Die Skepsis gegenüber den Plänen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Hinblick auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens war in der Ärzteschaft groß. Doch die Coronakrise hat da so manche Ansicht ins Wanken gebracht. Digitale Angebote spielten plötzlich eine wichtige Rolle in der Pandemiebewältigung. Die Bundesärztekammer (BÄK) hat die Lage analysiert und will mit einem Positionspapier Perspektiven für die weitere Digitalisierung aufzeigen.

Einschränkungen in der Mobilität, Kontaktverbote und weitere Maßnahmen zur Reduktion möglicher Infektionsketten: Die COVID-19-Pandemie hat in den letzten Monaten im deutschen Gesundheitssystem zu einer deutlichen Zunahme der Nutzung digitaler Anwendungen geführt. Die Zahl der Ärzte, die während der Coronakrise begonnen haben, Online-Sprechstunden anzubieten, ist deutlich gestiegen. Das Telemonitoring im Rahmen der Regelversorgung wurde ausgeweitet. Mehr Ärzte tauschen in Videokonferenzen Wissen und Erfahrungen aus. Und eine Smartphone-App soll helfen, die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen.

Mentaler Wandel

Mit der Corona-Pandemie habe ein "Mindshift", also ein mentaler Wandel, beim Thema digitale Kommunikationstechniken im Gesundheitswesen stattgefunden, meint BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt. Die Digitalisierung hat also einen deutlichen Schub erhalten.

Diesen Schub möchte die BÄK wohl gerne aufrechterhalten und meldete sich daher mit einem 12-Punkte-Programm zu Wort, wie sie sich die weitere digitale Transformation vorstellt. Denn eines hat die Pandemie auch gezeigt: Es gibt noch reichlich Schwachstellen im System, die den Informationsfluss entlang des medizinischen Versorgungsprozesses behindern.

Kommunikationsdefizite erkannt

Wichtige strukturelle Defizite sieht die BÄK zum Beispiel darin, dass es keine sichere Messenger App gibt, die von allen Ärzten zur schnellen innerärztlichen Kommunikation genutzt werden kann. Auch fehle die ausreichende digitale Anbindung von Ärzten an ihre Körperschaften sowie zum Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD). Das Resultat seien fehlende strukturierte Meldewege für eine einheitliche Corona-Dokumentation und für eine Koordinierung der Versorgung.

Die immer noch zwischen den einzelnen Softwaresystemen bestehende mangelnde Inter-
operabilität, die auch ein Geschäftsmodell einiger Softwarefirmen ist, so die BÄK, führe zu Verlust und ständiger Neuerhebung von medizinischen Daten innerhalb der Versorgungsketten von Patienten. Auch die Kommunikation von Pflegeheimen im Kontext der medizinischen Versorgung zeigte sich gerade in Pandemiezeiten als besonders anfällig für Störungen, weil es wenig standardisierte und etablierte Kommunikationswerkzeuge zwischen diesen Bereichen gibt.

Innerärztlicher Messenger-Dienst

Einen wichtigen Baustein sieht die BÄK daher unter anderem in digitalen Melde- und Informationswegen, einem plattformübergreifenden Identitätsmanagement für Ärzte und einer innerärztlichen Messenger-App zur innerärztlichen Kommunikation. Ein solches System würde den Ärzten eine einfache Möglichkeit bieten, sich auf verschiedenen Plattformen mit einem einmaligen Login als Ärzte zu identifizieren.

Das Angebot digitaler Unterstützung für das Gesundheitswesen ist demnach noch deutlich verbesserungswürdig. Die BÄK erwarte schon bei der Planung von Versorgungsabläufen, mittels digitaler Technologien die Austauschbarkeit und Weitergabe von medizinischen Informationen entlang des medizinischen Versorgungsprozesses zu gewährleisten. Einmal erhobene Daten sollten für die Versorgung wie auch für die Forschung und den ÖGD schnell und einheitlich unter Berücksichtigung von Datenschutz und Datensicherheit zur Verfügung stehen.

12-Punkte-Programm

Im Hinblick auf die Sinnhaftigkeit zahlreicher digitaler Neuerungen und mit dem Blick auf die reale Gefahr einer zweiten und dritten Infektionswelle in Deutschland fordert die BÄK, dass folgende Maßnahmen zeitnah umgesetzt werden sollten:

  1. Flächendeckender Ausbau und unkomplizierter, diskriminierungsfreier Zugang zu Videokonferenzmöglichkeiten, der nach Möglichkeit vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) zertifiziert sein sollte.
  2. Besserer Zugang zu Wissensdatenbanken und aktuellen Forschungsergebnissen für Ärzte. So könnten neue Erkenntnisse zur Corona-Pandemie rascher verbreitet werden.
  3. Ausbau von Telekonsilen (beispielsweise zu Fragestellungen bei der Beatmung von an COVID-19 erkrankten Patienten) mit Experten, unmittelbar beteiligten Kollegen und auch anderen Berufen und Einrichtungen im Gesundheitswesen, insbesondere für die ärztliche Betreuung von Pflegeeinrichtungen und Altenheimen.
  4. Ausbau von Monitoring-Möglichkeiten für ambulante Patienten. Bei Herzpatienten funktioniere das schon gut und erspare diesen unnötige Wege zu Routineterminen in der Praxis.
  5. Die Qualifizierung der Ärzteschaft, der Medizinischen Fachangestellten und der Angehörigen der Pflegeberufe für den Umgang mit digitalen Anwendungen stellt eine besondere Herausforderung dar. Ärzte und MFA müssten fit gemacht werden für die digitale Versorgung.
  6. Etablierung eines einheitlichen Identity-Access-Managements für Ärzte in der Verantwortung der Ärztekammern.
  7. Flächendeckende Einführung einer einheitlichen und sicheren Messenger-App/Anwendung für eine schnelle asynchrone, unproblematische Kommunikation im gesamten medizinischen Bereich.
  8. Etablierung von (elektronischen) Signalisierungs-, Melde- und Informationswegen für die Koordinierung der Versorgung sowie für die Beschaffung beispielsweise von Schutzausrüstungen in vergleichbaren Situationen.
  9. Dauerhafte Möglichkeit der Bescheinigung einer Arbeitsunfähigkeit über Telefon- und Videokontakt für Bestandspatienten von Haus- und Kinderärzten.
  10. Erweiterung von Registern für medizinische Ressourcen (z. B. DIVI-Intensivbettenregister).
  11. Medizinische und ethische Begleitforschung bei der Weiterentwicklung digitaler Anwendungen.
  12. Patienten und ihren Angehörigen sollten digitale Kommunikationsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, insbesondere bei bestehenden Besuchseinschränkungen.

Einfach mal anfangen

Wichtig sei es, digitale Anwendungen in der Praxis zu erproben, so die BÄK. Dafür sollte man Testregionen auswählen, in denen die Techniken ausprobiert werden können, auch wenn sie möglicherweise noch nicht 100 %ig ausgereift sind. Was sich dort bewährt, könne dann bundesweit implementiert werden. Man müsse einfach mal anfangen, so BÄK-Vorstandsmitglied Dr. Peter Bobbert.

Grundvoraussetzung für den digitalen Wandel sei aber auch eine verbesserte Infrastruktur, machte BÄK-Präsident Reinhardt klar. Der Zugang zu schnellem Internet in allen Regionen sei unabdingbar.



Autor:
Dr. Ingolf Dürr

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (13) Seite 28-29