Bei vielen Vorschulkindern kommt es, meist vorübergehend, zu Fütter- und Essproblemen. Wie man die verschiedenen Störungen voneinander unterscheidet und welche erfolgversprechenden Behandlungsstrategien es jeweils gibt, schilderte Prof. Alexander von Gontard am diesjährigen Pädiatrie-Kongress in Basel.

Geduld ist die wichtigste Voraussetzung beim Umgang mit Vorschulkindern, die Probleme mit dem Essen haben: "Es braucht etwa 50 Bissen, bis ein Kind sich an ein neues Nahrungsmittel gewöhnt", sagte Prof. Dr. Alexander von Gontard, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes. Ziel sei immer das Probieren von Nahrungsmitteln, nicht das Aufessen, betonte von Gontard.

Klinisch relevante, manifeste Ess- und Fütterstörungen sind in dieser Altersgruppe mit einer Prävalenz von 1 bis 2 % selten, Ess- und Fütterprobleme hingegen häufig. Sie betreffen zirka 25 % sich normal entwickelnder Kinder und bis zu 80 % der Kinder mit Entwicklungsstörungen oder Behinderungen. In einer Prävalenzstudie mit Vorschulkindern (Altersdurchschnitt 5,8 Jahre) wiesen 61 % ein mehr oder minder normales Essverhalten auf mit Vermeidung bestimmter Nahrungsmittel, 34 % aßen selektiv oder restriktiv und 5 % machten sich Sorgen wegen ihres Gewichts, wobei es sich in dieser letztgenannten Gruppe überwiegend um Kinder mit hohem beziehungsweise Übergewicht handelte. Klassische Essstörungen wie Anorexia nervosa, Bulimie oder Binge Eating kommen im Vorschulalter nicht vor, sagte von Gonthard.

Wie sehen die Probleme aus?

Häufigstes Problem ist, dass die Kinder selektiv essen und bestimmte Lebensmittel bevorzugen. In einer 2007 publizierten Studie gaben das rund die Hälfte der Eltern von Kindern mit Fütter- und Essproblemen an. Ebenfalls häufig ist, dass diese Kinder lieber trinken als essen (39 %), etwa jedes fünfte isst sehr langsam (23 %) oder hat kein Interesse am Essen (18 %) und eine kleine Minderheit (4 %) verweigert feste Nahrung vollständig. Die Eltern reagieren am häufigsten damit, andere Nahrungsmittel anzubieten (85 %), während des Essens mit dem Kind zu spielen (74 %) oder während der Mahlzeit das Fernsehprogramm oder ein Video laufen zu lassen (67 %). Bei Androhung von Strafen liegt das Verweigern des Desserts auf Platz 1 (55 %), gefolgt von der Maßnahme, dem Kind das Essen wegzunehmen (28 %). Bedenklich stimmen die Umfrageergebnisse in Bezug auf häusliche Gewalt: 12 % der Eltern von Kindern mit Problemen beim Essen gaben in dieser Studie an, dem Kind Prügel anzudrohen, 9 % zwangen das Kind zum Essen und 3 % schlugen ihr Kind.

Charakteristische Ess- und Fütterstörungen

Eine sinnvolle Einteilung der Fütter-/Essstörungen sei wichtig, weil sie spezifische Diagnosen und spezifische Behandlungen ermöglicht: "Das ist für die klinische Praxis hoch relevant", sagte von Gontard.

ICD10 und DSM-5 sind hierfür ungeeignet, da sie zugleich zu allgemein und zu speziell sind: In beiden Systemen werden einerseits praktisch alle Ess- und Fütterstörungen in einem Punkt subsumiert (ICD10: Fütter-/Essstörungen F98.2; DSM-5: avoidance/restrictive food intake disorder 307.59) und andererseits ganz seltene Phänomene als eigene Klasse geführt (Pica im Kindesalter F98.3; DSM-5: pica 307.52, rumination 307.53).

