Prävention kommt im Praxisalltag leider meist viel zu kurz. Dabei wäre ein Richtungswechsel dringend notwendig und für alle Beteiligten hilfreich. Dr. Eva Merz-Pilligrath erzählt, wie sie in ihrer Hausarztpraxis vorgeht, um ihre Patient:innen mehr für das Thema zu sensibilisieren.
Die Allgemeinärztin Dr. Eva Merz-Pilligrath, die mit ihrem Ehemann eine Gemeinschaftspraxis in Taunusstein (Hessen) betreibt, bringt es wie folgt auf den Punkt: "Hier zeigt sich ein grundlegendes Problem unseres Systems. Patienten werden nicht belohnt, wenn sie gesund leben, sondern wenn sie sich über die Jahre eine schwerwiegende Krankheit wie Lungenkrebs erworben haben. Dann zahlt die Allgemeinheit ihre aufwendige Therapie." Dadurch sei bei den meisten Patient:innen die Motivation, selbst für ihre Gesundheit aktiv zu werden, oft sehr begrenzt. Und sie ist sich sicher: "Das werden wir uns nicht mehr lange leisten können. Vielmehr müssen jetzt alle ran, auch die einzelnen Versicherten, die mehr tun müssen, als ihr Stempelheft zu pflegen. Damit wir wegkommen von einer Argumentation wie "Ich habe so lange eingezahlt, jetzt soll die Kasse ordentlich für mich bezahlen<." Auch vonseiten der Politik fehlt es an einem klaren Bekenntnis zur Prävention. Vielmehr wurden z. B. die in der Hausarztpraxis wichtigen Gesundheitsuntersuchungen in den letzten Jahren weiter beschnitten.
Dabei wäre das Potenzial für Präventionsangebote jenseits von"Klassikern" wie der Hautkrebsprävention bzw. Suchtprävention immens. Nicht übertragbare Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Probleme, Diabetes, Krebs oder Lungenerkrankungen sind laut WHO für 90 % der Todesfälle in der EU verantwortlich. Und wie sich der Betroffene verhält, spielt dabei eine entscheidende Rolle. Das fängt bei Bewegungsmangel an, geht über unausgewogene Ernährung und Stress bis hin zu Alkohol und Nikotin. Eine Studie zur Prävention von Schlaganfall und Demenz in der Hausarztpraxis bei Versicherten über 50 zeigt z. B. signifikante Verbesserungen beim Mortalitätsrisiko, Pflegebedürftigkeitsrisiko und der Wahrscheinlichkeit einer stationären Behandlung aufgrund zerebrovaskulärer Erkrankungen. Und intensive Lebensstilinterventionen, die mit viel Bewegung verbunden sind, können auch Menschen mit Prädiabetes helfen, ihre Blutzuckerwerte über die Jahre zu verbessern und so Typ-2-Diabetes hinauszuzögern bzw. zu verhindern. Gerade Prädiabetiker:innen mit dem höchsten Risiko (Personen, die zu wenig Insulin produzieren oder eine Fettleber mit Insulinresistenz haben) könnten von einer intensiven Lebensstilintervention profitieren.
Eva Merz-Pilligrath sieht insbesondere bei Bewegungsmangel und Übergewicht akuten Bedarf in der Hausarztpraxis: "Viele Patienten haben während der Pandemie weiter an Gewicht zugelegt und ihre Bewegung z.B. durch Homeoffice weiter eingeschränkt. Dass von den Kassen digitale Präventionsangebote in diesen Bereichen verschrieben werden, ist hier eine sehr gute Entwicklung, ich bin ein großer Freund solcher begleitenden Therapieformen", konstatiert die Hausärztin. Aber insgesamt passiert noch zu wenig. "Gerade die Risikopatienten, die bereits hoch belastet sind, sollten bei präventiven Angeboten mehr berücksichtigt und aktiver angesprochen werden."
Diagnose als Basis nutzen
In der hausärztlichen Praxis zeigen sich erhebliche Gesundheitsprobleme meist bereits recht früh im Lebenslauf, wenn z. B. Eltern mit übergewichtigen Kindern in die Praxis kommen: "Oft sind dann auch die Eltern nicht normalgewichtig. Einmal die Woche ein gemeinsames, gesundes Frühstück im Kindergarten mit Mörchen & Co reicht da nicht aus", so Merz-Pilligrath. "Bei übergewichtigen Kindern mache ich mich im Gespräch mit den Eltern auf die Suche nach organischen Ursachen, um anhand der Laborwerte objektiv aufzuzeigen, dass körperlich alles in Ordnung ist – und dann gehe ich zum Thema Bewegungsmangel und Übergewicht über. Mit dem Ziel, die Lösung des Problems möglichst gemeinsam anzugehen." So gab es in ihrer Praxis eine Familie, die anschließend in Kur gefahren ist, um zusammen zu lernen, wie man gesünder isst. Bei einem anderen jungen Patienten wiederum kam heraus, dass eine bis dato unbekannte Herzerkrankung vorliegt und er dadurch lethargisch und bewegungsfaul wirkte: "Andere denkbare Ursachen dafür, dass Heranwachsende nicht in die Gänge kommen, können u. a. Wachstumsstörungen, juveniles Rheuma oder Schilddrüsenprobleme sein. Die Jugendlichen einfach abzuurteilen und ihnen zu sagen, du musst dich halt mehr bewegen, ist nicht gerechtfertigt." Gerade bei den Heranwachsenden gehe es auch darum, den Teufelskreis aus mangelnder Akzeptanz und einem gestörten Ess- und Bewegungsverhalten möglichst frühzeitig zu durchbrechen.
