Es ist aktuell kaum möglich, eine Fachzeitung aufzuschlagen, ohne dass technische Lösungen, die im Privaten schon seit Jahren Alltag sind, als neue Errungenschaft für die Medizin gefeiert werden. Diese "Innovationen" scheinen allerdings oft ohne Beteiligung von Patienten und Gesundheitsberufen entwickelt worden zu sein. Dabei gibt es in anderen Ländern zahlreiche Beispiele, dass eHealth- und Telemedizin-Anwendungen sinnvoll in der Versorgung eingesetzt werden können, beispielsweise zur Stärkung des Selbstmanagements von Patienten mit chronischen Erkrankungen. Wie können diese Erfahrungen auf die Situation in Deutschland angepasst werden? Welche digitalen Möglichkeiten möchten Ärzte nutzen und wo liegen die Barrieren?

Telemedizinische Innovationen haben das Potential, den (Versorgungs-)Alltag von Patienten und Gesundheitsberufen, insbesondere im ländlichen Raum, nachhaltig zu unterstützen. In einer deutschlandweiten Studie zum Thema Telemedizin, die aktuell am Institut für Allgemeinmedizin in Lübeck ausgewertet wird, zeichnet sich ein deutliches Bild über die Barrieren und den Bedarf zum Thema Telemedizin von Ärzten in Weiterbildung ab: Jeder zweite Arzt hätte gerne Fortbildungen zum Thema Telemedizin und jeder vierte würde sich mit einem telemedizinischen Backup eher trauen, ländlich zu praktizieren.

Annähernd 40 % der teilnehmenden Ärzte in Weiterbildung geben an, dass sie gerne die Option zur Verfügung hätten, Bilder zu versenden, ein Drittel würde Patienten telemedizinisch zu Hause monitoren und jeder fünfte würde die Option einer Videokonferenz zwischen Gesundheitsberufen befürworten.

Und was schreckt die Ärzte eher von einer Nutzung telemedizinischer Unterstützung ab? Auf der Seite der Barrieren wurden von 60 % der Ärzte Datenschutzgründe genannt. Jeweils ca. 40 % der Befragten nannte fehlende nutzerfreundliche Software und die Investitionskosten.

Alles Gold, was glänzt?

In das von der E-Health-Initiative des Bundesgesundheitsministeriums gegründete Deutsche Telemedizinportal waren 2015 mehr als 200 einzelne Projekte eingetragen. Im gleichen Jahr stellt man jedoch fest, dass davon nur wenige regelhaft angewendet werden. Die Nutzung war in Deutschland darüber hinaus regional sehr unterschiedlich verteilt [5].

Die Studie "Chancen und Risiken von Gesundheits-Apps – CHARISMHA" zeigte, dass durch die 80.000 bis 90.000 Apps allein in den Kategorien "Medizin" und "Gesundheit und Fitness" den Patienten und Gesundheitsberufen kaum ermöglicht wird, einen Überblick zu behalten [1]. Werden medizinische Apps in der Praxis verwendet, die nicht als Medizinprodukt ausgezeichnet sind, liegt die Verantwortung für die Richtigkeit der Ergebnisse aus der App komplett beim Anwender – und somit auch die Haftung [2]. Den Status als Medizinprodukt hat allerdings nur ein Bruchteil der Apps.

So erleben wir eine Zeit, in der viele Geschäftsideen auf den Hausarzt einprasseln, jedoch selten darauf gehört wird, was Patienten und Gesundheitsberufe wirklich verwenden wollen. Die in der Praxis oft vorhandene Zurückhaltung ist daher gut nachvollziehbar und verhindert gleichzeitig den Einzug von sinnvollen Lösungen.

Eine Grundvoraussetzung für eine bessere Nutzbarkeit der telemedizinischen Anwendungen wäre daher, deren Evaluationspraxis zu optimieren. In der Vergangenheit wurde ein Großteil der Projekte nicht evaluiert oder die Evaluationsergebnisse wurden nur teilweise veröffentlicht. Den vorhandenen Evaluationen wird heterogene methodische Qualität vorgeworfen – diese erschwert die Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Alle Faktoren zusammen stellen wesentliche Hemmnisse für eine notwendige Kumulation der Evidenz zur Wirksamkeit und Kosteneffektivität von Telemedizin dar [3].

