Anders als andere chronische psychische Störungen wird Alkoholabhängigkeit in der Bevölkerung häufig stigmatisiert, als selbstverschuldet und nicht behandlungsbedürftig angesehen. Betroffene selbst neigen krankheitsbedingt dazu, ihren Alkoholkonsum zu verleugnen oder zu bagatellisieren. Anfangs, aber auch im Verlauf ist die Veränderungs- und Therapiemotivation nicht selten gering oder schwankend, daher konzentriert sich die ärztliche Behandlung oft leider auf Folge- und Begleiterkrankungen und weniger auf die ursächliche Suchterkrankung.

Deutschland zählt mit ca. 40 Millionen alkoholkonsumierenden Menschen zu den Hochkonsumländern. Ca. 1,6 Mio. Menschen (3,1 % der 18–64-Jährigen) zeigen einen "schädlichen Gebrauch" und ca. 1,8 Mio. (3,4 %) eine Alkoholabhängigkeit. Alkoholbezogene Störungen stellen in Deutschland die häufigste Krankenhausbehandlungsdiagnose dar. Maßnahmen zur Früherkennung sind nur ansatzweise umgesetzt. Therapeutischer Nihilismus ist bei Alkoholabhängigkeit verbreitet und wird mit jedem rückfälligen Patienten scheinbar bestätigt. Daher erstaunt es kaum, dass nur rund 10 bis 15 % der Betroffenen eine spezialisierte Behandlung in Anspruch nehmen. Zwischen dem ersten Auftreten der Symptome einer Abhängigkeit und der erstmaligen Behandlung vergehen im Durchschnitt 10 Jahre ungenutzt. Gelänge es, mehr der Betroffenen zu erkennen und z. B. 40 % einer Beratung und Behandlung zuzuführen, ließen sich nach einer aktuellen Modellrechnung pro Jahr rund 2.000 alkoholbedingte Todesfälle vermeiden [1]. Gute Gründe, um im Rahmen einer breit basierten Entwicklung von S3-Leitlinien die Angebote zu Screening, Diagnostik und Therapie kritisch zu prüfen. Einige der Kernelemente der S3-Leitlinie werden hier komprimiert dargestellt ( http://www.awmf.org ).

Empfehlung: Umfassendes Screening

Angesichts der vielfach nachgewiesenen Wirksamkeit fordert die S3-Leitlinie ein flächendeckendes Screening von alkoholbezogenen Störungen in Praxis und Klinik mittels des AUDIT {A}- oder AUDIT-C- {KKP} Fragebogens (10 bzw. 3 Fragen). In Deutschland hat sich ein Cut-off von 5 Punkten bei Männern und 4 Punkten für Frauen bewährt. Eine höhere Spezifität wird mit einer Erhöhung des Cut-off auf 6 Punkte erreicht. Der Fragebogen ist frei verfügbar, z. B. unter http://www.auditscreen.org/ .

Eine Kombination des Fragebogens mit indirekten Zustandsmarkern, z. B. GGT & MCV & CDT, kann zur Erhöhung der Sensitivität und Spezifität erfolgen {A}. Wo mit therapeutischen Konsequenzen verknüpft, kann eine hohe Sicherheit beim Nachweis eines (chronischen) Alkoholkonsums mit direkten Ethanolmetaboliten, wie z. B. Ethylglucuronid (EtG; Haare) oder Phosphatidylethanol (PEth; Vollblut), erreicht werden {A}. So gaben z. B. in einer Untersuchung 91 % der untersuchten Schwangeren am Ende des 2. Trimenons an, keinen Alkohol während der Schwangerschaft konsumiert zu haben. Mittels o. a. Parameter zeigten 25 % der Schwangeren einen Alkoholkonsum, bei mehr als der Hälfte davon im Bereich 20–60 g reiner Ethanol.

