In Deutschland leben Menschen unterschiedlichster ethnischer Herkunft. 7,1 Millionen besitzen eine ausländische Staatsangehörigkeit, bei den unter Fünfjährigen kommen inzwischen rund 35 % aus Migrationsfamilien. Vielfach erfolgt Integration unauffällig, oft ist der Prozess aber auch langwierig und von gegenseitigen Missverständnissen geprägt. Das wirkt sich auch auf die Begegnung in der Hausarztpraxis aus. Dieser Beitrag soll Tipps und Anregungen für eine gelingende Kommunikation in der Arztpraxis geben.

Fragt man im deutschen Gesundheitswesen nach Auffälligkeiten bei der Arbeit mit zugewanderten Menschen unterschiedlicher Kulturzugehörigkeit, so werden bestimmte Themen immer wieder genannt: „Da kommt die ganze Großfamilie“, „Die türkischen (aber auch marokkanischen oder libanesischen) Männer respektieren die Ärztin oder die medizinisch-technische Assistentin nicht“, „Sie sprechen auch nach Jahren kein Deutsch, besonders die Frauen“, „Die Frauen müssen Kopftuch tragen und dürfen nichts sagen“, „Die kleinen Kinder sind schlecht erzogen, die räumen mir alles aus“ (türkisch-arabischer Kontext), aber auch: „Die Kinder sind ganz eingeschüchtert, trauen sich gar nichts zu sagen und schauen immer zur Mutter“ (explizit russische oder osteuropäische Zuordnung), „Sie kommen zu spät und möchten gleich drankommen“, „Sie lehnen Frühförderung ihrer Kinder ab“, „Sie sind misstrauisch“, „Sie jammern so laut, auch wenn es gar nicht weh tut“ oder „Sie rennen von Arzt zu Arzt“. Das ist nur eine Auswahl. Das Synonym für Migrantenfamilien scheint zumeist die als anstrengend erlebte „islamische Familie“ zu sein, dann erst folgen Zugewanderte aus Osteuropa, die „zu streng“ mit ihren Kindern seien und zu viel forderten.

Anspruch an Bildung spielt in diesen Gruppen tatsächlich eine große Rolle, dazu kommen oft ganz besondere Erwartungen an Arzt oder Ärztin. Es sind aber vor allem die bildungsfernen, sozial schwachen Familien aus patriarchal und traditionell-religiös lebenden ethnischen Gruppen, die als befremdlich erlebt werden und das Bild prägen.

Großfamilien

Auch wenn es der Komplexität des Themas eigentlich nicht angemessen ist, soll versucht werden, einige Erklärungen zu geben. Die Großfamilie: Oft handelt es sich um ein Ehepaar, die Cousine, den Sohn oder die Tochter, die besser Deutsch sprechen als die Patientin oder der Patient und die für alle Fälle zum Übersetzen und Unterstützen mitgebracht werden (oder das Auto fahren). Manche Familienmitglieder oder Nachbarinnen kommen zur emotionalen Stabilisierung mit, denn „Kranke lässt man nicht allein“ (ein geflügeltes Wort in islamischen Ländern).

Tipp: Gelassen bleiben und bei Überfüllung des Wartezimmers schauen, welche Begleitung notwendig und sinnvoll ist. Die „Anstandsrolle“ im Behandlungszimmer ist schon von der weiblichen Sprechstundenhilfe besetzt. Weitere Begleitpersonen im auch so formulierten Interesse der anderen Patienten, die sich ja auch setzen wollen, bitten, draußen zu warten.

Führungsrollen

Die Anwesenheit des Ehemannes oder Vaters demonstriert dessen Übernahme von Verantwortlichkeit für Familienangelegenheiten, die im öffentlichen Raum stattfinden – selbst wenn er z. B. wegen mangelnder Deutschkenntnisse oder fehlenden Wissens über die Vorerkrankung seines Kindes nichts zur Unterstützung beitragen kann. In seinem Orientierungssystem ist er der erste Ansprechpartner, diese Rolle wird ihm seine vielleicht besser Deutsch sprechende Ehefrau nur bedingt streitig machen. Dort, wo Geschlechtertrennung eine Rolle spielt (arabische, asiatische, auch afrikanische Länder, in der ländlichen Türkei und eben auch in bestimmten ethnischen Nachbarschaften westeuropäischer Länder), wirkt sich das auf die Verhaltens- und Bekleidungsregeln (z. B. Kopftuch) aus. Männer und Frauen, die nicht zur gleichen Familie gehören, berühren sich nicht oder beschränken sich im ärztlichen Umfeld auf das Notwendige. Handverweigern, aber auch Vermeidung eines langen Blickkontaktes können Indizien für als angemessen empfundenes Verhalten sein, bedeuten aber nicht zwangsläufig Abwertung des Gegenübers. Dass man mit diesen Rollen spielen, sie instrumentalisieren oder damit eigene Unsicherheiten kompensieren kann, ist ein anderes Thema.

