Spiritualität ist gesellschaftlich en vogue und auch in gesundheitsbezogenen Kontexten erhält sie international zunehmend Aufmerksamkeit. Was ist jedoch unter Spiritualität zu verstehen? Inwiefern ist eine Thematisierung auch in der medizinischen und pflegerischen Versorgung von Relevanz? Und welche Herausforderungen können mit einer Wahrnehmung von spirituellen Bedürfnissen für die Praxis einhergehen? Mit einzelnen Schlaglichtern möchte dieser Beitrag diesen Fragen nachgehen.
Ganz formal handelt es sich bei Spiritualität um eine innere Haltung und einen Lebensvollzug, der aus einer bestimmten Sicht auf sich selbst und die Welt resultiert und dem Leben Sinn und Richtung gibt. Die subjektive spirituelle Ausrichtung gibt dabei Antworten auf die großen Fragen danach, woher man kommt, wohin man geht, was man tun und was man aus sich machen soll, die sich über den Lebensverlauf hinweg verändern [5].
Spiritualität als Thema der Gesundheitspolitik
Als eben jener Weg nach innen hat Spiritualität dabei jedoch längst den Raum des Religiösen verlassen und hierzulande in populärwissenschaftliche und allgemeingesellschaftliche Kontexte Einzug gehalten. Auch als Forschungsgegenstand hat Spiritualität den Bereich akademischer Theologie längst verlassen und verdankt seine gegenwärtige Popularität einer Wiederentdeckung in den Berufsfeldern der Medizin, Gesundheit und Pflege. Mit Blick auf die gegenwärtige Situation weist etwa die Gesundheitswissenschaftlerin Tine Hanrieder darauf hin, dass in der internationalen Gesundheitspolitik das säkulare und modernistische System der Medizin, das lange versucht habe, "sich die Religion vom Leib zu halten", in die Kritik geraten sei und "in den letzten Jahren zunehmend eine Neubewertung des Religiösen für den Bereich global health statt[findet], die das Andere der Religion als Ressource begreift" [4].
Spiritualität als Thema der Gesundheitsversorgung
Seit Mitte der 1990er-Jahre gibt es einen exponentiellen Anstieg an Arbeiten zur Entwicklung von Konzepten und Messinstrumenten, die den Effekt von Spiritualität auf das Gesundheitsverhalten, die -versorgung und -erhaltung belegen (wollen). Zudem findet Spiritualität gegenwärtig auch in klinische Studien Eingang, insbesondere im Zusammenhang mit mentalen Gesundheitsparametern. Die meisten dieser Studien weisen dabei auf einen positiven Zusammenhang von Spiritualität und Gesundheit hin – wobei die dahinterliegenden Mechanismen oft unerklärt bleiben. Auch wird weltweit in religiösen Institutionen als Ort der Vergemeinschaftung und sozialen Interaktion eine wichtige Stütze und Unterstützung gesehen, die einen positiven Einfluss auf die soziale Gesundheit und das mentale Wohlbefinden habe [10]. Darüber hinaus geben Patient*innen auch immer wieder an, dass das, was mit dem Konzept der Spiritualität umschrieben ist, für sie ein wichtiges Thema und deren Einbezug therapierelevant sei [21].
Spiritualität als Ressource zur Krankheitsbewältigung
Während der Einfluss von Spiritualität hinsichtlich des Verlaufs unterschiedlicher Krankheitsbilder, wie etwa koronare Herzkrankheit, Hypertonie, zerebrovaskuläre Erkrankungen oder auch (Alzheimer-)Demenz, untersucht wird [8, 9], befasst sich die Mehrheit der Studien mit dem Einfluss von Spiritualität im Kontext von Krankheits- und Stressbewältigung. Insbesondere Studien aus der Psychologie und Lebensqualitätsforschung thematisieren dabei zunehmend die Bedeutung von Spiritualität als Ressource für Fragen der Lebens-, Krankheits- und Todesbewältigung wie auch ihre Funktion als Coping-Strategie für den Umgang mit einschneidenden Lebensereignissen, sozialen Verlusten oder schwerwiegenden Veränderungen. Coping und Resilienz werden dabei eng miteinander in Verbindung gebracht und der Einfluss von Spiritualität bzw. Religiosität im Besonderen auf das Wohlbefinden, die Lebenszufriedenheit, das Selbstwertgefühl oder die Erfahrung von Lebenssinn angesichts des widerfahrenen Leides und Schmerzes betont [18, 20]. Spirituelles wird somit als "innere Ressource des Menschen verstanden und sein wichtigstes Anliegen, den grundlegenden Wert, auf den alle anderen Werte ausgerichtet sind, die zentrale Lebensphilosophie – gleich, ob religiös, antireligiös oder nichtreligiös –, die das Handeln einer Person leitet" [13].