Nahe an den Patient:innen
Der Umstand, dass man die Patient:innen in der Hausarztpraxis meist sehr gut kennt und über viele Jahre betreut, ist für die Allgemeinmedizinerin ein entscheidender Vorteil: "Als Hausarzt kann man da viel schlüssiger argumentieren und gezielter motivieren", so Merz-Pilligrath. "Zum Beispiel mit einem Satz wie: Sie haben doch schon so viel geschafft, das bekommen wir jetzt auch noch hin!". Gleichzeitig kommen Präventionsmaßnahmen oft nicht bei denjenigen an, die sie am nötigsten hätten, z. B. bei Älteren, Ärmeren und Menschen mit schlechterem Bildungszugang. Als Teil der Grundversorgung vor Ort steht die Hausarztpraxis allen offen. Statt einem Gang zur Fachärzt:in, der mit langen Wartezeiten verbunden sein kann, punkten Hausärzt:innen mit emotionaler Nähe zu "ihren" Patient:innen und sind i. d. R. vor Ort erreichbar. In der Hausarztpraxis geht es dabei v.a. darum, die Betroffenen mit dem richtigen Gefühl für ihre persönliche Situation in eine entsprechende Richtung zu bewegen, erzählt die Hausärztin: "Die passenden Fragen zur richtigen Zeit, ein Hinweis auf Angebote vor Ort (Sportverbände und Fitnessstudios, Ernährungscoaching für Schwangere/60 plus, Sturzprävention etc.) und ein paar Kniffe bei der Gesprächsführung können bereits helfen. Insbesondere die positive Verstärkung, bei der auch kleine Erfolge aktiv angesprochen und gelobt werden, ist wichtig, damit die Betroffenen durchhalten." Letztendlich sei es für den Betroffenen entscheidend, jemanden zu finden, der bei der Umsetzung unterstützt, so die Allgemeinmedizinerin: "Das sind dann weniger die Hausärzte. Sie sind aber genau die Richtigen, um den Patienten aufzuzeigen, warum man dringend etwas machen sollte und was man selbst tun kann."
Es ist nur allzu menschlich...
Natürlich liegt einer Patient:in nichts so fern wie eine Erkrankung, die noch nicht greifbar ist. Oder besser noch: das Nichteintreten dieser Erkrankung in der Zukunft. Wer will da schon – quasi prophylaktisch − auf den ein oder anderen Risikofaktor und damit Genuss − verzichten? Gleichzeitig erschwert die begrenzte Erstattungsfähigkeit ein Mehr an Prävention und Gesundheitsförderung gerade in der Hausarztpraxis: Viele Präventionsangebote laufen unter Selbstzahlerleistungen bzw. IGeL. Selten bleibt im gut gefüllten Praxisalltag Zeit über, um dieses zusätzliche Leistungsangebot an eine Vielzahl von Patient:innen zu kommunizieren und − was oft notwendig wäre – umfassend zu erklären. Wenn dann noch eine stetig variierende Anzahl von Präventionsleistungen durch unterschiedliche Leistungserbringer hinzukommt, führt das eher zu noch mehr Verwirrung.
Dabei muss man beileibe kein Vorzeige-Charakter in Gesundheit und Fitness sein, um sich für Prävention und Gesundheitsförderung starkzumachen! Es kann sogar von Vorteil sein, im eigenen Alltag mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen und dadurch auch aus eigener Erfahrung argumentieren zu können.
Healthcare with selfcare
Einer der wichtigen Effekte von mehr Prävention im eigenen Praxisalltag wird nur allzu gerne übersehen: Ärzt:innen und ihre Teams werden sich so der eigenen Belastungen und der damit verbundenen gesundheitlichen Risiken eher bewusst. Denn durch den Anspruch, permanent eine Patientenversorgung auf höchstem Niveau zu leisten, und unter dem Druck von Ökonomisierung und Digitalisierung arbeiten viele Ärzt:innen chronisch jenseits ihrer Belastungsgrenze. Bereits vor der Pandemie gaben 98 % der Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen an, sich mindestens einmal ausgebrannt gefühlt zu haben. 48 % der Ärzt:innen und Pflegekräfte bestätigen eine Verschlimmerung ihrer Überlastungssymptome durch Corona. Dr. Eva Merz-Pilligrath würde dazu jetzt sagen: "Auch als Arzt bzw. Ärztin muss man lernen, auch einmal Nein zu sagen. Nur so ist man auch langfristig in der Lage, sich gut um seine Patienten zu kümmern!"
Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (7) Seite 52-54