Eine sinnvolle Einteilung biete hingegen die Klassifizierung nach CD:0-3R (http://www.zerotothree.org), sagte von Gontard. Hier kennt man sechs Klassen von Fütter-/Essstörungen:

  1. Regulationsstörungen: Das Kind ist nicht ruhig/nicht wach genug zum Essen.
  2. Störungen der Eltern-Kind-Interaktion: Es fehlt die reziproke Kommunikation (Anschauen, Anlächeln, Lautieren/Sprechen) beziehungsweise es wird gedroht oder Zwang ausgeübt.
  3. Kindliche Anorexie: Das Kind hat keinen Appetit und ist an Essen nicht interessiert (aber an allem anderen wie Spielen, Herumlaufen etc.).
  4. Sensorische Aversion: Das Kind bevorzugt bestimmte Lebensmittel mit einem bestimmten Geschmack, einer bestimmten Beschaffenheit ("Brei ja, Krümel nein"), Temperatur oder Farbe, bis hin zu bestimmten Marken. Die Verweigerung kommt bei der Einführung neuer Nahrungsmittel vor, während die gewohnten, bevorzugten Lebensmittel problemlos weiterhin gegessen werden.
  5. Krankheitsbedingte Fütter-/Essstörungen
  6. Fütter-/Essstörungen nach Verletzungen im Mundbereich, Rachen oder Gastrointestinaltrakt (z. B. durch Reflux, Intubierung, Absaugen etc.)

Notwendige Abklärungen

Es gibt mannigfaltige pädiatrische Ursachen für Fütter- und Essstörungen bei Kindern. Hierzu gehören zum Beispiel gastroösophagealer Reflux, Frühgeburt, Fehlbildungen in Naso-Oropharynx, Larynx, Trachea oder Ösophagus, neurologische oder motorische Störungen, Allergie oder Intoleranz gegenüber Kuhmilch oder anderen Nahrungsmitteln, internistische Erkrankungen, genetische Syndrome oder chronische Behinderungen (z. B. Zerebralparase etc.).

Außerdem können Sondenernährung und frühe, negative sensorische Erfahrungen, insbesondere im Mundbereich, Fütter- und Essstörungen zur Folge haben.

Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt die psychische Konstitution der Eltern: Ängste, Depression und/oder Essstörungen der Eltern sowie andere psychische Störungen der Eltern, Verlust-, Trennungs- oder traumatische Erfahrungen, elterliche Konflikte und das Fehlen sozialer Unterstützung sind hier als Stichworte zu nennen.

Die systematische Abklärung bei Vorschulkindern mit Fütter- und Essstörungen umfasst Anamnese, Mental- und Entwicklungsstatus, pädiatrische und neurologische Untersuchung, Wiegen und Messen sowie bei Bedarf (z. B. bei Gedeihstörung) weitere medizinische Abklärungen. Hinzu kommt ein Ernährungstagebuch sowie – ganz wichtig – das Beobachten von Eltern und Kind in der Mahlzeitensituation: Videos sind hierbei sehr hilfreich.

Generelle Essensregeln
  • Regelmäßige Mahlzeiten zu bestimmten Zeiten, nur geplante Snacks sind erlaubt.
  • Es gibt nichts zwischen den Mahlzeiten außer Wasser oder ungesüßtem Tee.
  • Die Mahlzeit dauert nicht länger als 30 Minuten.
  • Das Essen wird nach 10 bis 15 Minuten weggeräumt, wenn das Kind damit zu spielen beginnt.
  • Die Mahlzeit wird abgebrochen, wenn das Kind mit dem Essen wütend herumwirft.
  • Während der Mahlzeit herrscht eine neutrale Atmosphäre, es wird kein Zwang ausgeübt.
  • Während der Mahlzeit wird nicht gespielt.
  • Essen wird nie als Belohnung oder Geschenk gegeben.
  • Es werden immer nur kleine Portionen angeboten.
  • Die feste Nahrung kommt zuerst, Getränke am Schluss der Mahlzeit.
  • Das Kind wird so weit wie möglich zum selbstständigen Essen ermutigt.
  • Dem Kind wird der Mund nur einmal abgewischt, am Ende der Mahlzeit.
  • Aufgeräumt wird auch erst am Ende der Mahlzeit. Praktischer Tipp: Unter dem Kinderstuhl ein Tuch auslegen, um einfacher aufräumen zu können.

