Mit der Verbreitung des Buchdrucks schien der Beruf des Erzählers in unseren Breiten fast schon ausgestorben. Erst seit etwa zwei Jahrzehnten erlebt diese mündliche Tradition eine Renaissance. Ohne Buch oder Skript, allein durch Sprache, Ausdruck und Gestik verleihen Erzählerinnen und Erzähler den Geschichten eine einzigartige Lebendigkeit. Dass Erzählen auch „heilend“ wirken und Trost in schwierigen Lebenslagen spenden kann, zeige sich inzwischen in unzähligen Einsätzen in Krankenhäusern, Altenheimen, Hospizen und in der Therapie, berichtet der Verband der Erzählerinnen und Erzähler e. V.

Überall auf der Welt haben es sich Erzähler/innen zur Aufgabe gemacht, mit ihrer Kunst Menschen in schwierigen Lebenslagen Mut zu machen und ihnen ein Werkzeug der Hoffnung mit auf den Weg zu geben. Seit Jahrhunderten haben Erzähler, Musiker und Schriftsteller die Herzen der Menschen berührt – und nicht nur das: Im türkischen Edirne gab es die Begleitung kranker Menschen mit Musik und Erzählkunst – die Kranken lagen auf ihren Lagern und lauschten dem Plätschern eines Brunnens, den Klängen der Musik sowie den Geschichten der Erzähler. Auch in Gondar in Äthiopien gab es ein solches Hospital.

Erzählen als positive Psychotherapie

Nossrat Peseschkian, ein deutscher Neurologe und Psychologe mit persischer Herkunft, wusste um die unterstützende Kraft des freien Erzählens. Als Begründer der "Positiven Psychotherapie" sah er die Verwendung von Geschichten und Lebensweisheiten als einen seiner Arbeitsschwerpunkte an, und seine Nachfolger verzeichnen bis heute damit große Erfolge bei den Heilungsprozessen ihrer Patienten.

Im Verband der Erzählerinnen und Erzähler e. V. ist das Erzählen für Menschen in Not ein Thema, das große Beachtung findet. Seit Jahren findet hier ein reger Austausch mit Erfahrungsberichten und qualifizierenden Seminaren statt. Die professionellen Erzähler/innen sind tätig in der Hospiz- und Trauerarbeit, mit Demenzkranken und auch mit Opfern von Gewalt und Krieg.

Geschichten schenken Mut

Wie können Geschichten helfen? Was kann den Lebensmut, die Lebenskraft wieder aktivieren? Geschichten, Märchen oder Parabeln können durch ihre urmenschlichen Themen und Lösungswege die Visualisierungskraft eines Menschen so anregen, dass dieser den Anstoß zur Heilung bekommt oder aus einer aussichtslosen Situation findet. Oftmals reicht es, den Leidenden durch Geschichten andere Sichtweisen zu bringen und damit einen Weg aus dem Gedankenkarussell, das meist von Angst bestimmt ist, zu geben. Im Gegensatz zu Ratschlägen legen Geschichten und Lebensweisheiten dabei keine Verpflichtung auf, sondern geben dem Zuhörenden die Freiheit, andere Perspektiven zu erkennen und für sich zu entdecken.

Der Erzähler und seine Zuhörer
Das Erzählen von Geschichten fordert ein aktives Zuhören vom Gegenüber. Es ist ein Zusammenspiel zwischen Publikum und Erzähler. Der Erzähler entwirft Bilder, die sich in der Fantasie des Zuhörers mit Farben, Gefühlen und Stimmungen füllen. Obgleich alle dieselbe Geschichte hören, lebt sie in der Fantasiewelt jedes Einzelnen und durch die Interpretation des Erzählers. Hier können Prozesse thematisiert und Lösungswege vom Zuhörer selbst aktiv entdeckt werden. Der Erkenntnisweg wird durch das Erzählen zum Handlungsweg.

