Mit etwas Verspätung ist jetzt die neue DEGAM-S2e-Leitlinie (LL) "Schutz vor Über- und Unterversorgung" publiziert worden. Basis der priorisierten 26 medizinischen Maßnahmen für Hausärzte sind insgesamt 8 bereits bekannte DEGAM-S3-LL (z. B. zu Brustschmerz, Demenz, Prostatakarzinom oder Kreuzschmerz) und 9 Nationale Versorgungs-LL.

Neu ist, dass diese 26 Empfehlungen im Hinblick auf Über-und Unterversorgung extrahiert, geprüft und in diesem Kontext neu bewertet worden sind. Ein kleiner Auszug aus den Empfehlungen zeigt, dass diese zum Teil allein schon in medizinischer Hinsicht viel Zündstoff bieten.

Beispiele für Überversorgung:

  • Die Evidenz für den Nutzen eines generellen Hautkrebs-Screenings gilt als unzureichend. Das Screening ist nur nach ausgewogener Aufklärung über Vor- und Nachteile durchzuführen.
  • Männer, die den Wunsch nach einer Früherkennungsuntersuchung mittels PSA in der Hausarztpraxis nicht von sich aus äußern, sollen darauf nicht aktiv angesprochen werden. Das passiert bislang durchaus häufig.

Beispiele für Unterversorgung:

  • In der hausärztlichen Behandlung von Personen mit Demenz sollte ein stärkerer Fokus auf die spezifischen Risiken der übrigen Familienmitglieder als besonders vulnerable Gruppe gelegt werden.
  • Multimodale Therapien bei Rückenschmerzen erfolgen zu selten.

Eine politische Leitlinie

Die LL weist aber noch eine weitere Besonderheit auf, da sie neben den überwiegenden, strikt evidenzbasierten Teilen auch Meinungen und Kommentierungen enthält, die eindeutig politisch ausgerichtet sind. Dies räumen die Autoren um Prof. Martin Scherer, Vizepräsident der DEGAM und Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin am UKE in Hamburg, auch offen ein. Eine LL zur Fehlversorgung könne gar nicht unpolitisch sein, stellt Scherer völlig zu Recht fest. Denn implizit steckt in der LL an verschiedenen Stellen nicht nur der Ruf nach Stärkung der hausärztlichen Versorgung, sondern auch nach einem Primärarztmodell mit drin, auch wenn diese Begriffe selbst nicht genannt werden. Immer wieder wird aber hervorgehoben, dass Fehlversorgung letztlich nur durch eine gute Koordination durch einen verantwortlichen Arzt vermieden werden könne.

Unabhängig davon kann die neue LL den Hausärzten aber schon wichtige Argumente liefern, um in der Praxis Fehlversorgung zu vermeiden und Patienten künftig noch besser vor Unter- und Überversorgung zu schützen. Davon jedenfalls ist Scherer überzeugt. Denn der Wind weht den Allgemeinärzten in der Praxis gerade bei der Überversorgung aus zwei Richtungen scharf ins Gesicht. Vonseiten der Patienten, die häufig viel mehr Diagnostik und Therapien wünschen, als eigentlich zwingend notwendig ist. Und vonseiten der Spezialisten, die ebenfalls die Behandlungsmaschinerie ankurbeln, was häufig einen Rattenschwanz von sinnvollen, aber auch unnötigen Maßnahmen nach sich zieht.

Bei diesem Kampf gegen "Windmühlen" könnte die LL den Hausärzten deshalb hilfreich sein, zumal die Empfehlungen so klar und verständlich formuliert sind, dass sie auch Patienten verstehen können. Die Allgemeinärzte müssen diese Chance jetzt nur noch nutzen.


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Raimund Schmid


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (12) Seite 32