Was tun, wenn ein Patient unter Antikoagulation eine Hirnblutung erleidet? Der vorliegende Artikel gibt einen kurzen Überblick über die Studienlage zu diesem Thema und Hinweise für die Therapieentscheidung. Die Komplexität der Behandlung zeigt, dass auch bei Volkskrankheiten wie dem ischämischen Schlaganfall und der Hirnblutung nur eine individualisierte Therapie zielführend ist.
Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmer werden heute sehr erfolgreich zur Prophylaxe und Therapie von Hirninfarkten eingesetzt. Der Nutzen der Gerinnungshemmung bildet gleichzeitig aber auch deren Hauptrisiko. Besonders gefürchtet ist das Auftreten von Hirnblutungen und die damit verbundene hohe Mortalität und Morbidität. Schon auf der Stroke Unit stellt sich die Frage, ob, wann und wie bei einem Patienten nach hämorrhagischem oder ischämischem Insult eine blutverdünnende Therapie fortgesetzt werden kann. Es gilt, den Nutzen einer Minderung des Risikos für einen ischämischen Schlaganfall gegenüber dem Risiko einer (erneuten) Hirnblutung sorgfältig abzuwägen. Hier ist an erster Stelle der Neurologe in Zusammenarbeit mit dem Hausarzt als zentraler langfristiger Koordinator therapeutischer Maßnahmen gefragt.
Risikofaktoren für Schlaganfall und intrazerebrale Blutungen (ICB)
Schlaganfälle, venöse Thromboembolien und ICBs sind häufige Erkrankungen des vaskulären Systems, die trotz unterschiedlicher Ätiologie bei Patienten mit ähnlicher Risikofaktorenverteilung gehäuft auftreten. Hochgradige arteriosklerotische Stenosen der Halsarterien, Vorhofflimmern und die hypertensiv bedingte zerebrale Mikroangiopathie sind bekannte Ursachen mit den klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren für einen thromboembolischen Schlaganfall, deren Inzidenz im Alter deutlich zunimmt. Für Hirnblutungen stehen die aus unbehandeltem Bluthochdruck hervorgehende Mikroangiopathie oder die zerebrale Amyloidangiopathie – ebenfalls mit steigender Inzidenz im Alter – im Vordergrund. Außerdem gehören Alkoholabusus, starker Zigarettenkonsum (mehr als 20 Zigaretten pro Tag) und die Behandlung mit Antikoagulanzien bzw. Thrombozytenaggregationshemmern zu den bekannten Risikofaktoren für Hirnblutungen [15].
Durch die Überschneidung der Risikofaktoren für thromboembolische Ereignisse und ICB liegt hier das Kernproblem bei der Therapie der von einem (erneuten) Schlaganfall bedrohten Patienten. So müssten z. B. Patienten mit Vorhofflimmern zur Prophylaxe eine gerinnungshemmende Therapie erhalten. Nach Hirnblutung ist eine Antikoagulation jedoch strikt kontraindiziert. Der behandelnde Arzt muss dann abwägen, welche Erkrankung das möglicherweise höhere Risiko trägt. In der Praxis erhalten Patienten daher oft nur eine leichte Blutverdünnung, wissend, dass der präventive Schutz bei Vorhofflimmern möglicherweise unzureichend, aber das Risiko, falls eine Hirnblutung eintreten sollte, geringer ist.
Ist es zu einer Hirnblutung unter oraler Antikoagulation gekommen, stellen sich mehrere Fragen: Falls die Antikoagulation fortgeführt werden muss, welche Therapie kommt infrage? Wiederaufnahme der Vitamin-K-Antagonisten-Vorbehandlung oder Umstellung auf eines der neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK), die laut Studienlage ein signifikant geringeres Hirnblutungsrisiko haben (RE-LY, ROCKET AF, ENGAGE- und ARISTOTLE-Studien) [6, 12, 11, 17]? Welches der NOAKs ist am besten geeignet? Oder ist der Einsatz von Acetylsalicylsäure (ASS) und/oder Clopidogrel eher indiziert [3, 9]? Zu welchem Zeitpunkt sollte die Antikoagulation wieder aufgenommen werden?
