Nicht immer werden Demenzen in der Hausarztpraxis rechtzeitig erkannt. Verschiedene Studien liefern Hinweise, dass die Gründe hierfür vielfältig sind. Wenig beachtet wurde bislang die Frage, welchen Beitrag das Praxispersonal zur Früherkennung leisten kann. Zwei Studien weisen darauf hin, dass die Hausarztmedizin in diesem Bereich Entwicklungspotenzial hat. Und es gibt bereits vielversprechende Beispiele, wie Demenzen dank einer effektiven Einbeziehung von Praxisangestellten schneller erkannt werden können.
Hausärzten fällt als Primärversorgern eine bedeutende Rolle bei der frühzeitigen Identifizierung von Krankheiten zu [1]. Allerdings wird oft kritisiert, dass nur vergleichsweise wenige Demenzen im Frühstadium entdeckt werden [2, 3, 4]. Tatsächlich bewegen sich die nachgewiesenen Erkennungsraten für beginnende Demenzerkrankungen in Allgemeinarztpraxen mit 15 bis 25 % auf relativ niedrigem Niveau [5, 6].
Demenz – da kann man doch nichts machen
Fragt man nach den Ursachen für die oftmals nicht ausreichend effektive Demenz-Früherkennung, machen Untersuchungen ein Bündel sehr heterogener Faktoren aus. Neben diagnostischen Unsicherheiten, einem nicht immer angemessenen Überblick über Leitlinien und Behandlungsoptionen [7] sowie teils geringen geriatrischen Kompetenzen [3, 4, 8] wird ein "therapeutischer Nihilismus" [9] der Hausärzte angeführt. Da Demenzen bislang nicht heilbar sind, werden Menschen mit Demenz dann als Patienten gesehen, bei denen ärztliches Bemühen eher zwecklos ist und die Erkrankung bestenfalls ein Stück hinausgeschoben werden kann [10].
Dass viele Ärzte bei demenzbetroffenen Patienten mangelnde Handlungsoptionen wahrnehmen, hat auch damit zu tun, dass sie oftmals auf die unmittelbare Therapie konzentriert sind und weniger Möglichkeiten der Unterstützung in den Blick nehmen (z. B. Entlastung Angehöriger, Gelingen der häuslichen Pflege) [11]. Als Gründe für den geringen Anteil früh erkannter Demenzen werden neben allgemeinem Zeitdruck auch wirtschaftliche Faktoren (mangelnde Honorierung) genannt [12]. Weiter führten kommunikative Unsicherheiten im Umgang mit Demenzpatienten und die Sorge vor entstehenden Spannungen dazu, dass Demenztests eher einzelfallabhängig zur Anwendung kommen [13].
Der Wert des Praxispersonals
Häufig außer Acht gelassen wird indes die Frage, inwiefern ein wichtiger Grund für die niedrigen Erkennungsraten darin liegen könnte, dass personelle Ressourcen in der Hausarztpraxis zu wenig ausgeschöpft werden. Angesichts der täglich hohen Zahl an zu behandelnden Patienten haben Hausärzte nicht immer die Möglichkeit, ausreichend auf ältere Patienten sowie ihre Angehörigen einzugehen und alle ‚Warnsignale‘ zu berücksichtigen. Insbesondere das Praxispersonal kann hier zu einer Entlastung beitragen, indem es geriatrisch geschult und aktiv in die Beobachtung und Betreuung von älteren Patienten einbezogen wird [14]. Angestellte in Allgemeinarztpraxen sind häufig beständige Mitglieder des hausärztlichen Teams und mit langjährigen Patienten im höheren Lebensalter vertraut, sodass ihnen eventuelle kognitive Veränderungen bei Vorhandensein entsprechenden geriatrischen Wissens auffallen können [15]. Oft genügen hierfür bestimmte kommunikative Schlüsselsituationen, z. B. am Empfang oder bei der Blutabnahme. Da Demenzpatienten die Begegnung mit dem Arzt nicht selten als eine Art von ‚Prüfungssituation‘ empfinden, in der eine Maskerade zurechtgelegt wird, sind es womöglich gerade die alltagsnäheren Interaktionen mit dem Praxispersonal, in denen kognitive Einbußen auffallen.
