Das Bild der Multiplen Sklerose (MS) ist bei den noch jungen Betroffenen oft geprägt von der Vorstellung, dass sie bald im Rollstuhl landen. Das Risiko einer bleibenden Behinderung kann mittlerweile dank verlaufsmodulierender Therapeutika aber sehr deutlich reduziert werden. Dieser Beitrag vermittelt wichtiges Grundwissen für den Kontakt mit diesen bio-psycho-sozial stark belasteten Patient:innen.

Die Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste immunvermittelte Erkrankung des ZNS. Sie beginnt bevorzugt bei Frauen europäischer Abstammung vorwiegend im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. In Deutschland beträgt die Prävalenz über 4:1.000 bei Frauen und etwas unter 2:1.000 bei Männern. Somit werden Hausärzt:innen einige MS-Betroffene über Jahre hinweg in ihrer Praxis begleiten in Zusammenarbeit mit Neurolog:innen.

Genetische und Umwelteinflüsse lassen sich bei der globalen Betrachtung der MS-Inzidenzen teils sehr schlecht auseinanderhalten. Äußere Einflüsse – Jahre vor dem Ausbruch der Erkrankung – wie z.B. eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus, Rauchen (!) sowie verminderte Sonnenlichtexposition und/oder Vitamin-D-Produktion vor dem Hintergrund bestimmter genetischer Polymorphismen beeinflussen das Risiko, dass ein autoimmuner Prozess ausgelöst wird, der meist schubförmig abläuft und in entzündlich-demyelinisierenden Läsionen im ZNS mündet.

Klinik

Wenn bei jungen Menschen zunehmend über Tage einzelne Symptome auftreten, die dem ZNS zugeschrieben werden können, so steht eine MS-Manifestation sehr weit oben bei den Differenzialdiagnosen (DD). Besonders typisch sind ein einseitiger Visusverlust bei Neuritis nervi optici, Doppelbilder wegen einer Adduktionsschwäche eines Auges (internukleäre Ophthalmoplegie) infolge einer Hirnstammläsion, eine Trigeminusneuralgie oder -neuropathie, von den Füßen aufsteigende Parästhesien mit sensiblem Querschnittssyndrom (spinaler Herd) oder eine Ataxie bei einer Kleinhirnläsion. Solche Schübe dauern mindestens 24 Stunden bis mehrere Wochen ohne Therapie und sollten nicht von Fieber oder einem Infekt begleitet werden. Wird zu diesem Zeitpunkt eine MRT durchgeführt, so nimmt die ursächliche ZNS-Läsion Kontrastmittel (KM) auf und oft finden sich noch zahlreiche stumme zerebrale Signalstörungen ohne KM-Aufnahme (spinale Läsionen hingegen sind meist symptomatisch).

Verlaufsformen

In den allermeisten Fällen ist die MS gekennzeichnet durch multiple Schübe. Dem initial entzündlichen Stadium der Krankheit – mit schubförmiger Schädigung der Myelinscheiden – folgt Jahre später ein sekundär chronisch-progredientes oder neurodegeneratives Stadium mit irreversibler axonaler Schädigung und somit bleibender Behinderung (vgl. Abb. 1). In etwa 10 – 15 % der Fälle lassen sich keine initialen Schübe ausmachen und es zeigt sich eine zunehmende neurologische Behinderung: primär chronisch-progrediente Verlaufsform.

Diagnostik und Diagnosekriterien

Drei Bereiche müssen berücksichtigt und miteinander kombiniert werden, um eine örtliche sowie zeitliche Dissemination festzustellen und damit eine MS zu diagnostizieren nach den aktuell gültigen McDonald-Kriterien von 2017 ( http://www.dgn.org/leitlinien ).

  1. Zunächst muss entschieden werden, ob sich aus klinischer Perspektive ein einziger oder multiple Schübe identifizieren lassen und ob sich die neurologische Symptomatik auf eine einzige oder multiple ZNS-Läsionen zurückführen lässt.
  2. Die MRT besitzt einen entscheidenden Stellenwert (eine Computertomographie ist nicht aussagekräftig). Zeigt die zerebrale und spinale MRT eine einzige oder multiple Läsionen (Plaques)? KM-Aufnahme im Sehnerv oder in einer der anderen Läsionen? Simultaner Nachweis von Läsionen mit und ohne KM-Aufnahme? Die Abbildungen 2 und 3 zeigen typische MRT-Befunde.
  3. Auffällige Befunde in Zusatzuntersuchungen? Den größten Stellenwert besitzen die sogenannten oligoklonalen Banden (OKB) im Liquor. Bei den OKB handelt es sich um den biochemischen Nachweis von Immunglobulinen, die ausschließlich im ZNS produziert werden als Ausdruck eines pathologischen immunologischen Prozesses. Sensitivität und Spezifität der OKB sind außerordentlich hoch.