Therapeutische Möglichkeiten

Kurzinterventionen

Kurzinterventionen zielen auf eine Verringerung des Alkoholkonsums und alkoholassoziierter Probleme und integrieren eine individuelle Zielfindung, ein personalisiertes Feedback sowie konkrete Ratschläge. Mehrere (Cochrane-)Metaanalysen belegen die Wirksamkeit zur Reduktion des Alkoholkonsums bei riskant Alkohol Konsumierenden {A}.

Motivational Interviewing soll als Kurzintervention am Krankenbett bei Jugendlichen nach Alkoholintoxikation angeboten werden zur kurzfristigen Reduktion der Trinkmenge und des riskanten Verhaltens. Für eine langfristig anhaltende Reduktion der Trinkmenge ist eine solche Intervention nicht ausreichend {A}. Bei Abhängigen ist die Datenlage zur Wirksamkeit widersprüchlich {0}. Es gibt keine Hinweise auf Geschlechtsunterschiede bei der Wirksamkeit {A}. Somit sollen in der primärmedizinischen Versorgung Kurzinterventionen zur Reduktion problematischen Alkoholkonsums immer angeboten werden {A}.

Begleitende psychische Erkrankungen

Bei Patienten mit einer alkoholbezogenen Störung finden sich überzufällig häufig auch andere psychische Störungen. Patienten mit einer komorbiden psychischen Störung haben insgesamt eine schlechtere Prognose, wenn nicht eine möglichst leitliniengerechte Behandlung beider Erkrankungen erfolgt {B}. Die Komorbidität muss immer berücksichtigt werden, z. B. bei der Auswahl der psychotherapeutischen und/oder medikamentösen Interventionen. Insbesondere bei affektiven Begleitsymptomen ist zu beachten, dass sie alkoholinduziert sein können. Daher ist eine diesbezügliche Behandlungsindikation erst 3–4 Wochen nach dem Entzug sinnvoll überprüfbar {A}. Durch die alleinige Behandlung einer psychischen Komorbidität ist in der Regel keine anhaltende Trinkmengenreduktion erreichbar. Sehr gut belegt ist die Nicht-Wirksamkeit z. B. für die bei trinkenden Alkoholabhängigen häufige Gabe von Antidepressiva, wie z. B. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer {A}.

Primärversorgung

Dem Hausarzt und den ärztlichen Notdiensten kommt eine zentrale Rolle für die Erkennung, Behandlung und Begleitung von Menschen mit alkoholbezogenen Störungen zu {KKP}, da annähernd 80 % der Betroffenen bzw. deren Angehörige primär dort vorstellig werden. Wenn der Hausarzt erstmals Hinweise auf eine alkoholbezogene Störung feststellt (u. a. mittels AUDIT), sollen eine weiterführende Diagnostik erfolgen und Maßnahmen zur Abstinenz oder zur Trinkmengenreduktion unter engmaschigen Kontakten angeboten werden. Patienten, die aktuell keine Entzugsbehandlung durchführen wollen oder können, sollten vorsorglich über die Risiken einer plötzlichen Trinkmengenreduktion aufgeklärt werden. Zugleich sollte über weiterführende Angebote informiert und diese ggf. vermittelt werden {KKP}. Diese Informationen sollten möglichst an die regionalen Gegebenheiten des Betroffenen angepasst sein.

Selbsthilfe

Der regelmäßige und langfristige Besuch von Selbsthilfegruppen soll in allen Phasen der Beratung und Behandlung empfohlen werden {KKP} sowie in allen Settings, in denen Menschen mit alkoholbezogenen Störungen um Hilfe nachsuchen. Analog sollen Angehörige in allen Phasen der Versorgung und Behandlung, insbesondere bereits bei der Kontaktaufnahme zu den verschiedenen Hilfesystemen, auf Selbsthilfegruppen für Angehörige und Betroffene hingewiesen werden {KKP}.

