Die Diagnose „Allergie“ wird häufig von Patienten gut akzeptiert – sie ist quasi in Mode. Dieser Umstand trägt dazu bei, dass Ärzte, die sich eingehend mit allergologischer Diagnostik beschäftigt haben, dazu neigen, unklare Befindlichkeitsstörungen mit diesem „Label“ zu versehen. Wie es dazu kommen kann und auf welche Fallstricke man ansonsten auf diesem Gebiet achten muss, schildert ein Allergologe aus eigener Erfahrung.

Menschen machen Fehler. Der konkrete Fehler ist aber stets ein sehr persönliches „Werk“. Daher wird dieser Beitrag teilweise in der Ich-Form geschrieben. Zugrunde liegen eigene (und einige beobachtete) Fehler aus meiner Praxistätigkeit von 1977 bis 2004.

In der Vorbereitung zum Staatsexamen hatte ich mit Freude das Buch von R. Hegglin zur Differenzialdiagnostik Innerer Krankheiten studiert. Hegglin greift das Thema „Fehler“ auf. Ursachen von Fehldiagnosen sind danach vor allem:

  1. Kenntnismangel
  2. ungenügende Anamnese
  3. mangelhafte Untersuchungstechnik
  4. Zeitmangel
  5. mangelnde Zurückhaltung sowie allgemeine (menschliche) Schwächen bei eigenen differenzialdiagnostischen Überlegungen, z. B.

  • vorgefasste Meinungen, Rechthaberei und Eitelkeit
  • Schwarzseherei oder notorischer Optimismus
  • affektive Bindung an den Patienten oder an sein Umfeld
  • Bemühungen, besonders interessante Diagnosen zu stellen
  • Begeisterung über erworbene eigene Fertigkeiten.

Fehler beim Provokationstest

Ich beginne mit einem frühen Fehler: Ich war noch nicht lange niedergelassen und bemühte mich, mir ein gewisses „Standing“ bei den regionalen Kollegen zu erarbeiten. An einem Mittwochvormittag gegen 10:30 Uhr erschien ein Herr mittleren Alters, um sich Medikamente verschreiben zu lassen, die ihm aktuell nach Entlassung aus der Klinik aufgegeben wurden. Beim Verabschieden an der Tür entspann sich folgender Dialog: Ich: „Das ist doch jetzt das 3. oder 4. Mal, dass Sie wegen schweren Asthmas in kurzer Frist in die Klinik mussten. Wie kam es jetzt dazu, was haben Sie beim letzten Ereignis direkt zuvor gemacht?“ Er: „Ich hatte wieder mal Hexenschuss und nahm deswegen eine Schmerztablette, bald danach bekam ich sehr starkes Asthma.“

Mir ging ein Licht auf, Aha! Ich: „Hätten Sie heute Zeit, dass wir noch schnell eine Untersuchung, eine Testung vornehmen?“ Er: „Klar, ich bin ja krankgeschrieben.“ Ich gab ihm ein Plazebo und bat ihn, unten im Bistro einen Kaffee zu trinken und in einer halben Stunde wieder in der Praxis zu erscheinen. Nach einer halben Stunde kam er wieder. „Wie geht es?“ - „Sehr gut!“ Nun gab ich ihm eine Tablette ASS 100 mg und entließ ihn wieder in das Café.

15 Minuten später präsentierte sich der Herr aschgrau, mit vernichtender Luftnot, maximal überbläht, silent chest. Die Verdachtsdiagnose „Aspirininduziertes Asthma“ war mit höchster Brisanz bestätigt. Mein eng verplanter freier Mittwochnachmittag musste umgewidmet werden. Gegen 17:00 Uhr konnte der Patient in leidlich stabilem Zustand von seiner Ehefrau abgeholt werden.

Was war falsch gelaufen?

Von den Hegglin-Kriterien zum Fehlermachen trafen gleich mehrere zu. An erster Stelle nenne ich die

  1. Eitelkeit (ich habe die Diagnose gestellt, Ihr - die Klinik - habt sie mehrfach übersehen). Hinzu kommen
  2. „Zeitmangel“ (eine Untersuchung zwischen Tür und Angel, hineingepresst in einen späten Mittwochvormittag),
  3. Kenntnismangel und mangelhafte Untersuchungstechnik (ich hatte zuvor selten orale Provokationen gemacht, die Verumdosis hätte bei maximal 10 mg beginnen sollen, und dies wohl besser stationär), somit
  4. mangelnde Zurückhaltung.

