Akute Notfälle stellen zum Glück nur selten eine Herausforderung in der hausärztlichen Praxis dar. In ihrer Seltenheit liegt jedoch auch ein besonderes Problem: Praxisteams ohne Routine in der Notfallversorgung werden ohne Vorwarnung mit vital gefährdeten Patienten konfrontiert. Und oft entscheiden die „goldenen ersten zehn Minuten“ über Wohl und Wehe des Patienten. Auch der beste Rettungsdienst, die beste Klinik kann eine gute Notfallversorgung der ersten Minuten nicht ersetzen.

Der Autor ist Allgemeinarzt und leitet einen großen Rettungsdienst. Die folgenden Fallbeispiele sollen anhand echter Notfallsituationen vor typischen Fallstricken warnen und Hilfestellung geben für besonnenes hausärztliches Handeln in kritischen Situationen.

Fall 1

Auf dem Parkplatz vor Ihrer Praxis sitzt ein Patient in seinem Fahrzeug und klagt über Schwindel und Übelkeit. Ihr Team kann den 60-jährigen Diabetiker nur mit Mühe in die Praxis bringen. Erster Eindruck: krank wirkender, blasser Patient, der zwei Stunden zuvor sein Morgeninsulin gespritzt hat und nun schweißnass und kollaptisch auf Ihrer Untersuchungsliege Hilfe braucht. Ihre Vermutung: Hypoglykämischer Schock! Die Blutzuckermessung ergibt 212 mg/dl - keine Unterzuckerung.

Der Blutdruck beträgt 90 mmHg systolisch, der Puls ist regelmäßig. Das Pulsoximeter zeigt eine Sauerstoffsättigung von 88 %. Zum Glück erinnern Sie sich: Zuckerkrank, Übelkeit, Schwindel und Ausschluss Hypoglykämie bedeutet Verdacht auf Myokardinfarkt. Viele Diabetiker empfinden wegen ihrer Polyneuropathie den „typischen Infarktschmerz“ eben nicht. Das sofort geschriebene Zwölfkanal-EKG bestätigt: Ausgedehnter ST-Streckenhebungsinfarkt, alles spricht für einen kardiogenen Schock. Sie rufen den Notarzt und versorgen den Infarktpatienten nach den aktuellen Leitlinien (Übersicht 1).

Vorsicht: Der typische Infarktschmerz kann bei Diabetikern und Frauen fehlen.

Fall 2

Im Bereitschaftsdienst klingelt nachts das Telefon: „Herr Doktor, mein Mann hat Asthma und kriegt schwer Luft !“ Salbutamolspray hat der Patient zu Hause, außerdem inhaliert er Beclometason und nimmt niedrigdosiertes Prednisolon. Der Arzt gibt den Rat, zunächst einmal zwei Hübe Salbutamol zu inhalieren und sich erneut zu melden, falls die Beschwerden sich nicht bessern. Drei Stunden später ruft der Notarzt an: Der Patient ist im Asthmaanfall erstickt, die Reanimation verlief erfolglos.

Vorsicht: Wenn Asthmapatienten anrufen, haben sie meist schon reichlich inhaliert. Seien Sie großzügig mit Hausbesuchen, überzeugen Sie sich persönlich vom Zustand des Patienten. Notfallversorgung nach Leitlinie (Übersicht 2). Bei Risikofaktoren für einen tödlichen Asthmaanfall (Übersicht 3): Sofort Notarzt rufen und stationäre Behandlung!

Fall 3

Gerade ist eine 20-jährige Patientin von einer Wespe gestochen worden. Beim Eintreffen in Ihrer Praxis klagt sie über Atemnot, man hört einen inspiratorischen Stridor. Die junge Frau ist übersät mit heftig juckenden Quaddeln, die Lippen sind angeschwollen. Der Puls beträgt 124/min, der Blutdruck 80/60 mmHg. Ihre Diagnose: Anaphylaxie ! Jetzt zählt jede Sekunde - in wenigen Minuten kann sich die Symptomatik bis hin zu Atem- und Kreislaufstillstand verschlechtern. Die Haut ist grau, kühl und feucht - bei dem bestehenden Schockzustand ist die Anlage eines venösen Zugangs schwierig und zeitraubend. Das einzige lebensrettende Medikament mit schnellem Wirkungseintritt ist Adrenalin. Beim anaphylaktischen Notfall wird es als erste Maßnahme intramuskulär gespritzt, in die fettarme Muskulatur der Oberschenkelaußenseite. Die richtige Dosis für Erwachsene beträgt 0,5 mg Adrenalin, das entspricht einer halben Ampulle. Die verbleibenden 0,5 mg nicht verwerfen, Sie werden sie in wenigen Minuten brauchen, wenn die Wirkung der ersten Dosis abgeklungen ist. Haben Sie das Adrenalin intramuskulär gegeben, haben Patientin und Sie „Luft“ für die Venenpunktion und die Gabe weiterer Medikamente (Übersicht 4).

Vorsicht: Die üblichen Antiallergika wirken zu schwach, zu spät oder gar nicht im anaphylaktischen Schock: Antihis­ta­minika bekämpfen nur die Hautsymptome und Juckreiz, Kortison schlägt erst nach 20 Minuten an. Nur Adrenalin wirkt schnell genug gegen Schock und Anschwellen der Atemwege!

Fall 4

Ihre vierjährige Patientin war vor zwei Tagen mit einem hochfieberhaften Infekt in der Sprechstunde. Ihre Kollegin hatte gerötete Trommelfelle gesehen und Amoxi­cillinsaft verordnet. Nun stellt die besorgte Mutter das Mädchen noch einmal vor: Das Fieber ist noch nicht gesunken, und die Kleine hat einen Hautausschlag bekommen. Sie untersuchen das krank wirkende Kind und finden zahlreiche kleine livide Flecken auf der Haut. Der entscheidende Versuch: Die Flecken verblassen auf Druck nicht, bleiben unverändert. Ihr Verdacht: Sepsis ! Jetzt geht es um Zeit. Nur schnellstmögliche hochdosierte intravenöse Antibiotikagabe kann das Kind retten, vor Tod oder schwerer Behinderung bewahren (Übersicht 5).

Vorsicht: In Deutschland sterben mehr Kinder an Sepsis als durch Verkehrsunfälle. Und viele Hundert erleiden Dauerschäden durch zu späte Diagnosestellung. Untersuchen Sie kranke hochfiebernde Kinder immer von Kopf bis Fuß. Wenn Sie Flecken nicht wegdrücken können: Petechien und Fieber bedeuten immer hochgradigen Verdacht auf Sepsis.


Interessenkonflikte:
keine deklariert

Dr. med. Klaus-Gerrit Gerdts


Kontakt:
Dr. med. Klaus-Gerrit Gerdts
Facharzt für Allgemeinmedizin - Notfallmedizin - Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin
27478 Cuxhaven

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2012; 34 (2) Seite 38-40