Abstinenz vs. Trinkmengenreduktion

Primäres Behandlungsziel ist (besonders bei bereits eingetretenen Folgeerkrankungen) die Alkoholabstinenz {A}. Bei entsprechender Behandlung liegen die katamnestischen Erfolge nach einem Jahr bei 25–49 %. Jedoch konnte z. B. eine bevölkerungsbezogene Untersuchung in den USA zeigen, dass die Hälfte der Personen mit behandlungsbedürftigen Alkoholproblemen trotz eigener Einsicht in die Notwendigkeit nicht bereit war, das Ziel der vollständigen Abstinenz zu akzeptieren. Vor diesem Hintergrund kam die englische Therapieleitlinie [2] zu dem Schluss, auch die Reduktion der Trinkmengen als zumindest intermediäres Therapieziel für Alkoholabhängige im Sinne einer Schadensminimierung anzuerkennen {A}.

Akutbehandlung der Alkoholabhängigkeit

Eine Alkoholintoxikation und/oder ein Alkoholentzugssyndrom stellen eine häufige Komplikation der Grunderkrankung Alkoholabhängigkeit dar. Die Rezidivraten liegen bei Begrenzung auf die Behandlung der Intoxikation und/oder des Entzugssyndroms ("körperliche Entgiftung") enorm hoch.

Daraus resultiert auch die Empfehlung, dass eine körperliche Entgiftung alleine keine hinreichende Therapie der Suchterkrankung darstellt und daher weitere suchtmedizinische Hilfen vorgehalten bzw. vermittelt werden sollen {KKP}. In der sogenannten "qualifizierten Entzugsbehandlung" wird daher die körperliche Entgiftung durch psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen zur Grunderkrankung Abhängigkeit ergänzt.

Falls keiner der in Tabelle 2 genannten Risikofaktoren und eine gute Adhärenz bestehen, kann eine ambulante Entzugsbehandlung versucht werden {KKP}. Unabdingbar sind dabei engmaschige klinische Kontrolluntersuchungen inkl. Verhaltensbeobachtung und die organisatorische Sicherstellung einer 24-h-Erreichbarkeit eines Notfalldienstes, insbesondere einer kurzfristigen Verfügbarkeit stationärer Weiterbehandlung bei Auftreten schwerer Entzugsverläufe bzw. -komplikationen. Im deutschen Versorgungssystem sollten hier die eventuell hinzugezogenen Notdienste (z. B. Kassenärztlicher Notdienst, Notärzte) über die Durchführung ambulanter Alkoholentzüge informiert sein {B}.

Pharmakotherapie im Entzug

Eine pharmakologische Behandlung dient in erster Linie dazu, die Schwere und Häufigkeit von Entzugserscheinungen bzw. Komplikationen zu reduzieren. Generell ist eine Pharmakotherapie des mittelschweren bis schweren Alkoholentzugssyndroms einer Nichtbehandlung überlegen. Verschiedene Substanzen und Substanzgruppen werden zur Reduktion von vegetativen Entzugssymptomen und zur Prävention bzw. Behandlung von Entzugskomplikationen wie Entzugskrampfanfällen oder Delirien eingesetzt.

Im ambulanten Setting sollten vorwiegend Antikonvulsiva, ggf. in Kombination mit Tiapridex® verwendet werden. Clomethiazol ist hier kontraindiziert und Benzodiazepine sollten aufgrund des Missbrauchspotenzials nur bei täglichen Behandlungskontakten mit täglicher Dosiszuteilung eingesetzt werden ( http://www.bdk-deutschland.de/images/files/ak-sucht/2013-02-08-qual_amb_entz_alk-richter-reymann.pdf ).

Antikonvulsiva (besonders Carbamazepin, Valproinsäure, Gabapentin, Oxcarbazepin) sind wirksam zur Verhinderung von Alkoholentzugsanfällen {B} und können zur (Mono-)Therapie leicht- bis mittelgradiger Entzugssymptome angewandt werden {0}. Betablocker und Clonidin eignen sich nicht zur Monotherapie, können aber begleitend bei vegetativen Entzugssymptomen verwendet werden {0}. Nicht eingesetzt werden sollten zur Entzugsbehandlung nach aktuellem Stand Baclofen {0}, GHB {B} und Alkohol {KKP}.