Potenziale bislang wenig genutzt
Zwei Studien, die die Abteilung Allgemeinmedizin der Universitätsmedizin Mainz durchgeführt hat, belegen, dass viele Hausärzte dem eigenen Personal bislang nur eine untergeordnete Rolle bei der Identifizierung von Demenzerkrankten einräumen. So zeigen die Ergebnisse einer Befragung von Hausärzten in Rheinland-Pfalz (durchgeführt im Herbst 2017; teilgenommen haben 425 Personen), dass gerade einmal 36 % der Allgemeinmediziner Hinweise auf eine mögliche Demenzerkrankung schon mal über Mitglieder des Praxispersonals bezogen haben [16]. Ebenfalls ist erkennbar, dass mit 30 % lediglich eine Minderheit aller befragten Hausärzte in der eigenen Praxis auf Angestellte zurückgreifen kann, die auf dem Gebiet Demenz mindestens eine Fortbildung durchlaufen haben. 65 % geben hingegen an, nicht über derartige Mitarbeiter zu verfügen (keine Angabe: 5 %). Damit fehlt vielen Praxisangestellten vermutlich auch professionell vermitteltes Know-how zur Anwendung und Auswertung von Demenztests sowie zu verschiedenen gerontopsychologischen Fragestellungen. Gegenüber anderen möglichen Maßnahmen zur Verbesserung der Demenz-Früherkennung in der Hausarztpraxis (u. a. Einführung eines evidenzbasierten Diagnose- und Therapiealgorithmus, verstärkte Zusammenarbeit mit regionalen Unterstützungsnetzwerken) hält ein deutlich geringerer Teil der Befragten eine verstärkte Schulung von Praxismitarbeitern hinsichtlich der Früherkennung und Diagnostik für gewinnbringend.
Integrative Hausärzte sehen sich nicht als Einzelkämpfer
Diese Befunde lassen sich in Beziehung setzen mit Ergebnissen einer ebenfalls von der Abteilung Allgemeinmedizin durchgeführten Interviewstudie aus dem Frühjahr 2017, im Zuge derer ausführliche Gespräche mit 35 Hausärzten aus ganz Rheinland-Pfalz zur Demenzdia-
gnostik und -versorgung geführt wurden [11]. Speziell mit Blick auf die Rolle des Praxispersonals ist der größte Teil des Samples der Ansicht, dass die Identifizierung von Demenzen in erster Linie Sache des Hausarztes sei, und sieht folglich keine wesentliche Optimierung der Früherkennung, würde das eigene Personal verstärkt geschult und in die Beobachtung älterer Patienten eingebunden.
Nur eine kleinere Zahl der Hausärzte (ca. ein Drittel des Samples) argumentiert grundlegend anders. Diese Gruppe wird auf Basis einer qualitativen Typologisierung als ‚Integrative‘ bezeichnet. Der Hausarzt, so die Annahme der besagten Allgemeinärzte, dürfe bei der Diagnostik und Versorgung von Demenzpatienten nicht als Einzelkämpfer begriffen werden, sondern müsse deutlich stärker auf das Praxisteam setzen. Die Nutzung der Kompetenzen und Chancen, die die Praxismitarbeiter bieten, wird als Zukunftsfrage mit Blick auf die Verbesserung der Demenzdiagnostik begriffen.
"Ich delegiere sehr viel und bilde die Leute auch dafür aus. Mein Ideal ist eine Praxis, wo alle mitwirken und nicht der Hausarzt allein agiert." (m)
"Die Kompetenzzubilligung und Kompetenzerweiterung des Personals in der Hausarztpraxis ist ein Stiefkind bei vielen Allgemeinmedizinern. […] Das ist der Hauptangriffspunkt bei der Demenzerkennung." (m)
Es besteht eine ausgeprägte Bereitschaft, in die Kenntnisse und Fähigkeiten der Arzthelfer/innen zu investieren, etwa durch regelmäßige Fortbildungen. Auch wird Wert darauf gelegt, Voraussetzungen zu schaffen, damit das Personal eine möglichst große Aufmerksamkeit für die Patientenschaft hat.
"Wie stelle ich meine Leute so auf, dass sie im Kontakt mit Patienten am meisten mitbekommen? Für mich bedeutet das auch: Rollieren. Arbeitsstationen wechseln. Kein Fachidiot werden am Empfang oder bei der Blutabnahme. […] Sie können Ihr Personal regelmäßig schulen. […] Und ruhig mal anhören, was Ihre Assistentinnen zu sagen haben." (m)
Diese integrativ denkenden Hausärzte räumen dem Personal eine aktive Mitsprache und Mitverantwortung bei der Ausgestaltung der Früherkennung ein. Beispielsweise besteht eine gemeinsam ausgearbeitete Lösung darin, dass das Personal im Fall von Verhaltensauffälligkeiten bei älteren Patienten systematische Notizen in der Patientenakte vermerkt. Ferner ist das Personal angewiesen, routinemäßig Gespräche mit Patienten und Angehörigen zu führen.
"Wir machen immer morgens ein Startgespräch. Da wird der Tag geplant, und da haben die Mitarbeiterinnen die klare Vorgabe, auch solche Auffälligkeiten bei Patienten zu berichten." (m)
"Wir haben eine Systematik bei unserem Kontakt mit den Patienten. Die Damen merken es im Ablauf, wenn der Patient sich beispielsweise anmeldet und einen Termin vereinbart und kommt dann nicht. Oder bestellt ein Rezept – es wird nicht abgeholt. Oder er bestellt das Rezept zum dritten Mal. Das wird dann im Team kommuniziert und in der Akte vermerkt." (w)
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (15) Seite 32-34