Wenn sich Schmerzen nicht eindeutig einer behandelbaren somatischen Ursache zuordnen lassen, entsteht leicht Hilflosigkeit bei Patient:innen und Ärzt:innen. Doch dem subjektiven Phänomen "Schmerz" kann eine Reihe von Einflussfaktoren, häufig auf psychosozialem Gebiet, zugrunde liegen, die es aufzudecken gilt. So kann das Vertrauen in die Therapeut:in und die Wirksamkeit der Therapie gefördert werden.

Eines der häufigsten Schmerzbilder in der ärztlichen Praxis sind Rückenschmerzen. Unter Rückenschmerzen leiden mit einer Lebenszeitprävalenz von ca. 80 % die meisten Menschen mindestens einmal in ihrem Leben. Sie sind der häufigste Grund für eine Frühberentung. Aufgrund der volkswirtschaftlichen Auswirkungen gehört das Phänomen zu einem der dringlichsten Gesundheitsprobleme unserer Gesellschaft [2]. In diesem Artikel sollen Anregungen zu möglichen Veränderungen der Diagnostik und Therapie von Schmerzen im täglichen Behandlungsalltag formuliert werden.

Patient:innen mit Schmerzen haben oft hohe Erwartungen an die Therapie, diagnostisch wird häufig ein großer Aufwand betrieben. Bleibt dieser ohne Ergebnis, kommt es häufig zu unbefriedigenden Therapieverläufen [5]. Verschiedene Gründe führen zu vorzeitiger, nicht den Leitlinien entsprechender Zuweisung von Patient:innen zu technisch-diagnostischen Maßnahmen. Die Bedeutung von allgemeinem Bewegungsmangel, Stress und Arbeitsunzufriedenheit im Zusammenhang mit der Entstehung von Schmerzen in aufrechter Haltung wird häufig unterbewertet. Die Zufriedenheit der Patient:innen steigt zunächst mit der Menge der Verordnungen. Es besteht das Risiko, sich in einer "Zufriedenheitsfalle" wiederzufinden, denn mehr Verordnungen und mehr Zufriedenheit bedeutet nicht automatisch eine Besserung des Leidens [9]. Es ist notwendig, Schmerz als Emotion zu verstehen.

In der Schmerzforschung wird die Differenzierung von Schmerzarten auf Basis verschiedener Betrachtungsweisen angestrebt, um eine mechanismenbasierte Therapie zu realisieren [7]. Die Bedeutung sowohl somatopsychischer als auch psychosomatischer Zusammenhänge im Sinne eines biopsychosozialen Krankheitsmodells findet dabei Eingang in etablierte Behandlungsabläufe [11].

Nicht akute Schmerzen (Zuordnung bereits vor Ablauf von drei Monaten):
  1. Die Symptomatik ist aus den somatischen Befunden hinsichtlich Dauer und Ausprägung sowie resultierender Einschränkungen nicht hinreichend erklärbar.
  2. Die ausschließliche Behandlung diagnostizierter somatischer Veränderungen führt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zur vollständigen Regredienz von Beschwerden und Einschränkungen.
  3. Die Integration psychosozialer Faktoren, die die Beschwerden aufrechterhalten können (Yellow Flags, vgl. Kasten), ist erforderlich.
  4. Diagnosen, die eine Verodnung von Heilmitteln begründen könnten, sollten ggf. gestellt werden (z. B. R 52.2 –sonstiger chronischer Schmerz, R 26.8 –sonstige Gangstörung).
  5. Diagnosen, die die Abrechnung der Diagnostik und Therapie psychosomatischer Erkrankungen sowie Krisenintervention bei solchen Erkrankungen rechtfertigen, sollten ggf. gestellt werden (z. B. F 45.41 –chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren), um den erhöhten Zeitaufwand abbilden zu können.

Akute Schmerzen:

  • Die Symptomatik ist durch den somatischen Befund hinsichtlich Dauer und Ausprägung sowie durch resultierende Einschränkungen kausal erklärbar.
  • Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist eine vollständige Regredienz von Beschwerden und Einschränkungen durch Behandlung der somatischen Erkrankung zu erwarten.
  • Die langfristige Verordnung von Heilmitteln ist nicht erforderlich, da die Funktionskapazität durch Aktivitäten des täglichen Lebens sowie durch körperliche Aktivitäten aufrechterhalten werden kann.


