KI, Präzisionsmedizin, vollautomatische Dokumentation: In der Niederlassung ist vieles davon noch Zukunftsmusik. Warum ist das so? Und was passiert in naher Zukunft?

Bei der Digitalisierung liegt gerade in der niedergelassenen Hausarztpraxis noch viel Potenzial brach. Über die möglichen Ursachen und die Frage, was uns hier in naher Zukunft erwartet, sprachen wir mit Prof. Dr. Jorzig. Die Fachanwältin für Medizinrecht beschäftigt sich im Rahmen der juristischen Beratung sowie der Studiengangsentwicklung umfassend mit Digital Health.

Wo stehen wir aktuell in der Niederlassung?

Frau Prof. Dr. Jorzig: "In der Realität der meisten niedergelassenen Arztpraxen, gerade in den Hausarztpraxen, ist die Digitalisierung noch nicht wirklich angekommen. Das liegt mit daran, dass die Arztpraxen alles selbst umsetzen und v. a. auch selbst bezahlen müssen. Gleichzeitig sind die ersten Erfahrungen vieler Ärzt:innen negativ: So ist man in der Hausarztpraxis rechtlich zur Anbindung an die Telematikinfrastruktur verpflichtet, die Umsetzung hat aber nur Probleme verursacht. Auch bei der ePa läuft es nicht rund. Das verhindert leider, dass man als Ärzt:in den Mehrwert der Digitalisierung für die eigene Praxis überhaupt wahrnehmen kann. Dabei könnte mehr sinnvolle Digitalisierung insbesondere aufwendige administrative Aufgaben von den stark belasteten Schultern der Ärzt:innen und ihrer Praxisteams nehmen."

Was können wir in naher Zukunft erwarten?

Frau Prof. Dr. Jorzig: "Meine Prognose ist, dass wir in absehbarer Zukunft ohne den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) zwar zurechtkommen, das aber gar nicht mehr wollen. Für eine echte Präzisionsmedizin z. B. müssten wir eine auf die Patient:innen zugeschnittene Versorgung realisieren, was heute gar nicht möglich ist. So werden z. B. die gängigen Medikationen weiterhin an Männern getestet, von Gender- bzw. Präzisionsmedizin sind wir noch weit entfernt. Hier könnte man mit KI entscheidende Entwicklungen anschieben: Optimalerweise würde ein Medikament dann abgestimmt auf die Patient:in erstellt und am 3D-Drucker vor Ort die "Pille" ausgedruckt. Ganz anders als jetzt, wo eher eine Behandlung von der Stange stattfindet. Dabei muss natürlich die Technik dem Menschen dienen, nicht der Mensch der Technik! In diesem Sinne ist die Sorge, dass KI die Ärzt:innen wegrationalisieren könnte, unbegründet. Es geht weniger darum, Expert:innen in der Praxis zu substituieren, sondern einzelne Aufgaben an die Technik zu delegieren. Ärzt:innen gewinnen dadurch Zeit, um präzise auf ihre Patient:innen zu schauen und sich z. B. nicht stundenlang Gedanken machen zu müssen, um Laborergebnisse auszuwerten. Arztunterstützend und nicht arztersetzend: Das ist der entscheidende Ansatz."

Warum wäre weiterer Stillstand problematisch?

