Es ist schwierig, bei dementen Patienten die Symptome sowie die Notwendigkeit zur stationären Behandlung einzuschätzen. Der Hausarzt bewegt sich dabei im Spannungsfeld zwischen Übertherapie und therapeutischem Nihilismus. Wenn möglich sollte eine Hospitalisierung vermieden werden. Dabei kann die frühzeitige Präsenz Angehöriger wertvolle Entscheidungshilfen geben. Für schwerkranke demente Patienten kommt möglicherweise eine palliativmedizinische Behandlung infrage.

Menschen altern individuell sehr unterschiedlich und stellen infolge der Komplexität des Alterns eine große Herausforderung für unser Gesundheitssystem dar. Das Altern wird von Betroffenen und Behandlern oft mit dem Abbau kognitiver, körperlicher, emotionaler und sozialer Funktionen gleichgesetzt. Daraus wird nicht selten therapeutischer Nihilismus abgeleitet, insbesondere bei Multimorbidität und kognitiven Defiziten. Andererseits besteht die Gefahr der Übertherapie geriatrischer Patienten durch Missachtung des erklärten Patientenwillens (nicht vorliegende/nicht bekannte Patientenverfügung), zu positive Einschätzung der Lebensprognose oder als Folge ökonomischer Erwägungen z. B. im Rahmen abrechnungsrelevanter Prozeduren. Somit ergibt sich bei der Behandlung dementer geriatrischer Patienten eine Spannung zwischen Unter- und Überversorgung.

Symptome korrekt beurteilen

Bereits dieIch gehe mal davon aus, dass Einschätzung vorliegender Symptome wird erheblich erschwert durch Kommunikationsprobleme und Fehldeutungen evtl. schon vorbestehender Besonderheiten, z. B. bei der Mimik oder im Verhalten. Underreporting von Schmerz bei Demenz ist ein bekanntes Phänomen. Auf Mimik, Lautgebung und indirekte Schmerzzeichen ist aufmerksam zu achten. Neben vegetativen Zeichen (Tachykardie, Tachypnoe, Schwitzen, Unruhe) kann die Beobachtung, ob Trösten des Betroffenen möglich ist, hilfreich bei der Einschätzung von Schmerzen sein. Die BESD-Skala (BEurteilung von Schmerz bei Demenz) summiert die o. g. Faktoren und ist bei der Schmerzerfassung kognitiv beeinträchtigter Patienten hilfreich (vgl. Kasten).

Psychiatrische Auffälligkeiten finden sich bei 85 % aller Alzheimererkrankten. Neben Apathie (72 %), Agitation/Aggressivität (60 %), Ängstlichkeit (48 %) und Wahnvorstellungen (20 %) stellt insbesondere die Depression (25 – 50 %) eine schwierig einzuschätzende wichtige Komorbidität oder auch Differenzialdiagnose zur Demenz dar. Häufig erschweren die psychiatrischen Auffälligkeiten Notfalleinsätze bei geriatrischen Patienten mehr als die Verluste der kognitiven Leistungen.

BESD-Skala
Ein Formular zur BESD-Skala (BEurteilung von Schmerz bei Demenz) finden Sie hier.

Ist die Einweisung unumgänglich?

Bei der Notfallversorgung älterer Patienten mit Demenz ist die Notwendigkeit einer stationären Einweisung immer besonders gründlich abzuwägen. Dazu sind folgende Fragen zu klären:

1. Ist die stationäre Einweisung unumgänglich?

2. Kann eine adäquate Behandlung im ambulanten Bereich erfolgen, ist dafür eine ausreichende Versorgung mit Sicherung der Behandlungsmaßnahmen möglich?

3. Wie ist der erklärte/mutmaßliche Wille des Patienten?

4. Ist der Verzicht auf Intensivmaßnahmen geklärt?

Eine Hospitalisierung bedeutet für den Demenzerkrankten den Verlust des kompletten vertrauten Milieus: Umgebung, Bezugspersonen, Gerüche, Geräusche, Lichtverhältnisse und Tagesabläufe ändern sich schlagartig. Die akute Erkrankung selbst tritt als destabilisierender Faktor hinzu und verschlechtert potenziell Kognition und Emotion (z. B. Hyponatriämie, Exsikkose, Infekte). Auch Diagnostik mit wechselnden Untersuchungsräumen und Untersuchern kann zusätzlich destabilisieren.

Frühzeitige Präsenz Angehöriger

Eine möglichst frühzeitige Präsenz vertrauter Bezugspersonen erleichtert nicht nur die Deutung und Einschätzung vorliegender Symptome, sondern vermittelt dem verwirrten alten Patienten Sicherheit und beruhigt die Situation.

