Fernsehsendungen, in denen Menschen über ungewöhnliche Sexpraktiken berichten, zeichnen das Bild einer "sexuell befreiten" Gesellschaft. Der Blick in den Alltag von Hausärzten zeigt jedoch etwas anderes: Über Themen wie Geschlechtskrankheiten wird kaum gesprochen. Die Auseinandersetzung mit eigenen Vorurteilen, eine verständliche Sprache und eine strukturierte Gesprächsführung kann Ärzten helfen, eine Gesprächsbrücke zu bauen und so Sprachlosigkeit zu überwinden.

Gespräche über Sexualität fallen Ärzten und Patienten oft gleichermaßen schwer. Ärztliche Fragen sollten deshalb Offenheit ausdrücken und dem Gegenüber gleichzeitig die Möglichkeit geben, über die Tiefe der Antwort selbst zu entscheiden.

Anlässe, die ein Gespräch über Sexualität ermöglichen:

  • direkt geäußerter Patientenwunsch
  • indirekt geäußerter Patientenwunsch ("Ich wollte mal wegen einer Freundin fragen …")
  • Diagnose einer HIV-Infektion oder einer anderen sexuell übertragbaren Infektion
  • organische oder psychische Erkrankungen, die Auswirkungen auf die Sexualität haben (z. B. Testosterondefizit, koronare Herzkrankheit, Depression, Suchterkrankung)
  • Medikamente mit unerwünschten Wirkungen, die sich auf die Sexualfunktion auswirken (z. B. Antidepressiva/SSRI, Betablocker)

In einer vertrauensvollen Arzt-Patient-Beziehung können aber durchaus auch einmal ohne konkreten Anlass einige Basisfragen zur sexuellen Gesundheit gestellt werden. Patienten scheinen einem Gesprächsangebot ihres Arztes zu Fragen der sexuellen Gesundheit in den meisten Fällen eher positiv gegenüberzustehen. Eine Befragung von Patienten zweier Kliniken in Lausanne ergab, dass 90,9 % der Befragten sich wünschen, dass ihr Arzt sie zu Fragen der sexuellen Gesundheit berät [6].

In einem anderen Kontext kam eine Arbeitsgruppe der Medizinischen Hochschule Hannover zu einem vergleichbaren Ergebnis [2]. Über 10 000 männliche Patienten füllten einen Fragebogen aus, der sexuelles Verhalten und Potenzprobleme thematisierte. Die Auswertung zeigte, dass mehr als 2/3 der Befragten es als positiv erlebten, mit ihrem Arzt über das Thema "Sexualität" ins Gespräch zu kommen.

Let‘s talk about sex
Die Deutsche AIDS-Hilfe e. V. entwickelte auf Basis einer Studie der Uni Bayreuth [4] gemeinsam mit Kooperationspartnern (DAGNÄ, DAIG, BZgA, DSTIG, Kompetenznetz HIV/AIDS) ein spezifisches Weiterbildungsangebot für Ärztinnen und Ärzte. Unter dem Titel "Let‘s talk about sex" vermitteln erfahrene Ärzte und Psychologen in Workshops nicht nur aktuelles Wissen zu HIV und STIs, sondern auch ganz praktisch, wie Gespräche über sexuelle Gesundheit geführt werden können. Seit Herbst 2010 wurden bundesweit rund 80 Workshops durchgeführt. Ärztliche Qualitätszirkel, Medizinische Versorgungszentren oder Veranstalter von Fachtagungen können bei der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. Workshops kostenfrei buchen. Informationen über alle Angebote finden sich unter: http://www.aidshilfe.de/aerztefortbildung

Homo- und bisexuelle Männer und Frauen

Das Wissen um die sexuelle Orientierung bzw. um das Sexualverhalten hilft, Risiken besser einschätzen zu können, aktiv HIV-/STI-Diagnostik anzubieten und "an den richtigen Stellen" zu suchen: Ein Screening auf Chlamydien oder Gonokokken z. B. wird zielführender, wenn bekannt ist, ob Vaginal-, Anal- oder Oralverkehr praktiziert wird. Da homo- und bisexuelle Männer häufiger von sexuell übertragbaren Infektionen betroffen sind, ist es auch hilfreich zu wissen, ob ein Patient eher mit Frauen oder mit Männern Sex hat.

Viele homo- oder bisexuelle Männer thematisieren ihre sexuelle Orientierung von sich aus nicht [1, 5]. In einer Befragung von Männern, die Sex mit Männern haben (MSM) (n= 4 385), gaben auf die Frage, weshalb sie bei Symptomen einer STI nicht zum Arzt gingen, 44 % "Scham" als Hauptgrund an. 37,5 % der Befragten empfinden, mit ihrem Arzt oder ihrer Ärztin nicht über sexuelle Orientierung sprechen zu können [7].