Geschichten als Kraftquelle

Wie Erzählen auch Kraft spenden kann in scheinbar ausweglosen Situationen, zeigt ein Erfahrungsbericht einer Erzählerin: „Am Anfang meiner Erzählausbildung hatte ich so etwas wie ein Burnout. Ich war lebensbedrohlich krank und bekam die Diagnose: chronische Pankreatitis im Endstadium – "unheilbar". Eigentlich hätte ich die Ausbildung abbrechen müssen. Da es mir aber sehr wichtig war, lernte ich mit den Märchen weiter. Mein erstes Märchen war "Schneeweißchen und Rosenrot". Als ich mit meiner Ausbilderin daran feilte, spürte ich beim Erzählen einer emotional aufgeladenen Stelle plötzlich eine große körperliche Kraft. Ein innerer Knoten war geplatzt. Danach wurde ich gesund und bin es geblieben. Das war für mich wie ein Wunder. Seither weiß ich, Geschichten berühren Menschen tief in ihrem Inneren. Diese Kraft steckt in jeder Geschichte. Oft lehren sie uns etwas, z. B. dass man nie aufgeben darf, dass man sich diesen Prüfungen, die uns allen im Leben begegnen, stellen muss. Und sie erinnern daran, dass man die Rettungsanker, die einem gereicht werden, auch ergreifen muss.“

Geschichten als Trauerbegleitung

Geschichten können bei Trauer, Verlust und Tod den Abschiedsschmerz mildern sowie positive Gefühle, inneren Frieden und Zuversicht erzeugen. Bei einem Erzähler-Seminar berichtete eine Teilnehmerin, dass seit ihrem 50. Geburtstag kein Tag vergangen war, an dem sie nicht voller Angst an ihren eigenen Tod gedacht hatte. Durch die Märchen sei etwas passiert, ganz still und leise. Ja, der Gedanke an ihre Endlichkeit sei immer noch da, aber „an die Stelle der Angst ist jetzt ein großer Frieden getreten.“

Eine andere Erzählerin hat lange Jahre Märchen auf der Kinderkrebsstation in Augsburg zum Trost und zur Freude erzählt. Dabei erlebte sie immer wieder, dass Erzählen Herzen öffnet. Familien kamen (wieder) miteinander ins Gespräch, andere fanden den Mut, über Tod und Sterben zu sprechen. Die Geschichten gaben den Weg frei zu den eigenen Gefühlen und endlich konnten, durch gehörte Worte, die eigenen Gefühle in eigene Worte gefasst werden.

Auch im Umgang mit Demenzkranken erweist sich die Arbeit mit Märchen als hilfreiches Mittel. Eine Erzählerin, die seit 12 Jahren demenziell Erkrankte und alte Menschen begleitet, berichtet darüber so: „In diesen Erzählstunden erlebe ich, dass man mit dem Erzählen von Geschichten etwas in den Menschen hervorbringt und sie sich mitteilen wollen, wenn sie Vertrauen gefasst haben. Ihre Gesichter zeigen Emotionen, Erinnerungen, Freude, nicht als einmalige Sache, sondern immer wieder.“

Verband der Erzählerinnen und Erzähler e. V.
Der Verband wurde im Juni 2013 gegründet und hat derzeit 68 Mitglieder. Zweck des Vereins ist der Zusammenschluss freischaffender Erzählerinnen und Erzähler und die Wahrnehmung ihrer Interessen sowie die Förderung und Pflege von Kunst und Kultur, vorwiegend der mündlichen Erzählkunst von Volks- und Kunstmärchen, Sagen, Mythen und selbst erfundenen Geschichten. Seit 2008 treffen sich alljährlich zwischen 50 und 80 Erzählerinnen und Erzähler, um sich über ihre Kunst auszutauschen, Richtlinien zu finden, sich zu vernetzen und fortzubilden ( http://www.erzaehlerverband.org ).

Märchen und Sagen als heilsame Helfer

Doch nicht allein die Geschichten sind das entscheidende Medium, sondern die Erzählerin, der Erzähler, die Situation, das Ambiente und die Situation der Leidenden. Märchen und Geschichten sensibilisieren für andere Gedankenwege, für innere Bilder, für die Beschäftigung mit den wesentlichen Dingen des Lebens. Geschichten sind Transformatoren, Wandler, Verwandler. Selbst eine kleine, lustige Geschichte kann durch das Lachen, das sie auslöst, viel bewegen. Geschichten, Märchen, Mythen und Sagen drücken in starken archaischen Bildern aus, was uns auf der menschlichen Ebene im Wesentlichsten und Tiefsten bewegt. Deshalb sind sie als heilsame, hilfreiche Helfer wunderbar geeignet. Das Erzählen als helfendes, begleitendes Element hat in vielen Institutionen und im Verband der Erzählerinnen und Erzähler längst einen Platz gefunden.


Für den Verband der Erzählerinnen und Erzähler e. V. – Annette Hartmann und Kirsten Stein

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (20) Seite 122-124