Werden die Daten aus diesen drei Bereichen kombiniert, so ergeben sich folgende diagnostische Kategorien:

  • Das Clinically Isolated Syndrome(CIS) ist eine MS-Vorstufe, bei der z. B. noch nicht die geforderte Zahl an multiplen MRT-Läsionen vorliegt nach einem Schubereignis.
  • Das Radiologically Isolated Syndrome(RIS) ist eine MS-Vorstufe, bei der die typischen multiplen MRT-Läsionen vorliegen, aber diese sind klinisch stumm.
  • Wenn aus allen drei Bereichen pathologische Befunde vorliegen, dann kann gemäß den McDonald-Kriterien von 2017 eine eigentliche MS diagnostiziert werden.

Differenzialdiagnosen

Die Morphologie von MRT-Läsionen sowie die Interpretation der Liquorbefunde erlauben die Abgrenzung gegenüber DD aus dem neoplastischen, infektiösen, vaskulären oder metabolischen Bereich. Prognostisch und therapeutisch wichtig ist die Abgrenzung von schubförmigen entzündlich-demyelinisierenden Erkrankungen, die sich ebenfalls mit einer Optikusneuritis oder Myelonläsionen präsentieren können. Dabei tritt die Neuritis nervi optici oft bilateral auf und im Myelon zeigen sich im Gegensatz zur MS auffällig langstreckige Läsionen (über mehrere Wirbelkörper hinweg). Serologisch sind Antikörper gegen Moleküle namens NMO oder MOG nachweisbar. Ferner ist es wichtig, dass nicht jede zerebrale Läsion automatisch als "MS" interpretiert wird, wenn z.B. eine MRT bei besorgten Kopfschmerzpatient:innen durchgeführt wird. Es handelt sich meist um mikroangiopathische Veränderungen, die gehäuft bei Hypertonie oder auch Migräne auftreten.

Therapie

Wir unterscheiden zwischen der Akuttherapie eines Schubes und der verlaufsmodulierenden Behandlung – Disease Modifying Therapy(DMT) genannt.

Die Schubtherapie erfolgt mit sehr hoch dosiertem Methylprednisolon (MP), so dass akribisch betreffend Steroidnebenwirkungen aufgeklärt und überwacht werden muss. Wichtig ist der Ausschluss von Fieber oder einem Infekt! Meist werden 1.000 mg/d MP i.v. während drei Tagen verabreicht. Alternative: 500 mg/d MP über fünf Tage.

Ziel der Schubtherapie ist eine zeitnahe und somit rasche und residuenfreie Abheilung der aktiven Entzündung.

Die DMT zielt hingegen darauf ab, dass weniger oder gar keine Schübe auftreten und es somit nicht zu neurologischen Residuen kommt und das sekundär chronisch-progrediente Stadium hinausgezögert oder gar vermieden wird. Idealerweise wird schon im CIS-Stadium mit einer DMT begonnen. Das RIS wird nicht behandelt (aber engmaschig klinisch und mittels MRT überwacht). Bei der DMT wird unterschieden zwischen Eskalations- und Induktionstherapie. Bei der Eskalation wird mit einer weniger potenten DMT gestartet und auf ein potenteres Präparat gewechselt bei klinischer Krankheitsaktivität (Schübe) oder neuen MRT-Läsionen. Bei der Induktion wird direkt mit einem potenten Präparat begonnen. Es gibt sehr gute Hinweise, dass damit klinisch und im MRT eher No Evidence of Disease Activity(NEDA) erzielt werden kann und somit das eingangs erwähnte Szenario "Rollstuhl" verhindert wird.

Als Faustregel kann gesagt werden, dass die potenteren Therapien auch mehr Risiken mit sich bringen, z.B. Zosterinfekte oder u.U. die gefürchtete progressive multifokale Leukenzephalopathie durch das JC-Virus. Auch bei Kinderwunsch kommen hochpotente Präparate nicht infrage. Somit kann nicht allen Patient:innen vorbehaltlos gleich eine Induktionstherapie empfohlen werden (obwohl das nach Möglichkeit heutzutage angestrebt wird). Die Vielfalt der zur Verfügung stehenden oralen und parenteralen Substanzen sowie deren Vor- und Nachteile aufzuzählen, würde den Rahmen dieser Übersicht sprengen.

Das Beenden einer DMT ist weniger gut erforscht. Es gibt Hinweise, dass nach fünf Jahren mit NEDA eine DMT unter Umständen beendet werden kann. Leider kann es bei einzelnen Wirkstoffen teils nach Therapieende zu einer überschießenden Krankheitsaktivität kommen, auf die man vorbereitet sein muss. Auch bezüglich der besonderen Kontrollen, die bei den einzelnen DMT notwendig sind, muss auf die Spezialliteratur verwiesen werden. Bei den meisten DMT braucht es eine Überwachung des Blutbildes und der Leberwerte während der Behandlung. Und vor Therapiebeginn müssen die heutzutage empfohlenen Impfungen nachgeholt oder aufgefrischt sowie eine latente Tuberkulose, chronische virale Hepatitiden und eine HIV-Infektion ausgeschlossen werden.