Studien
Die Studienlage liefert zurzeit noch keine ausreichend befriedigenden Antworten, ob und wie Patienten nach einer ICB eine Antikoagulation vermeiden oder wieder aufnehmen sollten. Die europäischen Leitlinien empfehlen lediglich, dass die antithrombotische/gerinnungshemmende Therapie nach einer Hirnblutung unter Berücksichtigung des Risikos für thromboembolische Ereignisse und ein ICB-Rezidiv individuell abgewogen werden sollte [22]. In einer aktuellen Beobachtungsstudie wurde die gängige Praxis bei der Behandlung von 2.138 Patienten mit primären ICBs in fünf Krankenhaus-Kohorten aus Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien untersucht [18]. Von allen Patienten hatten 44 % zum Zeitpunkt der Hirnblutung antithrombotische Medikamente erhalten. Nur etwa 20 % nahmen zum Zeitpunkt der Krankenhaus-Entlassung diese Medikation wieder auf. Eine Wiederaufnahme wurde eher bei jüngeren Patienten und solchen mit vorhergehendem Bluthochdruck und Vorhofflimmern erwogen. Bei Patienten mit einem leichten ischämischen Schlaganfall oder einer transitorisch-ischämischen Attacke (TIA) wurde dies weniger häufig erwogen.
Risikoscores zur Abschätzung des Blutungs- und Thromboembolierisikos
Für das Auftreten von Hirnblutungen und thromboembolischen Ereignissen sind jedoch auch noch andere Risikofaktoren bekannt, die mittels CHA2DS2-VASc-Score (Schlaganfallrisiko bei nicht valvulärem Vorhofflimmern [2]) und HAS-BLED-Score (Abschätzung des Blutungsrisikos unter Antikoagulation [19]) erhoben werden (Tabelle 1). Die Risikofaktoren für thromboembolische Ereignisse und intrazerebrale Blutungen überschneiden sich vor allem bei älteren, multimorbiden Patienten.
Ursachen von ICBs
Etwa 80 bis 85 % aller ICBs gehören zu den "primären" Blutungen mit einer zugrunde liegenden irreversiblen Mikroangiopathie (Leukenzephalopathie). Für diese sind meist eine nicht erkannte oder ungenügend behandelte arterielle Hypertonie (Mikroblutungen in Basalganglien, Pons und Kleinhirn) oder eine Amyloidangiopathie (kortikale Mikroblutungen) bzw. Mischformen aus beiden verantwortlich. Weitere allgemeine Risikofaktoren sind Alter und ethnische Zugehörigkeit sowie ein ungesunder Lebensstil (Alkohol, Rauchen, Übergewicht). Somit bestehen zur Prävention von ICBs gute Ansatzpunkte, die das Risiko allerdings nur senken, nicht jedoch aufheben können.
Bei den sogenannten sekundären Blutungen (15 – 20 % aller ICBs) gelten vor allem orale Antikoagulanzien (15 %), v. a. Vitamin-K-Antagonisten [7, 10, 16], Tumor (ca. 5 %) und vaskuläre Malformationen (1 – 2 %) als verursachende Faktoren [15]. Ebenso erhöht sich das Hirnblutungsrisiko, wenn der INR-Wert steigt (Risiko steigt um Faktor 1,4 bei Erhöhung des INR um 0,5 [21]). Ob Antikoagulanzien für ICBs nur ein Risikofaktor oder Ursache sind, ist dabei nicht ganz klar.
Welchen Einfluss haben zerebrale Mikroblutungen (CMB)?
Durch die verbesserten bildgebenden Verfahren lässt sich heute nachweisen, dass einer intrazerebralen Blutung häufig mehrere zerebrale Mikroblutungen (CMB) vorausgehen. Diese sind jedoch i. d. R. asymptomatisch oder führen nur zu minimalen kognitiven Einbußen. CMBs können jedoch als Marker für eine zugrunde liegende vaskuläre Störung und eine später eintretende Hirnblutung (post-hoc) herangezogen werden [24]. Ob eine antithrombotische Therapie zu einer Zunahme von CMBs führt, bleibt jedoch bis heute umstritten, obwohl einige populationsbasierte Studien dies vermuten lassen [8, 23].
Mehrere Studien postulieren jedoch, dass ≥ 5 CMBs eine Art Schwellenwert darstellen könnten, ab dem das Risiko für eine ICB den Nutzen einer Sekundärprävention übersteigt [24]. Allerdings haben Patienten mit > 5 CMBs aber auch ein vermehrtes Risiko eines erneuten Schlaganfalls. Das Rezidivrisiko für eine erneute Hirnblutung ist in etwa gleich groß wie das Risiko für einen erneuten Schlaganfall (etwa 2 – 3 %), was die Risiko/Nutzen-Abwägung für oder gegen eine Sekundärprävention erschwert [20].
