Die Gesellschaft altert, doch niemand will heutzutage alt sein. Jugendkultur und Jugendlichkeit prägen mittlerweile alle Altersgruppen. Ein noch größeres Tabu als das Alter alleine ist die Verknüpfung mit Sexualität. Der demographische Wandel wird jedoch dafür sorgen, dass sich das Tabu zum Zukunftsthema wandelt. Die Ärzteschaft sollte auf diesen Wandel vorbereitet sein, denn bereits jetzt wollen viele Patienten von ihrem Hausarzt/ihrer Hausärztin auf Sexualität angesprochen werden. Zwar gehört der professionelle Umgang mit dem Thema für viele nicht zum Standardrepertoire, doch gibt es erste Ansätze für eine allmähliche Veränderung der Weiterbildungslandschaft.

Menschliche Sexualität ist einem steten Wandel und einer ständigen Entwicklung unterworfen. Im Zusammenspiel von Genen, Hormonen, Umwelt, Kultur und Alter beginnt die sexuelle Entwicklung bereits vor der Geburt und endet mit dem Tod. In der Öffentlichkeit wird Sexualität in erster Linie über Geschlechterstereotype und die Medien transportiert. Vor allem die Werbung bedient sich pausenlos Bildern von jungen, meist makellosen Körpern, um Produkte zu verkaufen. Außerhalb dieses Kontextes ist Sexualität weitgehend tabu. Ähnlich verhält es sich mit dem Alter. Noch nie hatten die Alten so viel Einkommen wie heute und konnten es sich materiell leisten, "jung" zu sein. Ehepaare über 65 Jahre verfügen im Durchschnitt über ein monatliches Nettoeinkommen von 2 433 € [1] und liegen damit, je nach Datenquelle, nur leicht unter oder sogar deutlich über dem Einkommen von Familien mit Kindern (Familie mit einem Kind: 2 012 € netto monatlich [Quelle: EUROSTAT]). Längst haben sich ältere Generationen die Jugend zu eigen gemacht. Verbraucht, alt und krank in Rente war gestern. Jugendliches Outfit, Sportwagen, Fernreisen, Extremsport: Die gefühlte Mitte des Lebens hat sich verschoben und wird sich weiter verschieben. Sechzigjährige Frauen haben heute eine Restlebenserwartung von 25 Jahren, Männer von 21 Jahren. Im Jahr 2040 werden 60-jährige Frauen im Schnitt 88 Jahre alt und Männer 85 [2].

Was ist Sexualität?

Die Medien haben im zurückliegenden Jahrzehnt eine Verbindung zwischen Sex und Sport geschaffen. Zeitschriften wie "Fit for Fun" oder "Men’s Health" zeigen, wie es geht. Die Beiträge heißen "Sexy Kurven durch Krafttraining" oder "Alles für eine sexy Kehrseite", gefolgt von "Komm doch!" und "Berührt euch!" Sex ist Lust und je durchtrainierter der Körper, desto besser der Sex, so lautet die einfache Formel. Dabei ist Sexualität weitaus mehr als Befriedigung sexueller Lust oder Fortpflanzung. Auch die Beziehungsdimension spielt eine sehr wichtige Rolle. Menschen sind keine Einzelgänger, sondern für ein Leben in der Gruppe konzipiert. Durch sogenannte psychosoziale Grundbedürfnisse (nach Sicherheit, Akzeptanz, Geborgenheit, Nähe) wird der Gruppenzusammenhalt gestärkt. Psychosoziale Grundbedürfnisse können nur durch andere Menschen erfüllt werden und bleiben das ganze Leben über konstant.

Die Achsen der Sexualität werden zusammenfassend auch als Präferenz bezeichnet. Neben dem präferierten Geschlecht (Orientierung) und Alter (Ausrichtung) beinhaltet sie die Art und Weise (Neigung) sexueller Betätigung. Die Präferenz ist bis zum Ende der Pubertät fertig ausgebildet und gilt nach derzeitigem Stand der Wissenschaft als unveränderbar. Beim sexuellen Erleben und Verhalten unterscheidet man drei Ebenen. Bestimmend sind das sexuelle Selbstkonzept, die sexuellen Fantasien und das sexuelle Verhalten. Die drei Formen von Sexualität sind Selbststimulation, extragenitale Interaktion und genitale Stimulation (z. B. Petting) sowie Geschlechtsverkehr.

