In Deutschland gehören Harnwegsinfektionen zu den häufigsten bakteriellen Infektionen. Da das klinische Erscheinungsbild sehr heterogen sein kann, ist es notwendig, standardisierte diagnostische und therapeutische Entscheidungen zu treffen. Der nachfolgende Beitrag befasst sich vor allem mit den unkomplizierten Harnwegsinfekten und der Frage, wann der Einsatz von Antibiotika sinnvoll ist.
Harnwegsinfektionen werden entsprechend der Lokalisation in untere (Harnröhre und Harnblase) und obere (ein- oder beidseitige Nierenbecken-Niereninfektion) sowie sporadisch akute, rezidivierende oder chronische Infektionen unterteilt. Aufgrund des unterschiedlichen Managements ist es für den prognostischen Verlauf des Patienten von entscheidender Bedeutung, eine rasche Differenzierung zwischen unkompliziertem und kompliziertem Harnwegsinfekt vorzunehmen.
Komplizierte Harnwegsinfektionen zeichnen sich durch strukturelle (anatomische) und funktionelle Veränderungen der ableitenden Harnwege aus, die Harnwegsinfektionen begünstigen. Diese Veränderungen können den Erkrankungsverlauf des Betroffenen maßgeblich beeinflussen. Die Klassifizierung eines Harnwegsinfektes ist für den klinischen Alltag in der allgemeinmedizinischen Praxis essenziell. Eine leicht umsetzbare und sinnvolle Klassifikation, die das klinische Bild, die bestehenden Risikofaktoren und Therapieoptionen berücksichtigt, wurde von der Arbeitsgruppe der European Association of Urology (EAU) etabliert (Abb. 2) [12].
Diagnostik unkomplizierter Harnwegsinfektionen
Mit den diagnostischen Methoden soll zum einen geklärt werden, ob eine therapiebedürftige Harnwegsinfektion vorliegt, zum anderen soll der auslösende Erreger festgestellt werden. Trotz der Häufigkeit von Harnwegsinfektionen und ihrer Bedeutung für die tägliche klinische Praxis stellt die Diagnostik noch immer eine große Herausforderung dar. So ist eine Diagnosestellung alleine anhand klinischer Kriterien mit einer Fehlerquote von bis zu einem Drittel behaftet [8]. Selbst der Einsatz niedrigschwelliger Testinstrumente wie Urinteststreifen vermag die diagnostische Genauigkeit nur in geringem Umfang zu erhöhen. Nur die grundsätzliche Durchführung einer Urinkultur mit Bestimmung auch niedriger Erregerzahlen, Differenzierung und Empfindlichkeitsprüfung könnte in der Zusammenschau mit den klinischen Symptomen die diagnostische Ungenauigkeit verringern (Goldstandard). Eine solche Maximaldiagnostik bei nicht-selektierten Patienten ist jedoch weder ökonomisch sinnvoll noch im Alltag praktikabel [10].
Um die Vortest-(Pre)-Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, nimmt die Anamnese der Patienten einen wesentlichen Stellenwert ein. In der aktuell gültigen AWMF-S3-Leitlinie für unkomplizierte Harnwegsinfekte steht, dass bei allen Patienten, bei denen eine Harnwegsinfektion bestätigt oder ausgeschlossen werden soll, eine gründliche Anamnese von Symptomen, Befunden und Risikofaktoren erhoben werden muss, wie z. B. Dysurie, Pollakisurie, imperativer Harndrang, verstärkte oder neu aufgetretene Inkontinenz, Makrohämat-urie, suprapubischer Schmerz, Flankenschmerz, Fieber, Geruch und/oder Trübung des Urins, frühere Harnwegsinfektionen, auffälliger pathologischer Fluor vaginalis oder vaginale Irritation sowie Risikofaktoren für einen komplizierten Verlauf [3, 13]. Mittlerweile ist hierfür auch ein diagnostischer Fragebogen in deutscher Sprache erhältlich, der sogenannte Acute Cystitis Symptom Score (ACSS), der mit einem Schwellenwert von 6 und höher eine sehr gute diagnostische Genauigkeit hat [1]. Einen sehr guten Überblick über das weitere diagnostische Vorgehen bei symptomatischen Patienten nach der Anamnese bietet der Entscheidungsbaum aus der Leitlinie (Abb. 3).