Ist die Hospitalisation unumgänglich, so ist eine möglichst kontinuierliche Begleitung durch vertraute Bezugspersonen bereits während der Fahrt in die Notaufnahme und möglichst auch während der Zeit des stationären Aufenthaltes (rooming in) anzustreben. Die frühzeitige Einbeziehung von Angehörigen erleichtert die Entscheidungsfindung der optimalen individuellen Behandlung, vermeidet unnötige Belastungen für den Patienten und verbessert das Behandlungsergebnis.

Kenntnisse und Fertigkeiten in der Kommunikation mit Demenzerkrankten (Validation, Kinaesthetics) sowie in Techniken der Deeskalation sind in der Notfallversorgung Demenzerkrankter darüber hinaus von hohem Nutzen.

Erste Schritte sind entscheidend

Sorgfalt und Bedacht ist geboten vor dem ersten Schritt der Behandlung vor Ort, da hierdurch eine eventuell nicht gewollte Kaskade von Übertherapie in Gang gesetzt werden kann (Reanimation, Intubation, Intensivstation). Bedenklich ist aber auch therapeutischer Nihilismus, der dem Patienten die Chance einer indizierten Behandlung verwehrt. So kann z. B. die sonographische Diagnostik einer Überlaufblase vor Ort eine "seit Stunden bestehende Unruhe" des Patienten erklären und eine rasche Katheterisierung (anstelle der Gabe von Sedativa oder Neuroleptika!) als wichtigste Therapie einleiten.

Anamnestisch bekannte oder vermutete Stürze mit oft nicht klar erkennbaren Schmerzzuständen sollten immer großzügige Abklärung mittels Röntgen nach sich ziehen. Bei erkennbar anhaltend starken Schmerzen (z. B. im Becken/Oberschenkelbereich) ist trotz unauffälliger Nativröntgenbefunde unbedingt ein Becken-CT zum Ausschluss von Beckenfrakturen (z. B. Massa lateralis, Os sacrum) anzustreben.

Infekte der Luftwege und im Urogenitaltrakt kommen gehäuft vor. Wenn möglich sollte eine perorale Antibiose gewählt werden, um die weitere ambulante Versorgung zu ermöglichen. Die Vermeidung einer häufig gleichzeitig bestehenden Exsikkose ist möglichst ambulant durch häufiges Anreichen von Flüssigkeit z. B. durch ambulante Pflegedienste und/oder Angehörige anzustreben, ggf. kann bei Schluckstörung zusätzlich angedickt werden. Ist perorale Substitution nicht möglich, können subkutane Infusionen oft mit gutem Erfolg auch ambulant durchgeführt werden.

Palliativmedizin bei schwerer Demenz

Bei schwerkranken alten Patienten mit fortgeschrittener Demenz ist immer auch die Indikation palliativmedizinischer Maßnahmen zu prüfen. Besteht Unklarheit bezüglich eventueller stärkerer Schmerzen, ist die probatorische Gabe eines Analgetikums (z. B. 2,5 – 5 mg Morphin s.c.) sinnvoll. Auch bei stärkerer Dyspnoe kann diese Medikation in der Akutsituation segensreich sein. Bei schwerer Symptomentgleisung, nicht gesicherter ambulanter Versorgung und erkennbar begrenzter Lebensprognose ist die Einweisung in eine stationäre Palliativstation notwendig.

Einsame (ärztliche) Entscheidungen sind zu vermeiden! Intensiver Austausch mit Angehörigen und betreuenden Personen zur Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens ist dagegen immer geboten, um die Weichen für eine sinnvolle Behandlung dementer alter Patienten zu stellen.

Interessenkonflikte: keine deklariert

Dr. med. Johannes Vogel


Kontakt
Dr. med. Johannes Vogel
Albertinen-Haus, Zentrum für Geriatrie und Gerontologie
Universität Hamburg
22459 Hamburg

Literaturverzeichnis:
1. Basler, HD, et. al. (2006): Beurteilung von Schmerz bei Demenz (BESD) Untersuchung zur Validität eines Verfahrens zur Beobachtung des Schmerzverhaltens. In: Der Schmerz 20(6): 519-526
2. Gerhard, C. , Bollig, G. (2007): Palliative Care für Patienten mit fortgeschrittener Demenz Palliativmedizin 2007; 8(2): 69-72
3. BMFSFJ, Bundesregierung, (2002): 4. Bericht zur Lage der älteren Generation: Pflegen: Demenz 3/2007
4. Deutscher Ethikrat (2012): Demenz und Selbstbestimmung, Stellungnahme
5. Rakowitz, B. (2012): Kommunikation mit Demenz-Patienten: Z. Palliativmed 2012; 13

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (2) Seite 54-57