Frau Prof. Dr. Jorzig: "In der Hausarztpraxis könnte gerade der Sektor Praxismanagement jetzt effektiv digitalisiert werden. Das gilt insbesondere für die aufwendige Dokumentation, indem man z. B. Patientendaten mittels Spracherkennung direkt ins Praxissystem überträgt. Das ist auch aus rechtlicher Sicht wichtig. So hatte die ePa in ihren "Anfangstagen" keinen rechtlichen Beweiswert. Heute ist die dazugehörige Software so konzipiert, dass man jeden Eintrag erkennen kann und jede Änderung. Das hebt den Beweiswert und kann die Dokumentation im Streitfall gerichtsfest machen. Zum Beispiel bei einem Arztbericht, der von der gastroenterologischen Praxis an die Hausarztpraxis geht: Hier könnte man mit wenigen Klicks genau nachverfolgen, dass der Bericht digital dorthin versendet wurde und bei der Behandlung in der Hausarztpraxis berücksichtigt wird. Gleichzeitig wird in vielen Arztpraxen immer noch gefaxt: Dann stehen andere Patient:innen am Empfang, wenn ein Fax eingeht. In diesem liest man über "Frau Müller" und ihren Befund. Das würde beim konsequenten Einsatz digitaler Kommunikation nicht passieren. Auf der anderen Seite sehen wir eine zunehmende Bedrohung durch Hacker und Daten-Lecks. Das rechtliche Risiko wird sich in Zukunft also verlagern. Für die Niederlassung setzt die konsequente Nutzung digitaler Werkzeuge daher auch voraus, dass diese Tools von technischer Seite rechtssicher sind − und im Praxisalltag auch korrekt eingesetzt werden. Im Krankenhausbereich haben wir durch das Krankenhauszukunftsgesetz erhebliche Gelder locker gemacht bekommen. Im niedergelassenen Bereich ist das nicht der Fall. Wenn Praxisinhaber:innen ihre Praxis weiterentwickeln und komplett digitalisieren möchten, dann müssen sie heute selbst viel Geld investieren. Hier braucht es eine vergleichbare Unterstützung!"

Erste wertvolle Schritte: Praxistipp für die Hausarztpraxis
Prof. Dr. Jorzig rät: "Der erste Schritt könnte sein, das Praxis-Terminmanagement komplett auf den digitalen Bereich zu verlagern. Man spürt im Praxisalltag sofort, was das für eine Erleichterung bedeutet. Für das Team fallen viele Telefonate weg, auch die Warteschlange der Patient:innen am Eingang wird kürzer, die viel Personal bindet. Auch können wichtige Infos vorab ausgetauscht werden, wie z.B. wichtige Infos zur Impfaufklärung. Das spart Zeit, verbessert die Abläufe. Antesten würde ich auch die Telemedizin. Viele Praxisteams haben im Rahmen der Corona-Pandemie positive Erfahrungen gesammelt, z. B. mit der Videosprechstunde. Aus meiner Sicht wird auch das eRezept für die niedergelassenen Arztpraxen eine Erleichterung bringen. Hier lohnt es sich, kritisch, aber auch neugierig und offen zu bleiben."

Lassen wir uns in Deutschland gerade abhängen?

Frau Prof. Dr. Jorzig: "Die TI-Anbindung hierzulande ist schlichtweg eine Katastrophe. Ich verstehe es vollkommen, dass die Ärzt:innen da kritisieren: "Wir müssen es nutzen und sollen dann auch noch die Suppe auslöffeln!" Gleichzeitig muss man beim Thema Digitalisierung auch immer das Mind-Set von uns Deutschen im Blick behalten: Wir sind eher problemorientiert. Erst einmal ist da das Problem − dann fängt man an und sucht nach Lösungen. Andere Länder machen einfach – wenn sich dann ein Problem ergibt, dann sucht man nach einer Lösung. So ist auch der Datenschutz hierzulande ausgerichtet. Vielleicht müssen wir auch hier eher von der Praxis und der Lösung her denken als vom Problem aus. Die Telemedizin z. B. hat einen echten Mehrwert für unser Gesundheitssystem, gerade im ländlichen Bereich, wo künftig eine Versorgung vor Ort nicht mehr aufrechtzuerhalten sein könnte. Sie kann auch helfen, dass die einzelne Hausärzt:in nicht mehr so viele Hausbesuche absolvieren muss. Sei es mithilfe einer koordinierenden Pflegekraft vor Ort oder durch die Messung bestimmter Werte durch die Patient:innen selbst. Längst belegen belastbare Studien, dass auch hochbetagte Menschen das sehr gut annehmen. Digitalisierung ist keine Sache des Alters, sondern von Akzeptanz, Kompetenz und Motivation."

Droht uns dann nicht der "gläserne Patient"?