Etablierte Behandlungsroutinen und deren Folgen

Die frühe Einordnung von Schmerzen in die Kategorien körperliche oder psychische Genese bzw. akut oder chronisch führt dazu, dass psychosoziale Begleitfaktoren meist zu spät oder gar nicht berücksichtigt werden. Eine Chronifizierung ist bereits eingetreten, bevor Patient:innen ein entsprechendes Angebot erhalten und/oder wahrnehmen [11]. Ziel ist es, das von den Patient:innen gelernte Verhalten, was die Inanspruchnahme des medizinischen Systems angeht, und deren bisherige Erfahrungen im diagnostischen und therapeutischen Prozess zu beeinflussen. Gleichzeitig sollten die für den Therapieerfolg bedeutsamen Selbstwirksamkeitserwartungen und -überzeugungen gestärkt werden [6].

Krankheiten und Schmerzen führen zu einer Beeinträchtigung der Routinen des täglichen Lebens. Patient:innen suchen dieÄrzt:in mit dem Wunsch nach einer möglichst schnellen Restitutio ad integrum auf. Die Therapieerwartungen fokussieren hierbei häufig auf passive Maßnahmen. Das Vertrauen in die Regenerationsfähigkeit wird geschwächt. Ängste, Enttäuschungen und Kränkungen, die mit den krankheitsassoziierten Einschränkungen verbunden sind, werden von den Patient:innen häufig nicht von sich aus kommuniziert. Sie nehmen den Schmerz nicht als Warnsignal wahr. Notwendige resultierende Anpassungen des Verhaltens finden nicht statt.

Alternative Betrachtungsweise

Schmerz ist ein hochgradig subjektives Phänomen, das nur dem unmittelbar zugänglich ist, der ihn spürt. Es gibt kein äußeres, objektives Kriterium für Schmerzen, welches die Überzeugung, Schmerzen zu haben, korrigieren könnte [1]. Um dem Risiko der Chronifizierung entgegenzuwirken, sollte gezielt nach den Beeinträchtigungen in den verschiedenen Lebensbereichen gefragt werden, z.B.: "Bei welchen Tätigkeiten im Alltag stehen Ihnen die Schmerzen besonders im Weg?" Oder: "Bei welcher Tätigkeit ist Ihnen eine Verbesserung besonders wichtig?"

Besprechen Sie mit den Patient:innen vorübergehende Veränderungen der Alltagsroutinen, um Regeneration zu ermöglichen, und mögliche medikamentöse und nichtmedikamentöse unterstützende Maßnahmen. Fragen Sie die Patient:innen nach den von ihnen vermuteten Ursachen der Schmerzen und nach deren Erwartungen an die Therapie. Patient:innen interessieren sich vor allem für Möglichkeiten der Schmerzlinderung und nicht für das Fehlen von Korrelaten für die Beschwerden in der bildgebenden Diagnostik. Die Aussage, dass in einer durchgeführten Untersuchung "zum Glück nichts herausgekommen ist", wird häufig als Unterstellung von simulierten Schmerzen wahrgenommen. Es gilt, die Patient:innen dort "abzuholen", wo sie sich befinden, um einen gemeinsamen Start für den Behandlungsweg zu haben [6].

Ein bedeutsamer Prädiktor für die Schmerztherapie ist die Erwartungshaltung, da sie das Therapieergebnis sowohl positiv als auch negativ beeinflussen kann. Positive Erwartungen gelten als protektiver Faktor [12]. Vermitteln Sie den Patient:innen Sicherheit in der von Ihnen gestellten Diagnose und stellen Sie Besserung der Symptomatik in Aussicht. Dabei sollten Sie den hohen Stellenwert regelmäßiger körperlicher Aktivität in den Vordergrund stellen. Damit haben die Betroffenen einen maßgeblichen Eigenanteil am Therapieerfolg. Äußern die Patient:innen Bedenken gegenüber der regelmäßigen Einnahme von Analgetika, werten Sie dies nicht als Missachtung Ihrer Kompetenz, sondern als Chance, nichtmedikamentöse schmerzlindernde Verfahren wie lokale Kälte oder Wärme, TENS und eben Bewegungstherapie in den Fokus der Behandlung zu rücken.