Dieser Fall hat mich lange beschäftigt.Der hier verfügbare Raum zur Darstellung von Fehlern erlaubt es mir, einige weitere Fehler stichwortartig zu präsentieren. Vorweg dazu eine Volksweisheit: Es ist unglaublich, was alles wie ein Nagel aussieht, wenn man einen Hammer hat.

Die Allergologie wurde mein Hammer

Für junge Mediziner ist es oft ein Zufall, dass sie sich mit Allergologie beschäftigen. Zunächst fand ich dieses Fach extrem langweilig. Bald lernte ich, wie spannend vor allem das Spüren nach Zusammenhängen (= Anamnese) ist und welch segensreiche Folgerungen sich aus einer soliden Diagnostik ergeben. Ich wurde mit der Allergologie vertraut, bald war die Allergologie „mein Hammer“!

Von der Möglichkeit zur Realität

Vielfache Arten von (Befindlichkeits-) Störungen wurden von mir mit dem Verdacht auf Allergie belegt, bei den Patienten fand dies sehr große und lobende Akzeptanz. Das Kausalitätsbedürfnis von Patient und Arzt wird hiermit bedient, zudem ist „Allergie“ gut vorzeigbar und als Begriff in Mode. Wenn es mit dem Allergienachweis nicht so recht klappen wollte, so wurde doch eine Allergie „für möglich“ gehalten oder zumindest „nicht ausgeschlossen“. Eine abstrakte Möglichkeit verdichtete sich unversehens bei Arzt und Patient zur Realität.

Auch Überdiagnostik ist ein Fehler

Es ist ein Fehler, eine Allergie zu übersehen. Aber es ist auch ein Fehler, einem Menschen eine Allergie anzudiagnostizieren. Nicht nur einst bei mir, auch andernorts und aktuell meine ich, dies zu beobachten. In der Homepage einer bekannten Selbsthilfe-Organisation lesen wir: „Rund 30 % der Bevölkerung leiden an einer allergischen Erkrankung - Tendenz steigend. Zunehmend betroffen sind auch Kinder, mindestens jedes Fünfte entwickelt eine Allergie.“ Bei aller Akzeptanz einer generellen und tendenziell zunehmenden Häufigkeit, diese Aussage kann ich nicht teilen. Könnte es so sein, dass Ärzte und Berufsverbände bei solchen Häufigkeiten den „Nagel“ sehen, der zu ihrem „Hammer“ passt?

Allergie - was heißt das?

Auf was man nicht alles „allergisch“ ist: auf das Wetter, die Politik, das Essen im China-Restaurant, die Pillen, die man morgens einnehmen soll usw. Der Begriff „Allergie“ wird umgangssprachlich weit genutzt, im medizinischen Sinne ist er aber klar und eng definiert:

„Allergie, eine Überreaktion des Immunsystems gegenüber ansonsten harmlosen Auslösern (= Allergenen), dies mit klinisch bedeutsamen Folgen“.

Es bedarf somit zweier Eckdaten:

  1. Nachweis einer immunologischen Pathogenese (in praxi weit überwiegend durch IgE-Antikörper ausgelöst) und
  2. eines damit verbundenen relevanten klinischen Problems.

Ohne plausible Klinik keine Allergie

Der Antikörper-Nachweis wird über Hauttests und/oder über Labortests angestrebt. In der Allgemeinpraxis sind zum Nachweis einer Allergie vom Soforttyp (Typ I) z. B. Pricktests und/oder RAST bzw. IgE-ELISA-Tests (auch als Streifentest, z. B. Allergodip) hilfreich. Ein häufiger Fehler ist es, aus einem positiven Testresultat eine „Allergie“ zu diagnostizieren.

Wenn die dazugehörige Klinik eindeutig ist, ist solch ein diagnostischer Schluss zutreffend. Beispiel:

  • positiver Test auf Katze und klare Symptomatik bei Kontakten
  • klare Reaktion auf Birke und Heuschnupfen/Asthma zur Frühjahrszeit.

