Seltene Erkrankungen werden meist erst spät diagnostiziert. Eine verzögerte Therapie erhöht die Morbidität und Mortalität, ist unwirtschaftlich und führt zu gehäuften Arztbesuchen. Unspezifische Beschwerden bei "Drehtür-Patienten" mit unklarem klinischen Bild stellen Ärzte jedoch vor große Herausforderungen. Allgemeinärzte sind oft die ersten Ansprechpartner und müssen die Weichen richtig stellen. Daher gilt es, Werkzeuge zu entwickeln, die eine frühe Diagnose in der Hausarztpraxis ermöglichen.

Die Internet-Suchmaschine Google listet im Juni 2018 für den Suchbegriff "Seltene Erkrankung" etwa 100.000 Ergebnisse. So weit verbreitet wie dieses Ergebnis im Internet ist das Wissen um Seltene Erkrankungen (sogenannte "Orphan diseases" oder "Rare diseases") in der analogen Welt jedoch nicht. Mit fatalen Folgen für Ärzte und Patienten. Nicht selten beginnt für Patienten unterschiedlichen Alters die diagnostische Odyssee mit einem unspezifischen Gefühl ("mit mir stimmt etwas nicht"). Ärzte haben in diesem Stadium einen Patienten mit ungewöhnlichen oder unspezifischen Beschwerden vor sich sitzen [5, 6, 12], der nicht selten als Simulant, Querulant oder schlicht als "komisch" wahrgenommen wird [3, 4]. Weitere Diagnostik, fachärztliche Mitbeurteilung oder gar die Vermittlung an Spezialisten für Seltene Erkrankungen unterbleiben dann möglicherweise. Wie lässt sich diese Situation verbessern?

Am Anfang steht die Aufmerksamkeit

Mit Internetportalen, Broschüren, prominenten "Botschaftern" und dem "Tag der Seltenen Erkrankungen (jährlich der letzte Tag im Februar) soll das Bewusstsein für die Existenz seltener, übersehener oder wenig beachteter Erkrankungen in der Bevölkerung und bei Professionellen gestärkt werden [2]. Beispielsweise wirbt der TV-Moderator Marco Schreyl (u. a. Moderation von "Deutschland sucht den Superstar" und des Deutschen Fernsehpreises) als Botschafter für mehr Aufmerksamkeit zu Mukoviszidose.

Im Jahr 2010 wurde das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) gegründet, das Spitzenverbände zusammenbringt und einen nationalen Aktionsplan zum Thema erarbeitete. In diesem wird dringend gefordert, einen Fokus auf Besonderheiten im Bereich der Differenzialdia-gnostik zu legen [13].

Eine Initiative im Gesundheitssystem ist zudem die Gründung und Unterstützung von Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE), an denen sich Experten vernetzen und Expertenwissen mit Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten verknüpfen. Zudem sollen über Register Fälle systematisch erfasst und damit zukünftig für wissenschaftliche Fortschritte nutzbar gemacht werden ( http://www.orpha.net ). Mittlerweile verknüpfen sich auch ganze Zentren für Seltene Erkrankungen wie beispielsweise die in Nordrhein-Westfalen ansässigen Zentren Bonn, Aachen, Köln, Düsseldorf, Münster, Bochum/Witten-Herdecke und Essen.

Neue Projekte

Mit neuartigen Versorgungsprojekten wie beispielsweise TRANSLATE-NAMSE ( http://www.translate-namse.charite.de ) soll die Versorgung von Patienten mit unklaren Diagnosen und definierten Seltenen Erkrankungen bundesweit verbessert werden. In diesem Projekt sollen insbesondere Erkrankungen aus dem Bereich der angeborenen Stoffwechselerkrankungen, der Hormonstörungen, der angeborenen Erkrankungen der Blutbildung, der angeborenen Immundefekte oder der neurologisch bedingten Bewegungsstörungen behandelt werden. Zur Abklärung sowie bei Versorgungsproblemen können sich Betroffene mithilfe ihres Kinder- oder Hausarztes an eines der neun am Projekt beteiligten Zentren für Seltene Erkrankungen wenden. Standortübergreifende Fallkonferenzen und innovative diagnostische Methoden sollen für die Betroffenen ein Ergebnis liefern. Dazu setzt ein Verbund von Universitätskliniken, der Patientenorganisation ACHSE e. V. und gesetzlichen Krankenkassen seit Dezember 2017 Maßnahmenvorschläge aus dem Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen um. Das Projekt wird durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördert und bietet Betroffenen an, sich bis ins Jahr 2020 an die Zentren für Seltene Erkrankungen der beteiligten Universitätskliniken zu wenden. Ziel dieses Projekts ist es, die durchgeführten Maßnahmen und standardisierten Prozesse, die bisher nicht in der Betreuung abgebildet sind, nach erfolgreicher Evaluation in Zukunft in die Regelversorgung zu übernehmen. Die Zentren haben sich so aufgestellt und vernetzt, dass sie sich in der Expertise ergänzen und bundesweit verteilt sind. Es bleibt abzuwarten, ob durch dieses Referenzprojekt die Versorgung von Patienten ohne Diagnose und mit Seltenen Erkrankungen nachhaltig verbessert wird.