Im Anschluss an die Entzugsphase (Akutbehandlung) soll den Patienten eine möglichst nahtlos weiterführende Behandlung (Postakutbehandlung) angeboten werden, im optimalen Falle in Form einer Entwöhnung {KKP}. Zur nachhaltigen Rückfallprävention soll indikationsgeleitet nach einer Postakutbehandlung nahtlos eine aufeinander abgestimmte suchtbezogene Versorgung von mindestens einem Jahr angeboten werden {KKP}.

Psychotherapie alkoholbezogener Störungen

Psychotherapeutische Interventionen sind in fast jedem Stadium einer Abhängigkeit wichtig und erfolgversprechend. Eine Vielzahl von Leitlinien und systematischen Reviews belegen, dass es verschiedene, sehr wirksame Interventionen gibt, u. a. die "motivierende Gesprächsführung", die kognitive Verhaltenstherapie, die Verhaltenstherapie mit Kontingenzmanagement. Für weitere Details und Evidenzbelege muss hier aus Platzgründen auf den ausführlichen Leitlinientext verwiesen werden.

Pharmakotherapie in der Postakutbehandlung

  • Acamprosat: 19 plazebokontrollierte RCTs (N=4.629 Patienten) mit einer mittleren bis schweren Abhängigkeitserkrankung. Signifikanter, aber kleiner Effekt (RR=0.83) bezüglich der Aufrechterhaltung der Abstinenz über einen Zeitraum von 6 bis 12 Monaten.
  • Naltrexon: Der mu-Opiat-Rezeptor-Antagonist wurde in 27 RCTs (N=4.296) mit einem Plazebo und in 4 weiteren RCTs (N=957) mit Acamprosat verglichen. Es zeigten sich signifikante, jedoch kleine Effekte bezüglich des Zeitraums bis zum ersten Rückfall sowie der Anzahl schwerer Trinktage.
  • Nalmefen: Der mu-Opiat-Rezeptor-Antagonist reduzierte in 4 plazebokontrollierten RCTs (N=ca. 2.500 Patienten) die Anzahl schwerer Trinktage sowie die pro Trinktag konsumierte Menge. Er ist zugelassen zur intermediären Trinkmengenreduktion.

Fazit für die Praxis
Alkoholabhängigkeit ist eine chronische Erkrankung. Wie bei allen anderen chronischen Erkrankungen gibt es chronisch-rezidivierende oder chronisch-progrediente Krankheitsverläufe, die zur Stigmatisierung der Suchterkrankung beitragen. Die neuen S3-Leitlinien belegen, dass es evidenzbasiert wirksame Behandlungsmöglichkeiten auch bei einer Alkoholabhängigkeit gibt. Wichtig wäre, mehr Alkoholabhängige als bisher zu erkennen und anhaltend in die individuell geeigneten Angebote des Hilfesystems zu integrieren.


Literatur:
1. Rehm J., Rehm M., Shield K.D., Gmel G., Frick U., Mann K.
Decrease in alcohol-attributable mortality by treatment of alcohol dependents Sucht, 60 (2) 2014: 93-105.
2. National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) (2011) Alcohol-use disorders: Diagnosis, assessment and management of harmful drinking and alcohol dependence (CG115), UK.
Mann, Karl; Hoch, Eva; Batra, Anil; Bühringer, Gerhard; Klein, Michael; Reimer, Jens; Reymann, Gerhard; Thomasius, Rainer; Petersen, Kay Uwe: S3-Leitlinie Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen.
Springer-Verlag 2015
Mann K., Hoch E., Batra A., Bonnet U., Günthner A., Reymann G., Soyka M., Wodarz N., Schäfer M. (2015). Leitlinienorientierte Behandlung alkoholbezogener Störungen. Nervenarzt 2016: im Druck



Autor:

Prof. Dr. med. Norbert Wordarz

Zentrum für Suchtmedizin, Klinik unf Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg
93042 Regensburg

Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (7) Seite 14-17