Therapie unkomplizierter Harnwegsinfektionen
Die Indikation zur Antibiotikatherapie ergibt sich aus folgenden Überlegungen: Bleibt eine unkomplizierte Harnwegsinfektion auf die Harnblase begrenzt, so ist auch bei rezidivierenden Episoden nicht mit gravierenden Komplikationen zu rechnen [11]. Dies wurde auch in Langzeitstudien bestätigt [2]. Die Spontanheilungsraten der akuten unkomplizierten Zystitis sind hoch. Nach einer Woche liegen sie bei etwa 30–50 %. Bei der Therapie geht es deshalb im Wesentlichen darum, die klinischen Symptome rascher zum Abklingen zu bringen und damit die Morbidität zu senken und die Lebensqualität des Patienten zu erhöhen [4, 6]. In den wenigen plazebokontrollierten Studien konnte allerdings gezeigt werden, dass mit einer Antibiotikatherapie im Vergleich zu Plazebo die Symptome signifikant rascher abklingen. Des Weiteren wird bei empfindlichen Erregern eine signifikant raschere Elimination erreicht [4, 9]. Vor diesem Hintergrund könnte auch bei der akuten unkomplizierten Zystitis eine antibiotische Therapie empfohlen werden.
DEGAM plädiert für Zurückhaltung bei Antibiotikagabe
Zu diesen primären Überlegungen hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM) jedoch innerhalb der Leitlinie ein Minderheitsvotum abgegeben: Zwar besteht ein eindeutiger wissenschaftlicher Beleg, dass eine antibiotische Behandlung einer akuten unkomplizierten Zystitis zu einer schnelleren Heilung/Beschwerdelinderung führt. Diese Erkenntnis lässt aber die Forderung nach einer allgemein indizierten antibiotischen Behandlung aller Betroffenen nicht zu. Insbesondere deshalb, weil der Verzicht auf eine antibiotische Therapie nicht mit einer Gefährdung einhergeht. Daher wird eine rein symptomatische Therapie oder der Einsatz alternativer Medikamente als Strategie derzeit in prospektiven Studien evaluiert. Die DEGAM hat eine eigene Leitlinie "Brennen beim Wasserlassen" herausgegeben, die derzeit aktualisiert wird.
Falls eine antibiotische Therapie indiziert ist, gibt die S3-Leitlinie HWI konkrete Empfehlungen für die einzelnen Patientengruppen (vgl. Tabelle 1 und 2). Voraussichtlich Mitte 2016 wird die aktualisierte AWMF-S3-Leitlinie zu Harnwegsinfektionen erscheinen.
Interessenkonflikte: Wagenlehner: Honorare für eine Beratertätigkeit von Astellas, Bionorica, Cubist, Galenus, Leo-Pharma, Merlion, OM-Pharma, Pierre Fabre, Pierel Research, Rosen Pharma und Zambon. Für wissenschaftliche Fortbildungsveranstaltungen wurde er honoriert von Astellas, Bionorica Cubist, Galenus, Leo-Pharma, Merlion, OM-Pharma, Pierre Fabre, Rosen Pharma und Zambon.
Für die Durchführung von klinischen Auftragsstudien wurde er honoriert von: Astellas, Bionorica, Calixa, Cerexa, Cubist, Deutsche Forschungsgemeinschaft, Europäische Assoziation für Urologie, Galenus, Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Merlion, OM-Pharma, Rosen Pharma und Zambon.
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (8) Seite 14-17