Ältere, multimorbide Patienten müssen häufig eine ganze Reihe von Medikamenten einnehmen. Dies gilt besonders für Menschen mit Diabetes, die in der Regel an mehreren Erkrankungen leiden und zudem häufig mit Nieren- oder Leberfunktionsstörungen zu kämpfen haben. Daher sind bei der Verordnung mögliche Arzneimittelinteraktionen zu beachten. Zudem spielt die Alltagskompetenz des älteren Patienten bei der Arzneimitteleinnahme eine wichtige Rolle.
Patienten fühlen sich oft überfordert, wenn ihre Medikamenteneinnahme immer komplexer wird. Sie wünschen sich deshalb Arzneimitteltherapie (AMTS)-fördernde Maßnahmen wie Hinweise zur Dosierung, zu Wechselwirkungen und unerwünschten Arzneimittelereignissen (UAE) [1]. Das bestätigen auch die Ende 2016 veröffentlichten Ergebnisse aus dem ATHINA-Projekt. Sie zeigen, dass Arzneimittelinteraktionen die häufigsten arzneimittelbezogenen Probleme sind [2].
Besonders Diabetiker sind davon betroffen, weil ihre häufige Multimorbidität eine Polymedikation als weiteres Problemfeld eröffnet. An Diabetes erkrankte Patienten sind im Vergleich zu Nicht-Diabetikern 2,4-mal öfter im Krankenhaus [3]. Bei mindestens jedem zweiten Patienten kommt es beim Sektorenwechsel zu Medikationsumstellungen [4], die potenzielle Fehlerquellen sind. Somit rückt auch die Schnittstelle Hausarzt/Krankenhaus in den Fokus der AMTS. Mit der Einführung des Medikationsplans [5] im Jahr 2016 wurde ein weiterer Schritt getan, um die Qualität der Medikation zu erhöhen. Grundsätzlich muss eine medikamentöse Therapie immer hinterfragt werden: Wird jede diagnostisch gesicherte und medikamentös erreichbare Erkrankung therapiert oder besteht eventuell eine Untermedikation? Liegt für jedes verschriebene Medikament eine gesicherte Diagnose, eine Übermedikation oder gar eine Verschreibungskaskade vor? Ist der Nutzen für die geplante Medikation nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft belegt oder bestehen eventuell neue Erkenntnisse, die gegen eine Verschreibung sprechen (Evidenz)?
Adhärenz
Schon 2004 wurden Studiendaten für die orale Diabetestherapie in Diabetes Care veröffentlicht. Sie zeigen, dass die Therapietreue je nach Therapieregime, Beobachtungszeitraum und Messmethode zwischen 36 und 93 % lag. Für die Insulintherapie konnte eine Persistenzrate nach zwei Jahren von 80 % und eine Adhärenzrate von 62 – 64 % ermittelt werden. Die von IMS Health zehn Jahre später publizierten Zahlen [6] zur Adhärenz von Patienten aus dem hausärztlichen Bereich sowie aus diabetologischen Schwerpunktpraxen bestätigen die nach wie vor mangelhafte Therapietreue mit 63 % in der Gruppe der 40- bis 60-Jährigen beziehungsweise 74 % bei den 61- bis 70-Jährigen. Dabei spielt auch die Applikationsart eine Rolle. Von den Patienten, die auf orale Antidiabetika eingestellt sind, werden 75 % als therapietreu beurteilt. Dieser Wert fällt unter Insulintherapie auf 67 % beziehungsweise in der Kombinationstherapie aus beiden Applikationsformen sogar auf nur 59 %.
Mangelnde Therapietreue hat viele Ursachen. Im hausärztlichen Bereich sind diese für die Non-Adhärenz aber gut beeinflussbar:
Arzt-Patient-Beziehung
Im Patientengespräch (Tabelle 1) ist darauf zu achten, dass der Patient im Sinne der Adhärenz-
förderung "mitgenommen" wird.
Therapieregime
Parenterale Arzneiformen werden im Vergleich zu oralen Therapien von Senioren eher abgelehnt. Erstere verursachen in der Regel Schmerzen am Applikationsort und machen auch Pro-bleme in der Handhabung, was zu einer falschen Anwendung führen kann [7].
Auswahl des Handelspräparats
Voraussetzung für ein Selbstmanagement der Arzneimitteleinnahme sind verschiedene Funktionalitäten (Abb. 1) [8], wie kognitive, visuelle, akustische und manuelle Fähigkeiten. Gleichzeitig sind bei älteren Patienten diese Fertigkeiten eingeschränkt [9]: visuelle Fähigkeiten bei 99 % der 70-Jährigen, auditive bei 95 % der 70-Jährigen, kognitive bei 80 % der 80-Jährigen und (fein-) motorische bei 29 % der 80-Jährigen. Diese Einschränkungen berücksichtigen Handelspräparate oft nicht ausreichend. So kann es etwa vorkommen, dass das Insulin nicht aus dem Insulinpen freigesetzt wird oder der Patient nicht in der Lage ist, Tabletten zu teilen, weil ihm die nötige Kraft in den Händen fehlt.
Häufigkeit einzunehmender Medikamente
Eine Arbeit von Paes et al. [10] zeigt, dass die Therapietreue von der Einnahmehäufigkeit abhängt. Während bei einmaliger Gabe pro Tag noch 79 % der Diabetiker adhärent sind, sinkt die Einnahmetreue bei zweimal täglicher Applikation auf 69 %, bei dreimaliger Tagesdosis auf 65 %. Muss ein Arzneimittel viermal pro Tag eingenommen werden, tun dies nur noch 51 %.