Bei vielen Allergenen ist eine solch klare anamnestische Korrelation nur unsicher oder nicht möglich. Beispiel: Hausstaubmilbe, spezielle Schimmelpilzallergene, aber auch Beifuß, welcher zeitgleich zu den Gräsern blüht. In diesen Fällen helfen nasale und/oder bronchiale Provokationstests weiter. Letztere sind i. A. allergologisch ausgewiesenen Schwerpunkt-Praxen vorbehalten. Auch die Stärke der Testreaktion (hoher Titer, große Quaddel) ändert nichts an dieser Aussage.

Heuschnupfen, Asthma oder Nesselsucht sind „anerkannte klinische Allergie-Phänomene“. Vielfach werden jedoch weitere Ereignisse und Befindlichkeitsstörungen auf allergische Ursachen zurückgeführt. Beispiel: Müdigkeit, depressive Stimmung, Übergewicht, Haarausfall, Schmerzen u. v. a. Dies öffnet Tür und Tor für reichliche spekulative, teils sehr kontroverse Annahmen. Neben der IgE-vermittelten Sofortreaktion werden auch IgG-vermittelte Spätreaktionen ins Feld geführt. Letztere werden vor allem bei vermuteten Nahrungsmittelallergien in großer Zahl bestimmt (270 Allergene, Privatliquidation, keine Kassenleistung).

Vorsicht vor „alternativen Allergietests“

Allergologische Fachgesellschaften lehnen mit gutem Grund solche Teste ab. Dem schließe ich mich aus voller Überzeugung an. Die Bestimmung von spezifischen IgG- oder IgG4-Antikörpern ist zur Diagnostik von Nahrungsmittelallergien nicht geeignet.

Gleiches trifft auch für weitere „alternative“ Test- und Behandlungsmethoden zu, z. B. autohomologe Immuntherapie, Bach-Blütentherapie, Bioresonanz, Pendeln, Eigenblutbehandlung, Elektroakupunktur, Kinesiologie, Haarmineralstoffanalyse.

Kein „blindes“ Vertrauen!

Es gibt in Deutschland etwa 20 kommerzielle Anbieter von Allergenen zur Bestimmung mittels RAST oder ELISA. Alle haben etwa 400 - 500 Allergene im Angebot. Dabei sind echte Exoten, z. B. die Sudanfliege, die Stechmücke, die Pferdefliege, vor allem auch vermutlich beruflich bedingte Allergene oder Medikamente.

Ein solches (über-)reichliches Angebot ist verführerisch, potenziell kostspielig und fehlerträchtig. Ein „positiver“ Befund wird von dem engagiert nach einer diagnostischen Begründung suchenden Arzt allzu gerne als „Schlüssel zur Wahrheit“ aufgenommen. Sein Patient bestätigt ihn und greift begierig nach diesem Strohhalm.

In Übersicht 1 sind acht Medikamente aufgeführt, die offensichtlich irgendwie verdächtig erschienen. Beachte: Man kann mehr oder weniger jede Substanz an eine RAST-Scheibe koppeln und einen Labortest damit machen. Als IgE-verdächtiges Antibiotikum ist im obigen Beispiel allein Penicilloyl anerkannt, nicht aber die anderen getesteten Substanzen.

Exotische Allergene müssen übrigens hinsichtlich ihrer potenziellen Relevanz an einer genügend großen Zahl klinisch sicher erkrankter Patienten verifiziert werden, doch wer kann schon über eine solche Anzahl (z. B. acht bis zehn) Patienten mit „realer“ Stechmücken-Allergie verfügen?

Fazit

Allergologie ist für die Allgemeinpraxis höchst spannend und herausfordernd. In der Basisversorgung unserer Patienten sollten wir uns jedoch auf das beschränken, was eindeutig in Diagnostik und Therapie etabliert ist. Damit können wir segensreich und nachhaltig vielen unserer Patienten helfen. Wir wissen, dass viele Fragen zur Allergologie und Immunologie offen sind. Deren Klärung ist nicht Aufgabe der Praxis, kontroverse Meinungsbilder müssen in der Wissenschaft ausdiskutiert werden.

Das Anerkennen unserer diagnostischen (und therapeutischen) Grenzen stärkt den praktizierenden Arzt und betont seine medizinische und menschliche Souveränität.


Interessenkonflikte:
keine deklariert

Dr. med. Rolf F. Kroidt


Kontakt:
Dr. med. Rolf F. Kroidt
Internist, Lungenarzt, Allergologe
ehemals Herz-Lungenpraxis Stade
21680 Stade

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2012; 34 (14) Seite 36-38