Physiologische Veränderungen im Alter

In der fünften bis sechsten Lebensdekade stellen sich hormonelle Veränderungen im Rahmen der Menopause der Frau und der sogenannten Andropause des Mannes ein. Östrogene werden bei der Frau nach den Wechseljahren nur noch durch Konversion aus Testosteron gebildet. Der Testosteronspiegel halbiert sich und sinkt in den Jahren danach sukzessive weiter ab. Hierdurch kommt es zu einer Reihe physischer und psychischer Veränderungen. Ohne Östrogene atrophieren die vaginalen Epithelien, was zu Dyspareunie führen kann. Zudem verkürzt sich die Vagina und verliert an Elastizität. (Postkoitale) Zystitiden werden häufiger und das verringerte Testosteron kann sich negativ auf das sexuelle Verlangen auswirken.

Beim Mann fängt der Testosteronspiegel um das 40. Lebensjahr herum an, um etwa 1 % pro Jahr zu sinken. Unter dem Einfluss des schwindenden Testosterons werden Männer in der Regel altersmilde, doch sind die Auswirkungen aufgrund langsam sinkender Spiegel keinesfalls so dramatisch wie bei der Frau. Körperliche Symptome finden sich nicht zwangsläufig, aber gehäuft im Rahmen eines Late-onset-Hypogonadismus, dessen Inzidenzrate bei Männern mittleren Alters immerhin 6 % beträgt [4]. Erst wenn das Gesamttestosteron im Rahmen eines Hypogonadismus unter 11 nmol/l sinkt, ist mit abnehmenden morgendlichen Erektionen zu rechnen. Ab 8,5 nmol/l stellen sich in der Regel Erektionsprobleme ein [5].

Bei beiden Geschlechtern kommt es mit zunehmendem Alter zu einer Abnahme β-adrenerger und cholinerger Rezeptoren sowie einer Zunahme α-adrenerger Aktivität. Folge sind eine verminderte Lubrikation bzw. verminderte Rigidität der Erektion und eine verringerte genitale Sensitivität. Im Alter ist daher eine direktere und längere Stimulation erforderlich. Eine längere Refraktärzeit bei Männern, eine verlängerte Plateauphase bei Frauen und kürzere Orgasmen sind normale Altersveränderungen. Ältere Paare, die sich in der Praxis mit vermeintlichen Störungen der Sexualfunktion vorstellen, sollten unbedingt über diesen Umstand aufgeklärt werden.

Negative Einflussfaktoren

Westlicher Lebensstil und die sich hieraus ergebenden gesundheitlichen Schäden stellen eine zunehmende Bedrohung der Sexualfunktion im höheren Lebensalter dar. Besorgniserregend sind insbesondere der Trend zur Adipositas und das damit verbundene metabolische Syndrom. Hatten 2009 bereits 18,7 % der deutschen Bevölkerung einen Body-Mass-Index über 30, so könnte ihr Anteil bis zum Jahr 2030 um bis zu 80 % steigen [6]. Der erhöhte Körperfettanteil wandelt Testosteron durch vermehrte Aromatisierung in Östrogen um und senkt den Testosteronspiegel. Durch Arteriosklerose kann es zu Potenz- und Lubrikationsstörungen kommen und Diabetes mellitus verursacht auch sexualmedizinisch bedeutsame neurologische Schäden.

Professioneller Umgang mit Alterssexualität

Während sich der Körper im Alterungsprozess verändert und sich damit auch die Art und Weise gelebter Sexualität im Wandel befindet, bleiben psychosoziale Grundbedürfnisse über das gesamte Leben konstant. In diesem Zusammenhang sind Körper- und insbesondere Hautkontakt von besonderer Bedeutung, denn durch positiv erlebten Hautkontakt wird vermehrt Oxytocin ausgeschüttet [7]. Dessen stressmindernde Wirkung wurde bereits vor 30 Jahren an Herzinfarktpatienten aufgezeigt. Soziale Isolierung und hohe Stresslevel gingen in dieser Untersuchung mit einer um das Vierfache erhöhten 3-Jahres-Mortalität einher [8]. Kürzlich konnte in einer Studie an 1 687 Männern mit erektiler Dysfunktion gezeigt werden, dass ein als moderat bis niedrig empfundenes sexuelles Interesse der Partnerin einen Prädiktor für ein gravierendes kardiovaskuläres Ereignis (major cardiovascular event) darstellt [9].

Sexualität im Alter ist aufgrund der beschriebenen Veränderungen in der Regel weniger funktionell ausgerichtet, was auf der anderen Seite mehr Raum für Intimität lässt. An diese Zusammenhänge sollte man in der täglichen Praxis vor allem bei älteren Patienten denken, die beim Thema Sexualität leicht übergangen werden, da man glaubt, es sei in dieser Altersgruppe nicht mehr von Bedeutung.