Es ist möglich, bei konsequenter Anwendung vorliegender Behandlungskonzepte im ambulanten Bereich eine ausreichende Analgesie bei tolerablen Nebenwirkungen zu erreichen [4]. Werden mechanismenbasiert Analgetika und Kotherapeutika auf der Basis des WHO-Stufenschemas (Tabelle 1) ausgewählt, gelingt ein sinnvoller Einstieg in die medikamentöse Schmerztherapie. Das Ziel der analgetischen Medikation ist es, hinreichende Therapiefähigkeit zu erreichen, um eine anhaltende Beeinträchtigung der Lebensqualität inklusive Abnahme der Arbeitseffektivität zu vermeiden und Chronifizierung mit ihren weitreichenden Folgen zu verhindern [8].

Der Grundsatz der kausalen Behandlung bleibt auch bei nicht akuten Schmerzen unbestritten. Die symptombezogene klinische Untersuchung trägt zur Verifizierung und Zuordnung der im Gespräch geschilderten Beschwerden bei und fördert die Bildung einer belastbaren therapeutischen Beziehung. Ausreichende Aufmerksamkeit für die Erkrankung und die individuellen Belange der Patient:in ermöglicht es, von den bestehenden Erwartungen abweichende diagnostische und therapeutische Strategien zu kommunizieren und umzusetzen [9]. Den Schmerz als Warnsignal bei drohender oder manifester körperlicher und/oder emotionaler Überlastung zu bewerten, eröffnet den Patient:innen die Möglichkeit, den Schmerz als Hinweis auf die Notwendigkeit einer Verhaltensveränderung zur Schadensvermeidung zu betrachten.

Die Verordnung aktiver Krankengymnastik stellt ein niederschwelliges Angebot dar zur Initiierung regelmäßiger körperlicher Aktivitäten. Ziel ist hierbei nicht in erster Linie die langfristige Gewährleistung körperlichen Trainings im Rahmen von z.B. Physiotherapie. Es sollte mit den Patient:innen bei Verordnungsbeginn vereinbart werden, die Dauer des möglichen Verordnungsvolumens zu nutzen, um regelmäßige Aktivitäten in den Alltag zu integrieren. Weiterführend besteht z.B. die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rehasport.

Beobachten Patient:innen einen Trainingseffekt im Sinne von verbesserter Beweglichkeit und Leistungsfähigkeit, erleichtert dies auch die Verrichtung der Aktivitäten des täglichen Lebens. Diese Erfahrung steigert die Motivation zur Aufrechterhaltung selbstwirksamer Maßnahmen. Die unter Anleitung durchgeführten körperlichen Aktivitäten ermöglichen es den Patient:innen, den aktuellen Stand der Leistungsfähigkeit zu erheben und an diesen adaptierte Trainingsmöglichkeiten zu erarbeiten. Ein Vermeidungsverhalten aufgrund der Angst vor schädlicher Wirkung von Sport kann reduziert werden. Hierbei sollte der Effekt
der Schmerztherapie überwacht werden und die
Patient:innen bzgl. des Beobachtungsverhaltens in Richtung Benefitorientierung unterstützt werden.

Beim Auftreten sogenannter Yellow Flags ist es sinnvoll, rechtzeitig eine Schmerzmediziner:in hinzuzuziehen. Es besteht auch die Möglichkeit, eine Schmerzmediziner:in im Rahmen der von ambulanten schmerztherapeutischen Einrichtungen verpflichtend angebotenen Schmerzkonferenzen zu konsultieren. Neben der Vermittlung von Anregungen für die ambulante Therapie kann die Schmerzmediziner:in auch Voraussetzungen für eine stationäre Schmerztherapie prüfen und bei bestehender Indikation geeignete Einrichtungen empfehlen.

"Yellow flags": Psychosoziale Risikofaktoren für eine Chronifizierung (10)
Kognitive Faktoren:
  • Annahmen, Überzeugungen, Bewertungen, Glaubenssätze
  • Erwartungen
  • Denkweisen: z. B. Katastrophisieren oder Unterdrückung von Gedanken
Emotionale Faktoren:
  • Anhaltender, alltäglicher Stress, depressive Stimmung, Hoffnungslosigkeit, Sorgen, Ängste, Hilflosigkeit
Verhaltensfaktoren:
  • Vermeidungsverhalten, Durchhalteverhalten/suppressives Verhalten (Schmerzen nicht wahrhaben wollen)

