Für manche Krankheiten gibt es nur ein einziges, extrem teures Medikament. Kann die Kasse bei Verschreibung Regress fordern? Die Rechtsprechung stärkt die Position des Arztes: Gibt es nur eine Behandlungsoption, so ist diese auch wirtschaftlich.

Die lysosomale Speicherkrankheit Mucopolysaccharidose VI (MPS VI) ist eine sehr seltene Erkrankung, pro Jahr wird in Deutschland nur ein MPS-VI-Patient geboren. Entsprechend teuer ist die Enzymersatztherapie mit dem seit 2006 zugelassenen Wirkstoff Galsulfase
(Naglazyme®): Die jährlichen Kosten liegen regelmäßig im sechsstelligen Bereich und können bei erwachsenen Patienten die Millionengrenze überschreiten.

Klinikleitung verlangt Absicherung

Deshalb verlangte die Klinikleitung in einem Fall, über den der Fachanwalt für Medizinrecht Dr. jur. Gerhard Nitz (Berlin) berichtet, von einem Spezialisten für Stoffwechselkrankheiten eine Absicherung der Verordnung bei der gesetzlichen Krankenkasse seines MPS-VI-Patienten. Der über 30-Jährige litt an einer vergleichsweise milden Verlaufsform, wies aber bereits zahlreiche typische Symptome wie multiple Kontrakturen, mehrfache Hüftgelenks-endoprothesen, Herzklappenveränderungen und Hornhauttrübung auf. Da Galsulfase für diese Krankheit ohne inhaltliche Einschränkungen zugelassen ist, schien die Indikation offensichtlich. Dennoch lehnte die Krankenkasse den 2007 gestellten Kostenübernahmeantrag ab, das Widerspruchsverfahren zog sich trotz medizinischer Dringlichkeit über Jahre hin. Die Kasse argumentierte, dass die Zulassungsstudien nur Patienten zwischen 5 und 29 Jahren einbezogen.

Deutliche Richter-Worte

Die Richter des Landessozialgerichts NRW führten in der mündlichen Verhandlung am 13.9.2012 aus, es sei völlig unverständlich, dass ein Patient, für den es eine zugelassene Therapie gibt, mehr als fünf Jahre unbehandelt bleibe, weil die Ärzte nicht wagten, die offensichtlich rechtmäßige Verordnung auf Kassenrezept vorzunehmen, und die Kasse den Behandlungsbeginn mit offensichtlich unbegründeten Argumenten hinauszögere. Sie deuteten an, dass der Patient möglicherweise sogar Schadenersatz fordern könne, und verpflichteten die Kasse, ihn mit Galsulfase zu versorgen. Nach dem Sozialgesetzbuch haben GKV-Patienten Anspruch auf Behandlung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, die nicht aus der Versorgung ausgeschlossen sind, sofern die Behandlung dem Stand der Wissenschaft und dem Wirtschaftlichkeitsgebot entspricht. Diese Voraussetzungen sind durch die Entscheidung der Arzneimittel-Zulassungsbehörde maßgeblich erfüllt. Stellt eine Arzneimitteltherapie wie im vorliegenden Fall die einzige Behandlungsmöglichkeit dar, so ist sie ungeachtet der Kosten auch wirtschaftlich. Das Wirtschaftlichkeitsgebot steht der Verordnung kostenintensiver Therapien nur dann entgegen, wenn das angestrebte Therapieziel auch kostengünstiger erreicht werden kann, was im geschilderten Fall nicht zutrifft. Die ethisch und rechtlich umstrittene Kosten-Nutzen-Bewertung gehört nicht zu den Aufgaben des Arztes, sie ist vielmehr Aufgabe der Gesundheitspolitik. Eine Begrenzung des Anwendungsgebietes – etwa nach Alter – fällt in die Kompetenz der Zulassungsbehörde und darf nicht von der Krankenkasse hineininterpretiert werden. Es ist Aufgabe des Arztes, den Leistungsanspruch des Versicherten auf die im Einzelfall geschuldete Therapie zu konkretisieren. Aus diesem Grund ist es den Kassen gar nicht erlaubt, Arzneimittelverordnungen vorab zu genehmigen – mit einer Ausnahme: bei potenziell strittiger Off-Label-Verordnung. In diesem Fall kann der Arzt bis zu einer expliziten Kostenübernahmeerklärung der Kasse seinem GKV-Patienten die Verordnung auf Privatrezept anbieten.

