Wenn es um ein zukunftsfestes Gesundheitssystem geht, taucht immer öfter ein Schlagwort auf: Telemedizin. Das klingt nach Modernität und Fortschritt und ist besonders bei Politikern beliebt. Aber was ist an den Verheißungen dran?

Um Telemedizin wird ein Riesenhype gemacht, obwohl sie den Behandlungsnotwendigkeiten und Patientenwünschen oft nicht gerecht wird. Von wenigen Ausnahmen abgesehen gibt es kaum sinnvolle Telemedizinprojekte. Krankenkassen mussten bereits feststellen, dass derartige Projekte viel Geld verschlingen, aber weder ihren medizinischen Sinn erfüllen noch sich wirtschaftlich rechnen. Telemedizin wird nur propagiert, um "Versorgungslücken" etwa aufgrund von Ärztemangel zu schließen und um die IT-Industrie glücklich zu machen.

Besonderes Augenmerk gilt der Telekonsultation per Video. Sollte dies für Patienten und Ärzte hilfreich sein, wird sie sich etablieren. Aber nur in einem freien Markt, denn wie aus gut informierten Kreisen zu hören ist, liegen die geplanten Kassenhonorare im Bereich eines 1-Euro-Jobs – wie für die Erstellung des Medikationsplans. Und klar sollte auch sein: Videosprechstunden ersetzen keinen einzigen Arzt, weil der Arzt, der die Videosprechstunde macht, nicht gleichzeitig in der realen Sprechstunde Patienten behandeln kann.

Vor allem ein Erstkontakt mit einem Patienten via elektronische Medien kann auch nicht mehr leisten, als die Frage zu beantworten, wie dringend ein Patient die richtige Diagnose und Behandlung braucht. Von Behandlung via Telemedizin kann gar nicht die Rede sein. Das ärztliche Berufsrecht schreibt im Übrigen bei jeder ärztlichen Behandlung einen persönlichen physischen Erstkontakt vor, der Arzt muss den Patienten also mindestens einmal gesehen haben. Das ist ausgesprochen sinnvoll und sollte so bleiben – auch wenn seit vielen Jahren Lobbyisten der Industrie versuchen, diese Bestimmung abschaffen zu lassen.

Letztlich basiert doch die Arzt-Patienten-Beziehung auf dem persönlichen Kontakt. Langjährige Begleitung und Kenntnis der Lebensumstände eines Patienten sowie die Möglichkeit zur psychosozialen Beratung und Intervention sind Erfolgsfaktoren bei der Behandlung. Die Fernbehandlung dagegen schafft Distanz und schränkt die Möglichkeiten des Arztes ein, die Krankengeschichte möglichst vollständig zu erfassen sowie Erkenntnisse aus dem unmittelbaren Verhalten des Patienten zu gewinnen. Aber noch wichtiger ist, dass der Patient in der Videosprechstunde nicht körperlich untersucht werden kann und sich keine ersten diagnostischen Maßnahmen wie etwa eine Blutentnahme durchführen lassen – dadurch könnten sich die Diagnosestellung und schließlich die Behandlung verzögern.



Autorin:

Silke Lüder

Fachärztin für Allgemeinmedizin und Hausärztin in Hamburg
Stellvertretende Bundesvorsitzende der Freien Ärzteschaft e.V.

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (6) Seite 03