Ziel ist, die Patientenströme sinnvoll zu lenken. Hierzu muss die Diagnostik bereits beim ersten Ansprechpartner geschickt gebahnt werden.

Wann sollte der Hausarzt an eine Seltene Erkrankung denken?

Neben etablierten sinnvollen Vorgehensweisen wie abwartendem Offenhalten spielt die präzise Erfassung von (subjektiven?) Phänomenen (Beobachtungen eines Patienten, die Gemeinsamkeiten mit denen anderer Patienten mit Seltenen Erkrankungen aufweisen) eine Rolle. Viele Betroffene berichten, dass es ihnen schwerfiel, ihre Beschwerden in Worte zu fassen. Im ärztlichen Alltag fehlt zur ausführlichen Befragung leider meist die Zeit. Umso drängender ist die Entwicklung und Verbreitung von unterstützenden Werkzeugen, die ressourcenschonend angewendet werden können. Am Anfang steht auch hier die Anamnese.

Im Rahmen eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes entwickelte unser Forscherteam der Medizinischen Hochschule Hannover auf der Grundlage von Interviews mit Betroffenen einen Fragebogen, der die "Identifizierung von Verdächtigen" anhand von Beobachtungen bzw. übergreifenden Phänomenen ermöglichen soll [1]. Ergebnisse zeigen, dass Antwortmuster eines Fragebogens zum möglichen Vorliegen einer Seltenen Erkrankung in fast 90 % korrekt "Alarm schlagen" (under submission).

Sinnvolle Anamnese-Fragen bei unspezifischen Beschwerden und V. a. Seltene Erkrankung
  • Trifft es zu, dass es schwierig für Sie ist/war, Ihre Beschwerden/irritierenden Erscheinungen in Worte zu fassen?
  • Haben/hatten Sie eine irritierende Besonderheit (z. B. Verfärbungen der Haut, Größerwerden von Körperteilen, Zittern, Zuckungen usw.) an sich festgestellt?
  • Haben Ihre Beschwerden/irritierenden Erscheinungen im Laufe der Zeit immer wieder andere Namen (Diagnosen) erhalten?
  • Gingen oder gehen Sie immer wieder mit denselben Beschwerden/irritierenden Erscheinungen zu Ärzten/Ihrem Arzt?
  • Vermeiden Sie bewusst Aktivitäten (Tätigkeiten), bei denen Ihre Beschwerden/irritierenden Erscheinungen sichtbar werden?
  • Greifen Sie auf Hilfsmittel zurück, um im Alltag besser zurechtzukommen?
  • Gab es ein bestimmtes Erlebnis, dass Ihnen die Zunahme (Verschlechterung) Ihrer Beschwerden besonders vor Augen führte?
  • Trifft es zu, dass Sie von Menschen aus Ihrem Umfeld (Familie, Bekannte, Freunde, Kollegen usw.) auf körperliche Auffälligkeiten angesprochen wurden?

Selbst einzelne Fragen können möglicherweise im Alltag helfen, als Allgemeinarzt den Impuls zu bekommen, eine Seltene Erkrankung in Erwägung zu ziehen. Die hier vorgestellten Fragen (vgl. Kasten) sind Teil des o. g. Fragebogens mit 53 Fragen. Die ausgewählten Fragen sollen dazu dienen, für die Anamnese Denkanstöße zu geben. Werden mindestens fünf der acht Fragen mit Ja beantwortet, sollte eine Seltene Erkrankung in Erwägung gezogen und weitere Diagnostik veranlasst bzw. ein Zentrum für Seltene Erkrankungen kontaktiert werden.

Moderne Computerverfahren identifizieren Auffälligkeiten

Darüber hinaus gibt es vielversprechende Ansätze, moderne Computerverfahren zur Mustererkennung in Daten (Data Mining) mit systematisch entwickelten Fragebögen so zu verknüpfen, dass eine Identifizierung auffälliger Beobachtungen (Antwortmuster eines Fragebogens) bereits im Wartezimmer möglich ist [7, 10, 11]. Eine Unterstützung des Arztes auch zur Konkretisierung der Anamnese im persönlichen, zeitlich limitierten Gespräch ist möglich, ohne den Arzt durch wenig empathiefähige Technik ersetzen zu wollen [8, 9].