Sexualfunktionsstörungen sind relativ häufig und können auch im höheren Alter durchaus für relevanten Leidensdruck sorgen. Als Behandler sollte man sich nicht scheuen, Sexualität aktiv anzusprechen. Man darf sich ruhig wagen, zu fragen: "Gibt es sexuelle Probleme, die Sie mit mir besprechen möchten?" Viele Ärzte trauen sich das aber nicht zu aus Angst, in eine peinliche Situation zu geraten. Das Argument, man könne einem Patienten eine solche Frage nicht zumuten, hört man oft und spiegelt eher die Unsicherheit des Fragenden wider. Hausärzte sollten bei sexualmedizinischen Problemen grundsätzlich versuchen, beide Partner zum Gespräch zu bitten. Das gilt insbesondere auch für scheinbar unproblematische Verordnungen, wie PDE-5-Inhibitoren. Außen vor gelassene Partner reagieren häufig ablehnend, weil sie sich unzulänglich fühlen: "Der kann nur mit mir schlafen, wenn er eine Pille nimmt."

Fort- und Weiterbildungsangebote

Wie man sexualtherapeutische Gespräche führt, lässt sich nicht aus einem Übersichtsartikel lernen. Zusammenfassend geht es darum, genau das Gegenteil von dem zu tun, was landläufig ärztliches Handeln ausmacht. Der Arzt muss seine Expertenrolle nämlich weitgehend aufgeben und den Patienten als "Erfüllungsgehilfe" auf dem Weg begleiten, einen angstfreien Umgang mit Sexualität zu erlernen und eine veränderte Bedeutungszuweisung herzustellen. Hierfür bedarf es einer strukturierten, mehrjährigen Weiterbildung in Sexualmedizin. Erfreulicherweise hat sich die Fort- und Weiterbildungslandschaft in den vergangenen Jahren positiv entwickelt. Wer durch Fortbildung Kompetenz erwerben und Ängste im Umgang mit diesem Tabuthema abschütteln möchte, dem seien die Kurse des Arbeitskreises Psychosomatische Urologie und Sexualmedizin der Deutschen Gesellschaft für Urologie empfohlen (Infos und Kontakt: http://www.dgu.de/186.html ).

Eine von der Ärztekammer Berlin anerkannte zweijährige Weiterbildung in Sexualmedizin wird vom Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité in regelmäßigem Turnus angeboten.


Literatur
1. Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode (2012) Drucksache 17/11741 Ergänzender Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungsbericht 2012 (Alterssicherungsbericht 2012) und Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2012 und zum Alterssicherungsbericht 2012. Berlin, S. 192
2. Statistisches Bundesamt: 10., 11. und 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Lizenz: Creative Commons by-nc-nd/3.0/de. Bundeszentrale für politische Bildung, 2012. URL: www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/06%20Lebenserwartung.pdf. Zuletzt aufgerufen am 23.11.2014.
3. Ahlers CJ, Schäfer GA, Beier KM (2004) Erhebungsinstrumente in der klinischen Sexualforschung und der sexualmedizinischen Praxis. Sexuologie 11 (3/4): 74-97
4. Hall SA, Esche GR, Araujo AB, et al. (2008) Correlates of low testosterone and symptomatic androgen deficiency in a population-based sample. J Clin Endocrinol Metab 93(10): 3870-3877
5. Wu FCW, Tajar A, Beynon JM et al. (2010) Identification of Late-Onset Hypogonadism in Middle-Aged and Elderly Men. NEJM 363: 123-135
6. Westphal C und Doblhammer G (2014) Projections of Trends in Overweight in the Elderly Population in Germany until 2030 and International Comparison. Obes Facts 7:357-368
7. Holt-Lunstad, J., Birmingham, W. A., und Light, K. C. (2008) Influence of a "warm touch" support enhancement intervention among married couples on ambulatory blood pressure, oxytocin, alpha amylase, and cortisol. Psychosom Med 70(9): 976-985
8. Ruberman W, Weinblatt E, Goldberg JD et al. (1984) Psychosocial influences on mortality after myocardial infarction. NEJM 311: 552-559
9. Corona G, Monami M, Boddi V (2010) Male Sexuality and Cardiovascular Risk. A Cohort Study in Patients with Erectile Dysfunction. J Sex Med 7(5): 1918-1927



Autoren:

Dr. med. Dr. phil. Stefan Buntrock

Facharzt für Urologie, Sexualmedizin (ÄK Berlin)
FEBU, FECSM, ECPS
37197 Hattorf am Harz

Dr. med. Sonja Schlemm
Dipl.-Sozialwirtin (Univ.)
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
10117 Berlin

Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (17) Seite 46-50