Einstweiliger Rechtsschutz mit Tücken

Da die gerichtliche Durchsetzung der Leistungspflicht der GKV lange dauern kann, erlassen Sozialgerichte auf Antrag eines Patienten in der Regel innerhalb zwei bis drei Wochen eine einstweilige Anordnung, wenn das Begehren begründet scheint. Bei schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen ist das regelmäßig der Fall. Allerdings kann die Kasse, wenn sie den Rechtsstreit am Ende doch gewinnt, ihre Leistungen vom Patienten zurückverlangen. Ein Risiko, das viele Patienten davon abhalten dürfte, sich dieser Option zu bedienen.

Werner Enzmann


Quelle
RA und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. jur. Gerhard Nitz, Dierks+Bohle Rechtsanwälte, Berlin

Interview:

Teure Medikamente in der Praxis

Wie sollte sich ein Hausarzt verhalten, wenn ein Patient die Verordnung eines extrem teuren Medikaments fordert, das auch indiziert zu sein scheint, bei dessen Verordnung aber eine Regressforderung drohen könnte?

Prinzipiell kann der Hausarzt jedes Medikament verordnen, das für eine bestimmte Indikation zugelassen ist. Dies gilt natürlich auch für extrem teure Medikamente, die für seltene Erkrankungen erforderlich sind. Sollte der Arzt jedoch das Medikament und dessen Zulassung nicht exakt kennen, weil es bei seltenen Erkrankungen ja meist von Kliniken oder Spezialisten empfohlen wird, so sollte er sich genau über Indikation und Zulassung des Medikaments informieren, damit es nicht später zu bösen Überraschungen in Form von Regressforderungen kommen kann. Keinesfalls sollte der Arzt eine vorschnelle Verordnung durchführen, ohne sich vorher exakt über die Verordenbarkeit informiert zu haben.

Wie kann der Arzt sich absichern?

Der Arzt sollte die Fachinformation zu Rate ziehen und im Bedarfsfall auch die Pharmakotherapieberater der Kassenärztlichen Vereinigung konsultieren. Diesbezügliche Anfragen und Auskünfte sollten immer schriftlich belegt sein.

Bei welcher Konstellation droht Gefahr?

Regressgefahr besteht immer dann, wenn das Medikament für die Indikation nicht zugelassen ist (Stichwort Off-Label-Use), aber auch dann, wenn es für die Erkrankung wesentlich günstigere Alternativen der Behandlung gibt (Stichwort: Wirtschaftlichkeit der Behandlung).

Wie sollte der Arzt bei teuren Off-Label-Verordnungen vorgehen?

Bei einer Off-Label-Use-Behandlung muss man immer zuerst die Kriterien für eine Verordnungsmöglichkeit in diesem Bereich überprüfen, wie sie höchstrichterlich vom BSG festgelegt worden sind (schwere Erkrankung, keine Alternativen der Behandlung, Nachweis einer Wirksamkeit). Nur dann ist eine Verordnung auch vor den Prüfungsgremien haltbar. Zur Sicherheit sollte der Arzt den Patienten immer bitten, mit einem Attest ausgestattet bei der Kasse vorzusprechen und die Off-Label-Use-Behandlung vor der Verordnung schriftlich genehmigen zu lassen.


Dr. med. Bernhard Riedl, 93173 Wenzenbach


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2013; 35 (4) Seite 27-28