Insgesamt gilt es, bewährte Prinzipien der hausärztlichen Praxis mit neuen, praktikablen Ansätzen zu verbinden, um die Odyssee des einzelnen Patienten zu verkürzen und Chronifizierungen sowie nichtindizierte Behandlungen zu vermeiden. Der günstige Einfluss einer früheren Diagnose auf Morbidität und Mortalität ist vielfach belegt.


Literatur
1. Bloess, S., Klemann, C., Rother, A. K., Mehmecke, S., Schumacher, U., Muecke, U., . . . Grigull, L. (2017). Diagnostic needs for rare diseases and shared prediagnostic phenomena: Results of a german-wide expert delphi survey. PloS One, 12(2), e0172532. 10.1371/journal.pone.0172532 [doi]
2. Bouwman, M. G., Teunissen, Q. G., Wijburg, F. A., & Linthorst, G. E. (2010). ‚Doctor google‘ ending the diagnostic odyssey in lysosomal storage disorders: Parents using internet search engines as an efficient diagnostic strategy in rare diseases. Archives of Disease in Childhood, 95(8), 642-644. 10.1136/adc.2009.171827 [doi]
3. Demily, C., & Sedel, F. (2014). Psychiatric manifestations of treatable hereditary metabolic disorders in adults. Annals of General Psychiatry, 13, 27-014-0027-x. eCollection 2014. 10.1186/s12991-014-0027-x [doi]
4. Elliott, E., & Zurynski, Y. (2015). Rare diseases are a ‚common‘ problem for clinicians. Australian Family Physician, 44(9), 630-633.
5. Evans, W. R., & Rafi, I. (2016). Rare diseases in general practice: Recognising the zebras among the horses. The British Journal of General Practice : The Journal of the Royal College of General Practitioners, 66(652), 550-551. 66/652/550 [pii]
6. Gathmann, B., Mahlaoui, N., CEREDIH, Gerard, L., Oksenhendler, E., Warnatz, K., . . . European Society for Immunodeficiencies Registry Working Party. (2014). Clinical picture and treatment of 2212 patients with common variable immunodeficiency. The Journal of Allergy and Clinical Immunology, 134(1), 116-126. 10.1016/j.jaci.2013.12.1077 [doi]
7. Grigull, L., Lechner, W., Petri, S., Kollewe, K., Dengler, R., Mehmecke, S., . . . Klawonn, F. (2016). Diagnostic support for selected neuromuscular diseases using answer-pattern recognition and data mining techniques: A proof of concept multicenter prospective trial. BMC Medical Informatics and Decision Making, 16, 31-016-0268-5. 10.1186/s12911-016-0268-5 [doi]
8. Lucchiari, C., & Pravettoni, G. (2013). The role of patient involvement in the diagnostic process in internal medicine: A cognitive approach. European Journal of Internal Medicine, 24(5), 411-415. 10.1016/j.ejim.2013.01.022 [doi]
9. McDonald, K. M., Bryce, C. L., & Graber, M. L. (2013). The patient is in: Patient involvement strategies for diagnostic error mitigation. BMJ Quality & Safety, 22 Suppl 2, ii33-ii39. 10.1136/bmjqs-2012-001623 [doi]
10. Muecke, U., Klemann, C., Baumann, U., Meyer-Bahlburg, A., Kortum, X., Klawonn, F., . . . Grigull, L. (2017). Patient‘s experience in pediatric primary immunodeficiency disorders: Computerized classification of questionnaires. Frontiers in Immunology, 8, 384. 10.3389/fimmu.2017.00384 [doi]
11. Rother, A. K., Schwerk, N., Brinkmann, F., Klawonn, F., Lechner, W., & Grigull, L. (2015). Diagnostic support for selected paediatric pulmonary diseases using answer-pattern recognition in questionnaires based on combined data mining applications--A monocentric observational pilot study. PloS One, 10(8), e0135180. 10.1371/journal.pone.0135180 [doi]
12. Teixeira, E., Borlido-Santos, J., Brissot, P., Butzeck, B., Courtois, F., Evans, R. W., . . . EFAPH, the European Federation of Associations of Patients with Haemochromatosis. (2014). The importance of the general practitioner as an information source for patients with hereditary haemochromatosis. Patient Education and Counseling, 96(1), 86-92. 10.1016/j.pec.2014.04.017 [doi]
13. http://www.namse.de/images/stories/Dokumente/nationaler_aktionsplan_.pdf



Autoren:

Dr. med. Urs Mücke (Foto), Prof. Dr. med. Lorenz Grigull

Medizinische Hochschule Hannover
Klinik für päd. Hämatologie und Onkologie
30625 Hannover

Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (13) Seite 14-16