übergangen und vermieden wird."

Wenn wir im Umgang mit alten Menschen sexuelle Wünsche und Fantasien ansprechen, so wird bereits eine Entlastung und Entspannung erreicht. Sie fühlen sich dann in ihrer Sexualität nicht mehr so allein. Wir erleben an uns selbst, dass wir aufgrund unserer Verletzbarkeit um unsere eigene Sexualität dicke Mauern gegenüber anderen ziehen. Stillschweigend akzeptieren wir diese Bollwerke auch bei älteren Menschen, für die wir arbeiten. Ohne diese Mauern wären er und sie nicht verletzbarer, sondern freier. Sprächen wir mit ihnen taktvoll über Sexualität, so bräuchten wir nicht mehr zu befürchten, dadurch "Schaden" anzurichten.

Christiane Dietz-Grygier

Und Renate Semper, Diplom-Psychologin und Familientherapeutin vom Institut für Sexualpädagogik in Koblenz, schrieb 2016 in einer Übersicht zu Sexualität im Alter: "Die Fähigkeit zur Kommunikation mit dem Gegenüber (Partner, Ärzte, Betreuende, Familie) ist wichtig für den Umgang mit sexuellen Beeinträchtigungen, die mit Krankheiten in Verbindung gebracht werden. Ein Problem ist, dass Ärzte das Thema ‚Sexualität’ oft gar nicht auf dem Schirm haben und die sexualitätsbezogenen Wirkungen von Krankheiten und Medikamenten entweder nicht kennen oder für vernachlässigbar halten, da Alte ja das Thema Sexualität eh nicht mehr hätten." Weiter heißt es: "Deshalb werden auch Medikamentenalternativen nicht erwogen, die womöglich weniger Einfluss auf sexuelle Funktionen hätten. Und: Es wird den Patienten auch nicht dargelegt, wenn keine Beeinträchtigungen ihrer Sexualität zu erwarten sind, diese aber womöglich befürchtet werden könnten."


Literatur
1. Förstl,H. (Hrsg.): Lehrbuch der Gerontopsychiatrie und -psychotherapie, Thieme Verlag (2003)
2. Füsgen,I., Gadomski,M.:Der geriatrische Patient, Geriatrie Praxis (1999)
3. Kolb,G., Leischker, A.: Medizin des alternden Menschen, Wissenschaftl. Verlagsges. (2009)
4. Martin, E., Junod, J.-P. (Hrsg.): Lehrbuch der Geriatrie, Verlag Hans Huber Bern (1990)
5. Wettstein,A., Conzelmann,M.,u.a.: Chekliste Geriatrie, Thieme Verlag (1998): Sexualität im Alter:
6. Berberich, Hermann und Brähler, Elmar (Hrsg.): Sexualität und Partnerschaft in der zweiten Lebenshälfte, Psychosozial-Verlag (2001)
7. Kolle, Oswald: Die Liebe altert nicht, ECON-TB-Verlag (1997)
8. Remlein, Karl-Hubert, Nübel, Gerhard (Hrsg.): Geschlechtslos im Alter? – Aspekte zur Alterssexualität, Jahrbuch der Gerontopsychiatrie, Verlag Jakob von Hoddis, Gütersloh (1999)
Quellenhinweise – Internet:



Autor:

Rainer Kortus

Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
66386 Sankt Ingbert

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (19) Seite 20-23