Diskontinuität der Therapie
Ein ständiger Wechsel in der Medikation, wie es bei einem Switch auf ein Generikum oder aufgrund der Aut-idem-Regelung durch entsprechende Rabattverträge erzwungen wird, verschlechtert die Therapietreue [11].
Fazit: Ein ideales, adhärenzförderndes Arzneimittel ist dem Patienten vertraut. Er muss es nur einmal täglich einnehmen – oral und in einer mittleren Tablettengröße bei geringen Nebenwirkungen und eindeutigem Wirkungsnachweis [12].
Die Therapieziele für geriatrische Diabetespatienten sind heute auch nicht mehr allein auf eine strikte HbA1c-Einstellung ausgerichtet, sondern individuell am gesundheitlichen Gesamtzustand des Altersdiabetikers angepasst. Weil sich im Alter die Organfunktionen von Niere und Leber verschlechtern, sind bei der Auswahl eines Antidiabetikums (Tabelle 2 und 3) die Kriterien Stoffwechselweg und Ausscheidungskinetik besonders bedeutsam.
Polymedikation und Wechselwirkungen
Diabetes ist eine komplexe Erkrankung, die Folgekomplikationen mit sich bringt und die Schwere bestehender Komorbiditäten verschlimmern kann. Gerade beim Diabetiker werden die im Alter nachlassenden Organkapazitäten weiter eingeschränkt [13]. Das Problem der Multimorbidität endet dann in der Polypharmazie. 35 % der Männer und 40 % der Frauen über 65 erhielten laut einem Gutachten des Sachverständigenrates zur Entwicklung im Gesundheitswesen 2009 mehr als neun Wirkstoffe in Dauertherapie. Der Diabetes mellitus gehört hier zu den Krankheitskategorien mit dem höchsten Risiko für Polypharmazie [14].
Mit der Medikamentenanzahl steigt auch das Risiko für Wechselwirkungen. Während sich bei pharmakodynamischen Interaktionen die Wirkstoffe in ihrer Wirkung unmittelbar beeinflussen, besteht bei pharmakokinetischen Wechselwirkungen die Interaktion bei Absorption, Distribution, Metabolisierung und Elimination (ADME-Prinzip) der Arzneistoffe. Die Folge einer Wechselwirkung kann sowohl eine Hyperglykämie als auch eine Hypoglykämie sein. Beim Arzneimitteltherapiesicherheitsmanagement sollte man besonders auf die Arzneistoffe achten, die entweder Induktoren oder Inhibitoren der hepatischen Cytochrom-P450-Enzyme sind. Sie verstoffwechseln die Antidiabetika als Substrat. Mit Hilfe von Tabellen oder Datenbanken [15 – 17] kann schnell eine Einschätzung relevanter Wechselwirkungen erfolgen. Auch seltene sollten hier in Betracht gezogen werden, die sich durch Elektrolytverschiebungen ergeben können.
Unerwünschte Nebenwirkungen
Der geriatrische Diabetiker ist stark von typischen Veränderungen der Organfunktionen betroffen. Eine veränderte Pharmakokinetik und -dynamik macht ihn besonders anfällig für unerwünschte Nebenwirkungen (UAE). Sowohl eine Wirkverstärkung als auch -abschwächung von Medikamenten können die Folge sein. Das UAE-Risiko ist für 70- bis 80-Jährige vier- bis fünfmal höher als für jüngere Patienten. Relevante Risikofaktoren für UAE im Alter sind unter anderem eine eingeschränkte Nierenfunktion, Gebrechlichkeit und Multimorbidität. Rückschlüsse auf eine Altersgrenze für eine generelle Gefährdung lassen sich aufgrund der individuellen Verläufe nicht ziehen (Go-Goes, Slow-Goes, No-Goes). Deshalb sollte einer Arzneimittelverordnung eine individuelle Nutzen-Risiko-Abschätzung der Medikamente mit dem Ziel folgen, eine potenziell inadäquate Medikation (PIM) zu identifizieren. Dazu kann man den Medication Appropriateness Index (MAI) [18] heranziehen, der mit verschiedenen Listen (Priscus, Beers, FORTA u. a. [19, 20, 21]) hilft, das Gefährdungspotenzial einer Medikation abzuschätzen.
Schnittstelle Hausarzt - Krankenhaus
Laut Sozialgesetzbuch müssen die Leistungserbringer bei Sektorenwechsel eine adäquate Anschlussversorgung ihrer Versicherten sicherstellen. So ist im Krankenhaus das Entlassmanagement der abschließende Behandlungsteil. Neben einem aktualisierten Medikationsplan [5] sollte es die wichtigsten Punkte einschließen: eine vergleichende Dokumentation der Einweiser- und Krankenhausmedikation, das Ansetzungsdatum mit Grund für neue oder umgestellte Medikation. Auch dürfen Angaben und Hinweise zu Laborwerten und Patientenberatung beziehungsweise -schulung zur Medikation (wie Einnahmezeitpunkte oder Handhabung von Dosieraerosolen) nicht fehlen. Das Recht auf einen Medikationsplan in Papierform haben gesetzlich versicherte Patienten, die gleichzeitig dauerhaft mindestens drei verordnete Arzneimittel anwenden, seit dem 1. Oktober 2016. Im Plan selbst müssen Handelsname, Wirkstoffe und Wirkstärke, Darreichungsform, verordnete Einnahme und Menge, spezielle Hinweise sowie der Grund für die Medikation aufgeführt sein. Zusätzlich können frei verkäufliche Medikamente ebenfalls in den Pillenplan eingetragen werden, falls ihre Einnahme aus ärztlicher oder pharmazeutischer Sicht sinnvoll ist. Auch regelmäßig genutzte Medizinprodukte, wie Insulin-Pens bei Diabetes, gehören in den Plan.

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (17) Seite 18-22