Allgemeine und spezifische Maßnahmen

Beratung und Information der Eltern gehören selbstverständlich immer dazu, aber auch die Ernährungsberatung sei sehr wichtig, sagte von Gontard. Bei motorischen Problemen kann eine logopädische Therapie helfen. Eine Video-basierte Eltern-Kind-Psychotherapie in der Fütter-/Esssituation, Elterntraining, Eltern-Kind-Interaktionstraining (PCIT) oder schrittweises Esstraining mit speziell ausgebildetem Pflegepersonal sind Spezialisten beziehungsweise stationären Einrichtungen vorbehalten.

Auch in der Praxis durchführbar ist der "Hungerversuch" (das Kind bekommt genug zu essen, aber nur zu bestimmten Zeiten) sowie das Einhalten genereller Essensregeln. Sie sind die Grundlage jeglicher Therapie bei Fütter- und Essstörungen, betonte von Gontard. Es handelt sich dabei um eine Liste scheinbarer Selbstverständlichkeiten, die im Alltag vieler Familien jedoch keineswegs selbstverständlich sind (vgl. Kasten S. 62). Darüber hinaus ist wichtig, dass alle Bezugspersonen sich gleichermaßen konsequent verhalten (auch Großeltern, Tante, Onkel usw.).

Die spezifischen therapeutischen Strategien sehen gemäß der oben genannten Klassen folgendermaßen aus:

  1. Regulationsstörungen: Reize, Stimulation während des Essens regulieren; Eltern für die Bedürfnisse des Kindes sensibilisieren; Fütter- und Trostverhalten optimieren; notfalls nasogastrale Ernährung.
  2. Störungen der Eltern-Kind-Interaktion: Eltern-Kind-Interaktionspsychotherapie; Elterntherapie bei psychischen Problemen der Eltern, bei Vernachlässigung/Deprivation/Misshandlung des Kindes stationäre Einweisung; soziale Dienste einschalten, Pflege unterstützen.
  3. Kindliche Anorexie: Beratung und Information der Eltern, Verständnis wecken für das Temperament der oft sehr lebhaften Kinder; klare Strukturen und Regeln im Alltag; geregelte Essenszeiten und generelle Regeln (vgl. Kasten); kleine Portionen; das Kind muss am Tisch sitzen bleiben, bis die Mahlzeit beendet ist; keine Spiele während der Mahlzeiten; gegebenenfalls Verhaltenstherapie.
  4. Sensorische Aversion: entspannte Atmosphäre beim Essen, Vermeiden dysfunktionaler Kommunikation; den Kindern Vorbild sein; schrittweise Einführung neuer Nahrungsmittel; kleine Portionen versuchen lassen; gegebenenfalls Verhaltenstherapie.
  5. Krankheitsbedingte Fütter-/Essstörungen: Behandlung der Grunderkrankung; Strategien an das Stressempfinden des Kindes anpassen; trösten; notfalls nasogastrale Sonde.
  6. Fütter-/Essstörungen nach Verletzungen: systematisches, schrittweises Heranführen an die angstbesetzten Objekte (z. B. Stuhl, Flasche, Löffel, Nahrungsmittel); Lieblingsnahrungsmittel zuerst geben; Verhaltenstherapie; Angststörungen/Depression behandeln; notfalls nasogastrale Sonde.


Renate Bonifer

Quelle: Vortrag von A. Gontard: "Fütter- und Essstörungen bei jungen Kindern". fPmh-Symposium: Keynote Lectures fPmh. 3. Gemeinsamer Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaften für Pädiatrie (SGP), Kinderchirurgie (SGKC) sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (SGKJPP). Basel, 12. bis 13. Juni 2014

Genehmigter und bearbeiteter Nachdruck aus Pädiatrie 4/2014, S. 8


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (16) Seite 61-64