Auch auf ärztlicher Seite gibt es Barrieren. Eine britische Befragung von Ärzten zeigte, dass vielen die Lebenswelt von Schwulen und Lesben oft unverständlich ist. Die qualitative Studie zeigt jedoch auch, dass ein gezieltes Aufgreifen von Sprachcodes dieser Patienten einen Weg aus der Sprachlosigkeit darstellen kann [3].

Rund 3 400 Menschen, so schätzt das Robert Koch-Institut, infizieren sich in Deutschland jährlich mit dem HI-Virus. Männer, die Sex mit Männern haben, stellen mit 74 % die größte Gruppe bei den HIV-Neudiagnosen. Neben anonymen Testangeboten in Aidshilfen, Aidsberatungsstellen und Gesundheitsämtern ist die hausärztliche Praxis ein wichtiger Ort für frühzeitige Diagnostik und Prävention. Viele Männer, die Sex mit Männern haben, gehen zunächst zu ihrem Hausarzt, wenn sie befürchten, eine STI zu haben [7].

HIV-/STI-Risikoanamnese

Sexuell übertragbare Infektionen (STIs) werden oft nicht erkannt – wie etwa HIV: Rund die Hälfte aller HIV-Neudiagnosen wird in Deutschland bei sogenannten "Late-Presentern" gestellt, d. h. also erst dann, wenn eine HIV-Therapie längst hätte begonnen werden müssen [8].

Da HIV und einige andere STIs symptomlos verlaufen können und auf der anderen Seite einige Patienten Übertragungsrisiken auch überängstlich überschätzen, ist eine Risikoanamnese empfehlenswert, anhand derer Übertragungsrisiken geklärt werden können, um zu erkunden, welche Diagnostik sinnvoll ist. Zudem können dabei auch passende Informationen zur Prävention kommuniziert werden.

Sexualität und Sprache
  • Achten Sie darauf, welche Begriffe der Patient zur Beschreibung von Sexualität und Beziehungen benutzt und versuchen Sie, offen für die Vielfalt der Sexualität zu bleiben. So versteht der eine Patient unter "Sex" oder "Geschlechtsverkehr" vielleicht eindringenden Vaginalverkehr, der andere Analverkehr und ein dritter gemeinsames Masturbieren.
  • Ob Sie nun "Fellatio", "Oralverkehr", "Französisch" oder "Blasen" sagen: Stellen Sie sicher, dass Ihr Gegenüber versteht, was Sie meinen, aber "verbiegen" Sie sich nicht, indem Sie Bezeichnungen Ihrer Patienten übernehmen, mit denen Sie sich selbst unwohl fühlen.
  • Fragen Sie nach, wenn Ihnen unklar ist, was z. B. mit "untenrum" oder "intensiv gestreichelt" gemeint ist oder wenn diffus von "Rummachen" gesprochen wird. In der Regel finden Menschen es gut, wenn ihr Gegenüber ehrliches Interesse zeigt.
  • Bei Verständigungsproblemen kann der Einsatz von Bildmaterial und Grafiken die Beratung unterstützen.

1. Situations-Check

Bevor Sie ein Gespräch beginnen, fragen Sie sich, ob Sie gerade offen für das Thema sind. Haben Sie ausreichend Zeit? Ist der Ort des Gesprächs angemessen? Wenn Sie die Fragen mit Ja beantworten, können Sie starten.

2. Kontext herstellen

Patienten den Hintergrund des Gesprächs erläutern (z. B. die Diagnose einer sexuell übertragbaren Infektion). Wenn Sie eine Sexualanamnese standardmäßig anbieten, könnte auch folgender Einstieg möglich sein: "Ich werde Ihnen jetzt einige Fragen rund um Ihre sexuelle Gesundheit stellen. Ich stelle diese Fragen allen Patienten, unabhängig von ihrem Alter und Geschlecht und unabhängig davon, ob sie in einer Partnerschaft leben."

3. Hinweis zur Vertraulichkeit

Den Patienten explizit darüber informieren, dass alle Gesprächsinhalte der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen.

4. Die drei P-Fragen

Um Risiken für eine HIV-/STI-Übertragung richtig einschätzen zu können, sollte auf die "drei P" (Partner, Praktiken, Prävention) eingegangen werden.

a. PARTNER

Frage nach der Partnerzahl, da sich bei häufig wechselnden Partnern das Risiko für eine sexuell übertragbare Infektion erhöht.