Blutungsrisiko von Gerinnungshemmern und Antikoagulanzien
Die Blutungsrisiken der zahlreichen Gerinnungshemmer und Antikoagulanzien unterscheiden sich teils erheblich. Der Vitamin-K-Antagonist Warfarin hat das höchste Blutungsrisiko [25]. Vor allem wenn bereits Mikroblutungen vorliegen, erhöht Warfarin das Risiko des Auftretens einer symptomatischen ICB um den Faktor 80 [13, 14]. Allerdings wird in Deutschland zumeist Phenprocoumon (Marcumar®) verwendet, welches eine andere Halbwertszeit hat und evtl. zu einer stabileren INR-Einstellung führt [1].
Einen Ausweg könnten die NOAKs (Faktor IIa(Thrombin)-Hemmer Dabigatran, Faktor Xa-Hemmer Rivaroxaban, Edoxaban oder Apixaban) bieten, die in aktuellen randomisiert-kontrollierten Studien mindestens eine Nicht-Unterlegenheit zur Verhinderung ischämischer Schlaganfälle bei statistisch signifikant geringerem zerebralen Blutungsrisiko gegenüber Warfarin zeigen konnten [5]. Als erstes spezifisches Antidot zur Aufhebung der Dabigatran-induzierten Gerinnungshemmung ist seit kurzem Idarucizumab (Praxbind®) zugelassen. Allerdings ist äußerst fraglich, ob bei Hirnblutungen unter einem NOAK ein Antidot die Morbidität und Mortalität wesentlich beeinflusst, wenn man die nicht überzeugenden Vorerfahrungen mit der Prothrombin-Komplex-Konzentrat-(PPSB)-Substitution unter Vit.-K-Antagonisten als Maßstab nimmt [4]. Eine aktuelle Metaanalyse zu den verschiedenen NOAKs konnte keine signifikanten Unterschiede zwischen den drei erstzugelassenen Substanzen hinsichtlich der Blutungsrisiken feststellen [5]. Allerdings zeigte die Metaanalyse ein deutlich niedrigeres Blutungsrisiko gegenüber Warfarin und ASS, weshalb die Autoren bei Patienten mit erhöhtem ICB-Risiko NOAKs favorisieren.
Fazit
Ob und wann eine gerinnungshemmende oder Antikoagulanzientherapie nach einer ICB wie-der aufgenommen werden kann, kann nur unter Berücksichtigung des Risikoprofils des jeweiligen Patienten (Tabelle 2) entschieden werden. Nach einer intrazerebralen Hämorrhagie sind Medikamente, die die Blutungsneigung erhöhen, zunächst streng kontraindiziert (bis auf eine einfache Thromboseprophylaxe). Die Indikation für eine prophylaktische Behandlung mit Antikoagulanzien muss auf jeden Fall neu überdacht werden. Beginnen sollte man damit erst nach Abklingen der Raumforderung (klinische und cCT-Kontrolle) und nach Resorption der Blutung (individuell allerdings sehr variabel). Dann sollten in erster Linie die Risikofaktoren reduziert werden, wobei z. B. nur drei Faktoren des 7-Faktoren-HAS-BLED-Risikoscores beeinflusst werden können. Die Indikation für die Therapie (Antikoagulation, Thrombozytenaggregationshemmer) bleibt vorwiegend eine individuelle Abwägung des Risikoprofils, der Vorerkrankungen und, bei bekanntem Vorhofflimmern, des CHA2DS2-VASc-Scores. Im Zweifelsfall sollte auch eine cMRT im kurzen Intervall (z. B. 6 und 12 Monate) wiederholt werden, um die Blutungsaktivität über die Zahl neuer Mikroblutungen zu erfassen.
Die NOAKs scheinen hier eine interessante Alternative zu den herkömmlichen Antikoagulanzien zu sein, jedoch sind weitere Daten aus hochwertigen klinischen Studien und Registern inklusive Phenprocoumon (Marcumar®) erforderlich. Wichtig ist jedoch, dass NOAKs nur im Rahmen ihrer Zulassung angewandt werden sollten. Dies gilt auch für die (glücklicherweise recht kleine) Hochrisikogruppe von Patienten mit künstlichen Herzklappen oder Drug-eluting Stents, die in jedem Fall weiter therapiert werden müssen, um Thrombosen zu vermeiden.
Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (2) Seite 51-54