Flankierende Maßnahmen und weitere Themen

Etliche DMT führen zu einer Immunsuppression. MS-Patient:innen dürfen und sollen sich deshalb nach den aktuell gültigen Empfehlungen impfen lassen – vor allem vor Einleitung einer DMT. Unter laufender DMT kann die Serokonversion aber bei vielen Präparaten abgeschwächt sein und Lebendimpfstoffe sind kontraindiziert.

Eine Vitamin-D-Supplementation ist zwar eine beliebte Maßnahme, aber in zu hoher Dosierung kann sie u. U. gefährlich sein und überzeugende Evidenz zur Wirksamkeit als DMT gibt es nicht. Es spricht aber nichts dagegen, mit einer Supplementation die Vitamin-D-Spiegel im hoch-normalen Bereich zu halten.

Eine Schwangerschaft und auch Stillen sind für MS-Patientinnen bei der richtigen DMT-Wahl möglich.

Ein besonderes Thema für viele MS-Patient:innen ist eine abnorme physische und psychische Ermüdbarkeit – Fatigue genannt. Zunächst sollten die "üblichen Verdächtigen" wie z.B. eine Hypothyreose, eine Restless-Legs-Symptomatik oder ein Schlaf-Apnoe-Syndrom ausgeschlossen werden. Eine antidepressive Behandlung ist nur sinnvoll, wenn tatsächlich die Kriterien für eine Depression erfüllt sind. Therapieversuche mit Präparaten wie z.B. Amantadin oder Modafinil werden diskutiert, aber die Evidenzlage ist dünn. Die MS-Leitlinie besagt: "In mehreren kontrollierten Studien und Metaanalysen wurden positive Effekte für psychoedukative Verfahren wie Vermittlung von Energiemanagement-Strategien, kognitiver Verhaltenstherapie und Achtsamkeitstraining beschrieben."

Patient:innen mit relevanten Residuen, z.B. bei spinalem Befall mit Spastik und eingeschränkter Mobilität, profitieren von einer stationären Neurorehabilitation.

Wichtig für die Sprechstunde
  • Die Diagnose einer Multiplen Sklerose (MS) bedeutet nicht automatisch eine schlechte Prognose.
  • Verlaufsmodulierende Therapien verhindern wirksam Schübe und eine sekundäre Behinderungsprogression.
  • Impfungen sind möglich und sinnvoll bei MS.
  • Eine Schwangerschaft und auch Stillen sind für MS-Patientinnen bei der richtigen Medikamentenwahl möglich.
  • Rauchen erhöht das MS-Risiko und hat einen negativen Einfluss auf den Verlauf.


Literatur:
1) Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG): https://www.dmsg.de
2) Filippi M, et al. Multiple Sclerosis. Nat Rev Dis Primers 2018;4(1):43.
3) Heibel M & Schreiber H. Multiple Sklerose: Perspektivenwechsel mit Folgen. Perspektiven der Neurologie 1/2021. Dtsch Ärztebl 2021;118(27-28):4.
4) Hemmer B, et al. Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum- Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, S2k-Leitlinie, 2021, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Herausgeberin), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 21.03.2022).
Die Gültigkeit dieser Leitlinie ist am 17.02.2022 abgelaufen! Es wird eine Aktualisierung in Kürze erwartet.
5) Holstiege J, et al. Epidemiologie der Multiplen Sklerose - eine populationsbasierte deutschlandweite Studie. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland. Versorgungsatlas-Bericht Nummer 17/09. Berlin 2017. URL: https://doi.org/10.20364/VA-17.09
6) Krankheitsbezogenes Kompetenznetz Multiple Sklerose. Pocketcard für Patienten: Impfung und MS. Zugriff via www.kompetenznetz-multiplesklerose.de (21.03.2022)
7) Krankheitsbezogenes Kompetenznetz Multiple Sklerose. Qualitätshandbuch MS / NMSOD. Empfehlungen zur Therapie der Multiplen Sklerose / Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen für Ärzte. Ausgabe Dezember 2021. Zugriff via www.kompetenznetz-multiplesklerose.de (21.03.2022)
8) Thompson AJ, et al. Diagnosis of multiple sclerosis: 2017 revisions of the McDonald criteria. Lancet Neurol 2018;17(2):162-73.
9) Thompson AJ, et al. Multiple Sclerosis. Lancet 2018;391(10130):1622-36.
10) Wiendl H, et al. Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG): Positionspapier zur verlaufsmodifizierenden Therapie der Multiplen Sklerose 2021 (White Paper). Nervenarzt 2021;92(8):773-801.


Autor

© KSU
Dr. med. Daniel Eschle

Leitender Arzt für Neurologie
Kantonsspital Uri
6460 Altdorf (Schweiz)
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert



Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (12) Seite 36-40