  • "Um Ihre Gesundheitsrisiken richtig einschätzen zu können, wäre es hilfreich für mich zu wissen, ob Sie im vergangenen Jahr mit unterschiedlichen Partnerinnen oder Partnern Sex hatten."
  • Wenn Sie Ihre Frage in einen Aussagesatz verpacken, ist das oft weniger konfrontativ und lässt dem Patienten die Möglichkeit, auch nicht zu antworten.
  • "Haben Sie eher Sex mit Männern oder mit Frauen?" oder "Leben Sie in einer Ehe oder eingetragenen Partnerschaft?" (Mit dieser Frage signalisieren Sie Ihrem Gegenüber, dass Sie sich grundsätzlich beides vorstellen können. Ihr Patient kann dann auf seine sexuelle Orientierung eingehen, muss es aber nicht – nicht jeder Mann zum Beispiel, der gelegentlich Sex mit Männern hat, versteht sich selbst als homosexuell, schwul oder bisexuell.)

b. PRAKTIKEN

Bestimmte Praktiken sind mit einem erhöhten HIV-/STI-Risiko verbunden, aber nicht immer verstehen Menschen z. B. unter "miteinander schlafen" dasselbe.

  • "Welche Art von sexuellen Kontakten haben oder hatten Sie?"
  • "Was meinen Sie mit ‚nur ein bisschen rumgemacht‘?"
  • "Sie wünschen einen HIV-Test, da Sie meinen, ein Risiko gehabt zu haben. Was ist denn genau passiert?"

c. PRÄVENTION

Das Vorliegen einer sexuell übertragbaren Infektion kann einen Hinweis darstellen, dass es auch ein Risiko für eine HIV-Infektion gibt.

  • "Wie gut kennen Sie sich mit dem Schutz vor sexuell übertragbaren Infektionen aus?"
  • "Haben Sie Fragen zum Schutz vor HIV oder anderen sexuell übertragbaren Infektionen, die Sie mir gerne stellen würden?"
  • "Haben Sie sich schon mal auf andere sexuell übertragbare Infektionen untersuchen lassen? Würden Sie das heute gerne machen?"

5. Gesprächsabschluss

Beratungsinhalte kurz zusammenfassen, einen emotionalen Abschluss schaffen und ggf. auf Angebote regionaler Beratungsstellen (Sexualberatungsstellen, Aidshilfen, Schwulen- und Lesbenberatungsstellen) verweisen.


Literatur:
1) Eliason MJ, Schope R. Does "Don’t ask don’t tell" apply to health care? Lesbian, Gay, and Bisexual people’s disclosure to health care providers. Journal of the Gay and Lesbian Medical Association 2001; 5(4): 125-34.
2) Hartmann U, Burkart M. Erectile dysfunctions in patient-physician communication: optimized strategies for addressing sexual issues and the benefit of using a patient questionnaire. J Sex Med. 2007. Jan;4(1): 38-46.
3) Hinchliff S, et al. ‚I daresay I might find it embarrassing‘: general practitioners‘ perspectives on discussing sexual health issues with lesbian and gay patients. Health Soc Care Community. 2005 Jul;13(4): 345-53.
4) Loss, J./Wolf, A. 2009: Projekt zur Erforschung und Entwicklung von HIV- und STD-Präventionsstrategien für MSM in der ärztlichen Praxis. Abschlussbericht zur qualitativen Datenerhebung. Hg. vom Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth
5) Meckler GD, Elliott MN, Kanouse DE, Beals KP, Schuster MA. Nondisclosure of Sexual Orientation to a Physician Among a Sample of Gay, Lesbian, and Bisexual Youth. Arch Pediatr Adolesc Med. 2006; 160: 1248-1254
6) Meystre-Agustoni G, Jeannin A, de Heller K, Pécoud A, Bodenmann P, Dubois-Arber F. Talking about sexuality with the physician: are patients receiving what they wish? Swiss Med Wkly. 2011 Mar 8;141:w13178. doi: 10.4414/smw.2011.13178
7) Schmidt, Axel J., Marcus, U. 2011. Self-reported history of sexually transmissible infections (STIs) and STI-related utilization of the German health care system by men who have sex with men: data from a large convenience sample. BMC Infectious Diseases 2011, 11:132
8) Zoufaly A, An Der Heiden M, Marcus U, Hoffmann C, Stellbrink HJ, Voss L, Van Lunzen J, Hamouda O (2012): Late presentation for HIV diagnosis and care in Germany. HIV Medicine 13 (3): 172-181. Epub 2011 Nov 7. DOI: 10.1111/j.1468-1293.2011.00958.x



Dipl.-Psych. Steffen Taubert, Berlin

Leiter des Projektes "HIV-/STI-Prävention in der Arztpraxis".
Deutsche AIDS-Hilfe e. V.
10967 Berlin

Gabi Jung
Ärztin und Gesundheitswissenschaftlerin (MPH)
Freie Dozentin und systemische Beraterin
10967 Berlin

Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (5) Seite 14-17