Frau Prof. Dr. Jorzig: "Es ist ein gerne genutztes Argument gegen Digitalisierung, dass Patient:innen Angst davor hätten, gläsernzu werden. Das sehe ich so nicht. Wenn ich mir z. B. überlege, wie ausgeprägt wir heute in den sozialen Medien unterwegs sind und wo wir überall unsere Daten preisgeben. Zusätzlich kann ich hier ganz klar mit dem Argument der Patientensicherheit gegenhalten: Denken wir an Medikationspläne.
Bei den hochbetagten Personen sehen wir teilweise schwere Erkrankungen auch durch die Wechselwirkungen von Medikamenten, weil Ärzt:in A nicht weiß, was Ärzt:in B verordnet hat. Woher soll sie das heute auch wissen, wenn sie diese Informationen nicht erhält?! Das würde durch eine funktionierende digitale Patientenakte ausgehebelt."

Was raten Sie Hausärzt:innen?

Frau Prof. Dr. Jorzig: "Ein nicht zu unterschätzender Grund für mehr Digitalisierung ist der Fachkräftemangel, den wir ja auch bei den MFA sehen. Abwarten kann man sich hier nicht leisten. Statt dass z. B. die gesamte Anmeldung in der Praxis von einer Vollzeitkraft abgewickelt wird, könnte man bei vollständiger Digitalisierung dieser Prozesse diese Fachkraft an anderer Stelle sehr gut einsetzen. Auch für die Ärzt:in selbst kann das einen deutlichen Zeitgewinn bedeuten. Oder die Überwachung von Diabetiker:innen bzw. anderen chronisch kranken Personen. Wenn man solche Abläufe digitalisiert und automatisiert, läuft das alles sicherer und präziser. Auch ist es deutlich einfacher für den Behandelnden, aktuelle Werte zu erhalten und die Therapie daraufhin abzustimmen. Mediziner:innen haben Medizin studiert und da liegt ihre Kernkompetenz! Ihre Kompetenz liegt nicht darin, BWL-fähig zu sein oder administrativ tätig zu werden."

Was muss jetzt passieren?

Frau Prof. Dr. Jorzig: "Bis zur Pandemie hatten wir eigentlich gut gefüllte Finanztöpfe. Nun sind sie zunehmend leer. Es zeichnet sich leider ab, dass gerade bei Gesundheitsfragen eher gespart wird. Wir brauchen daher auch private Investoren, die in die Digitalisierung und Modernisierung unserer Systeme investieren. Aber private Investoren sind im deutschen Gesundheitswesen nicht gerne gesehen. Dadurch ist es schwer zu akzeptieren, dass wir diese "Privaten" jetzt brauchen könnten. Auch hier würde uns eine differenzierte Sichtweise weiterhelfen. Sonst ist es vorstellbar, dass sich Tech-Giganten wie Amazon und Google einen prioritären Zugang zu den Gesundheitsdaten erschließen und zu einer Konkurrenz für die lokale Gesundheitsversorgung werden. Wir können nicht wollen, dass dann die alleinigen Ziele von Finanzgebern im Fokus stehen. Jetzt ist insbesondere die Politik gefordert. Dabei sollte man unbedingt die Stakeholder mit an Bord holen: die Arztpraxen mit ihren Teams!"

Das Interview führte Sabine Mack

Weiterbildung mit Potenzial: Einblick, Überblick und Ausblick
Die IB Hochschule für Gesundheit und Soziales (IB HS) startet zum Wintersemester 2022 einen neuen Master-Studiengang in Digital Health. Das Studienangebot richtet sich an Mitarbeitende aus den Gesundheitsfachberufen, der Medizin, Pflege, Informatik und Psychologie. Die Studierenden werden in der digitalen Therapie qualifiziert. Sie werden in die Lage versetzt, neueste Technologien zu verstehen und stationär wie ambulant einzusetzen. Hierzu gehören z. B. Virtual und Augmented Reality, KI und Robotik genauso wie Telemedizin, Recht und Ethik. Im Wintersemester 2023 startet dann auch ein entsprechender Bachelor-Studiengang. Das Studium erfolgt berufsbegleitend: http://www.ib-hochschule.de



Über die Expertin

© privat
Prof. Dr. jur. Alexandra Jorzig

Professur für Gesundheits- und Sozialrecht
Fakultät Gesundheitswissenschaften

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Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (12) Seite 22-23