Spiritualität als eigenständiger Teil von Gesundheit
Die Relevanz von Spiritualität für die allgemeine medizinische und pflegerische Versorgung wird dabei allerdings nicht nur als eigenständige Bewältigungsstrategie und personale Ressource diskutiert, sondern auch als eigene Wohlbefindensdimension (spiritual well-being). In einem weiten Verständnis wird Spiritualität etwa auch in den Pflegewissenschaften unter dem Schlagwort der Ganzheitlichkeit [7], in der Psychotherapie unter dem Stichwort der Achtsamkeit (mindfulness) [3] oder in der Medizinethik unter dem Topos der Fürsorge-Ethik (ethics of care) [1] als für die Versorgung, Begleitung und Behandlung von Patient*innen relevante menschliche Dimension thematisiert. Seit Längerem gibt es demnach Bestrebungen, Spiritualität als Ausdruck persönlicher Glaubensüberzeugungen losgelöst von psychischen, physischen und sozialen Dimensionen in die WHO-Leitvorstellungen von Gesundheit als umfassendes Wohlbefinden und nicht nur als die Abwesenheit von Krankheit zu inte-
grieren [17] oder als essenziellen Bestandteil personalisierter Medizin zu implementieren [19]. Bereits etabliert hat sich die Wahrnehmung von Spiritualität als eigenständige Dimension im palliativen Bereich, woraus auch die eigenständige wissenschaftliche Disziplin von Spiritual Care als Schnittstelle zwischen Medizin, Theologie, Klinikseelsorge und Medizinethik hervorging [16].
Spiritualität als Herausforderung der deutschen Versorgung
Diese Popularität des Themas Spiritualität in unterschiedlichen Kontexten und seine wachsende gesundheitswissenschaftliche und gerontologische Anerkennung stehen jedoch in einer gewissen Spannung zur mangelnden Rezeption innerhalb der Medizin, Pflege und Altenarbeit in Deutschland. Zwar wird in medizinischen und pflegerischen Kontexten gerne auf eine als ganzheitlich und am Menschen orientiert betitelte Sorge abgehoben, eine umfassende Einbindung des Themas Spiritualität jedoch kommt kaum vor. Selbst in der Altenarbeit, die in interdisziplinärer Manier Themen und Fragestellungen behandelt, die sich unter anderem mit den zentralen Voraussetzungen und Bedingungen für ein Mehr an Lebensqualität im Alter beschäftigen, stellt Spiritualität ein Randthema dar.
Eine ernsthafte Einbeziehung von Spiritualität in medizinische und pflegerische Versorgungskontexte stellt jedoch die Gesundheitsversorgung und Altenpflege vor verschiedene tiefgreifende Herausforderungen. So geht es im Sinne des Ansatzes von Spiritual Care nicht um Krankenhausseelsorge in neuem Gewand, sondern um eine gemeinsame Sorge aller Gesundheitsberufe für die spirituellen Krisen, Bedürfnisse und Nöte von Patient*innen und Bewohner*innen. Eine solche Perspektive stellt einerseits Anfragen an das Rollen- und Kompetenzprofil sowie die konkrete Gestaltung der Alltagspraxis und andererseits auch an die (spirituelle) Selbst-Sorge von Ärzt*innen, Pfleger*innen und anderen Gesundheitsberufen. So finden sich Mitarbeiter*innen aus unterschiedlichen Fachrichtungen als potenzielle spirituelle Begleiter*innen wieder, indem sie sich im Gegensatz zu den sonstigen aktiven und möglichst effektiven (Krisen-)Interventionen passiv-wahrnehmend auf die Bedürfnisse und Mitteilungen von Patient*innen und ihren Angehörigen einlassen und damit einen "spirituellen Resonanzraum" [14, S. 166] eröffnen. Dies liegt jedoch jenseits einer reinen Fach-Kompetenz und bedarf weder einer speziellen Kommunikationsfähigkeit noch einer religiösen, konfessionellen oder weltanschaulichen Zugehörigkeit. Es setzt jedoch eine Sensibilisierung für spirituelle Belange voraus, die Bereitschaft, sich auch auf diese unter Umständen krankmachende Dimension des Menschen einzulassen und (sich) danach zu fragen, inwiefern diese für die Aufrechterhaltung, Förderung und Wiederherstellung von subjektiv erlebter Gesundheit von Patient*innen und einem selbst von Relevanz sind.
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (19) Seite 86-87