Dabei kann diese Evidenz durchaus in zumeist internationalen Studien gefunden werden. Deren Übertragbarkeit auf Deutschland ist allerdings dann limitiert, wenn die Unterschiede zwischen den Ländern in folgenden Punkten zu weitreichend sind:
  • Strukturen und Vorgaben des Gesundheitssystems
  • geographische Bedingungen (z. B. Entfernung zum nächsten Arzt)
  • Erwartungshaltung gegenüber der Versorgung
  • Rechtsauffassung (Datenschutz und geeignete Technologien)

Es ist daher an der Zeit, das Thema Telemedizin für die Allgemeinmedizin in Deutschland systematisch anzugehen. Am häufigsten wird in Europa dafür das "Model for Assessment of Telemedicine Applications" verwendet [4]. In diesem Modell werden unter anderem die Patientenperspektive, Sicherheitsaspekte, Aspekte der klinischen Effektivität, soziokulturelle, ethische und juristische Aspekte mit berücksichtigt.

eHealth, mHealth, Telemedizin
Erfahrungsgemäß bedarf es zunächst Definitionen der verschiedenen, in dem Zusammenhang verwendeten Begriffe: "eHealth" (electronic Health) umfasst als Überbegriff gesundheitsnahe Dienstleistungen, die mittels moderner Informations- und Telekommunikationstechnologien erbracht werden. "Telemedizin" hingegen ist der Begriff für Kommunikationstechnologien, mit denen die Distanz zwischen medizinischem Fachpersonal und Betroffenen überwunden wird. "mHealth" als weiterer Begriff weist auf eine mobile Komponente hin: Gesundheitsversorgung wird dabei über jegliche Art mobiler Endgeräte (z. B. Smartphones, Tablets) geleistet.

Um das Thema Telemedizin für die Allgemeinmedizin mit eben dieser nötigen Systematik anzugehen, wurde jüngst an der Universität zu Lübeck das "Center for Open Innovation in Connected Health" (COPICOH, siehe: www.copicoh.de) neu gegründet. COPICOH stellt eine Verbindung zwischen wissenschaftlichen Einrichtungen, Unternehmen, Kranken- und Pflegeversicherungen, Ministerien und Behörden sowie Ärzteverbänden her. Es bildet damit eine Basis für eine gemeinsame interdisziplinäre Innovations- und Dienstleistungsallianz. Den Kern des Zentrums bilden JointLabs, in denen informationstechnische Projekte im Gesundheitswesen bearbeitet werden. Neben neuen Erkenntnissen werden hier auch Beratungs- und Projektkompetenz vermittelt. Die hierbei mit eingebrachte Expertise der beteiligten Universitätsinstitute steigert die Gebrauchstauglichkeit von Systemen und kann Innovationen in Interaktionsformen ermöglichen. Aktuell arbeitet COPICOH in zwei JointLabs, eines mit dem Schwerpunkt "Telemedizin für den ländlichen Raum", das andere mit dem Thema "Internet der Dinge in Medizin und Pflege". An der Teilnahme an telemedizinischen Projekten interessierte Hausärztinnen und Hausärzte können sich gerne direkt per Mail melden (jost.steinhaeuser@uksh.de).


Literatur:
1. Albrecht,U.-V.:Kapitel Kurzfassung. In:Albrecht,U.-V.(Hrsg.),Chancen und Risiken von Gesundheits-Apps (CHARISMHA). Medizinische Hochschule Hannover, 2016, S. 14–47. urn:nbn:de:gbv:084-16040811173.http://www.digibib.tu-bs.de/?docid=60004
2. Hillienhof, Arne Medical Apps: Trotz großer Möglichkeiten ist Vorsicht geboten
Dtsch Arztebl 2015; 112(14): A-612 / B-523 / C-511
3. Katrin Arnolda,Madlen Scheibea, Olaf Müllerb, Jochen Schmittc, und die CCS THOS Konsensgruppe. Grundsätze für die Evaluation telemedizinischer Anwendungen –Ergebnisse eines systematischen Reviews und Konsens-Verfahrens. Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2016),
4. Kidholm K1, Ekeland AG, Jensen LK, Rasmussen J, Pedersen CD, Bowes A, Flottorp SA, Bech M. A model for assessment of telemedicine applications: mast.Int J Technol Assess Health Care. 2012 Jan;28(1):44-51. doi: 10.1017/S0266462311000638.
5. Marx, G. and R. Beckers (2015). "[Telemedicine in Germany]." Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 58(10): 1053-1055.



Autor:

Prof. Dr. Jost Steinhäuser

Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck

Interessenkonflikte: Das Institut für Allgemeinmedizin forscht im Rahmen des "Centers for open health innovations" an telemedizinischen Fragestellungen. Teilprojekte davon werden von der Firma CISCO finanziell gefördert.


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (12) Seite 73-74