Fazit

Um eine individualisierte, mechanismenbasierte Therapie von Schmerzen gewährleisten zu können, ist das Verlassen der starren Zuordnung zu akut oder chronisch, seelisch oder körperlich und der resultierenden Erwartung standardisierter Behandlungskonzepte hilfreich. Hierzu sollten emotionale Faktoren durch Hinwendung zu Konfliktzonen der Patient:innen in verschiedenen Lebensbereichen, welche schmerzmodulierend wirken und durch den Schmerz beeinflusst werden, integriert werden. Die Beschäftigung mit der Gefühlswelt der Betroffenen und das Aushalten der auftretenden Affekte bedeutet, die Komfortzone der technisch-neutralen Arzt-Patient-Beziehung zu verlassen.

Verbesserungspotenzial zur Behandlung von Schmerzen bieten leitliniengerechte, gezielte Diagnostik und verstärktes psychologisches und psychosoziales Screening [3]. Im Rahmen von z. B. Schmerzkonferenzen können Therapieimpulse gegeben oder ggf. Möglichkeiten zu spezialisierter Behandlung aufgezeigt werden.

Wichtig für die Sprechstunde
  • Der Grundsatz der kausalen Behandlung der Schmerzen hat Bestand.
  • Schmerzaufrechterhaltende und -verstärkende psychosoziale Faktoren sollten frühzeitig erfragt und in die Therapie einbezogen werden.
  • Es gilt, die "Zufriedenheitsfalle" zu vermeiden.
  • Interdisziplinarität bei möglichst wenigen Behandlern (z. B. Schmerzkonferenzen) ist sinnvoll.
  • Eine positive Behandlungserwartung ist zu fördern.
  • Statt einer Einteilung in akute und chronische Schmerzen sollten besser akute und nicht akute Schmerzen unterschieden werden (vgl. Übersicht 1)


Literatur:
1. Kurthen,M. Psychiatrie und Neurologie 4, Neurophilosophie des Schmerzes Teil 1, 44-50 (2006)
2. Michalski, D., Hinz, A. Schmerzchronifizierung bei ambulanten Rückenschmerzpatienten. Schmerz 20, 198–209 (2006)
3. Maschewsky-Schneider, U., Klärs, G., Ryl, L. et al. gesundheitsziele.de . Bundesgesundheitsbl. 52, 764–774 (2009)
4. Gralow, I., Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Schmerztherapie , 45, Ambulante Schmerztherapie-Pharmakotherapie bei Tumorschmerzen, 34-41 (2010)
5. Maschewsky-Schneider, U., Gocke, M., Hölscher, U. et al. Gesundheitsziele.de. Bundesgesundheitsbl. 56, 1329–1334 (2013)
6. Gaul, C., Bundes Gesundheits Blatt 57, Kopfschmerzen-Patientenschulung als Baustein multimodaler Therapieprogramme , 961-966, (2014)
7. Maier, C., Baron, R. & Sommer, C. Neuropathischer Schmerz. Schmerz 29, 479–485 (2015)
8. Schwarze, C., Zenz, D., Orlowski, O. et al. Erhebung von Schmerzen nach ambulanten Operationen. Schmerz 30, 141–151 (2016)
9. Schiltenwolf, M. , Schwarze ,M. , Bundesgesundheitsbl. 63 Diagnostik und Therapie von Rückenschmerzen: Was ist empfehlenswert? Was sollte unterbleiben und warum wird es dennoch gemacht? : 527-534 (2020)
10. Geber, C., Kappis, B., Bäsch, T. et al. Schmerzprävention in der Grundversorgung. Schmerz 35, 5–13 (2021)
11. Kaiser, U., Nagel, B., Petzke, F. et al. Vermeidung chronischer Schmerzen in der deutschen Gesundheitsversorgung. Schmerz 35, 45–52 (2021)
12. Stuhlreyer, J., Klinger, R. Behandlungserwartungen bei postoperativen Schmerzen. Schmerz 36, 157–165 (2022)


Autor

© Marko Schoeneberg
Dr. med. Peter Besuch

Facharzt für Anästhesiologie
MVZ - Städtisches Klinikum Dessau
06847 Dessau-Roßlau
Interessenkonflikte: honorierte Referententätigkeit für Kyowa Kirin, Aristo Pharma, Bristol Myers Squibb



Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (10) Seite 34-37