Tipp: Übersehen Sie den Familienvertreter nicht, begegnen Sie ihm freundlich und bestimmt. Informieren Sie ihn, akzeptieren (und funktionalisieren) Sie seine Verantwortlichkeit für notwendige Behandlungsschritte. Im Untersuchungsraum sollte er nur anwesend sein, wenn seine Frau oder Tochter das explizit wünscht. Das gilt auch für die Anwesenheit von Schwieger- oder Großmutter. Oft hilft die zur Schau gestellte Präsenz der Assistentin. Bei Ernährungsfragen und notwendigen Diäten ist unter Umständen das älteste weibliche Familienmitglied einzubeziehen, das eine bestimmende Rolle in diesen Fragen hat.

Eltern und Kinder

Wenn der Hinweis auf Frühförderungsbedarf zu empörter Abwehr führt, kann das unterschiedliche Ursachen haben. Die Angst vor Benachteiligung und Stigmatisierung ist groß. „Er (oder sie) ist doch noch so klein“, ist das Argument dort, wo bewusstes „Lernen“ erst ab etwa sechs Jahren und dem Beginn der Schulzeit erwartet wird – nach wissenschaftlichen Erkenntnissen viel zu spät.

Tipp: Argumentieren Sie wissenschaftlich, gern mit Entwicklungstabellen und im Interesse des Kindes. Erklären Sie, was Sie tun würden, wenn es Ihr Kind wäre.

In vielen agrarisch geprägten islamischen Kulturen liegt das Augenmerk beim Erwachsenen-Kind-Kontakt vorwiegend auf Schutz, Versorgung, Kleidung, Einordnung in das kollektivistisch geprägte System, nicht jedoch auf Erziehung zur individuellen Selbstverantwortung. Dass der Vierjährige das Wartezimmer umräumt oder die Schreibtischschubladen aufzieht, wird als eher normal betrachtet. Es ist auch normal und es wird meist erwartet, dass die Sprechstundenhilfe mit freundlicher Autorität für ihren Raum Verantwortung zeigt, das Kind hochnimmt und der Mutter oder dem Vater übergibt.

Darstellung von Beschwerden

„Ärztehopping“ drückt vor allem Unsicherheit oder Unverständnis für das Vorgehen des Erstbehandelnden aus. „Die Frau Doktor versteht mich und meine Krankheit nicht“, heißt es da, und tatsächlich kann diese mit Krankheitsbeschreibungen wie „Alles tut weh!“ oder „Meine Leber (Lunge) brennt!“ wenig anfangen. Das starke Stöhnen soll das gefühlte Kranksein deutlich machen, stößt in den Praxen aber meist auf Irritationen und Ablehnung. Häufig werden emotionale Befindlichkeiten wie Depressionen somatisiert und organische Schmerzen beschrieben. Mit dem Ansinnen, das Unwohlsein genau zu benennen, fühlen sich diese Patienten oft überfordert. Sie erwarten Anteilnahme und Anweisungen, vielfach auch eine Diagnose ohne Eigenbeteiligung: Studiert hat doch die Ärztin, der Arzt!

Unsicherheit führt häufig zu besonderer Empfindlichkeit, und wer zum Arzt geht, hat oft noch weitere Gründe für Verunsicherung. Kommen Sprachdefizite und von der Mehrheitsgesellschaft abweichende Erfahrungen, kulturelle Werte und Normen hinzu, kann die Kommunikation für beide Seiten schnell unbefriedigend verlaufen. Das Dolmetschen ist die eine Seite der Medaille, für die es einige Lösungsmöglichkeiten gibt. Als schwerer erweist sich manchmal das Aufdecken von interkulturellen Missverständnissen, bei denen Kränkungen nicht wahrgenommen und Reaktionen falsch interpretiert werden. Auf die Besonderheiten nonverbaler Kommunikation mit teils unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Bedeutungen gleicher Zeichen kann hier leider nicht eingegangen werden. Die besondere, aus Unsicherheit resultierende Empfindlichkeit von Personen, die erst als Erwachsene zuwandern und auf die sowohl im Herkunfts- als auch im Zuwanderungsland gemachte Erfahrungen wirken, zeigt sich an folgender Situation.

Empfindlichkeiten und Missverständnisse

Bei einer Fortbildungsveranstaltung in M. berichtete eine Teilnehmerin, die im Bereich Stadtteilmediation weitergebildet wurde, von einem frustrierenden „rassistischen“ Erlebnis, das sie selbst einige Monate zuvor gehabt habe. In die Praxis von Dr. X gehe sie nie mehr, dort seien sie wirklich rassistisch. Verständnisvolles Kopfnicken in der Runde, auch die anderen Migrantinnen in der Fortbildung haben ihre Erfahrungen, die deutschen Kolleginnen nicken unterstützend parteiisch. Die deutlich immer noch Betroffene wurde gebeten, die Situation zu schildern. Als junge Erwachsene aus einem westafrikanischen Land zugewandert, spricht sie recht gut Deutsch, lebt mit ihrem deutschen Ehemann und zwei Kindern in M. Die „rassistische“ Situation hatte sich im Vorzimmer eines Gynäkologen zugetragen. Sie hatte einen Termin und erschien pünktlich. Als sie sich ins Wartezimmer setzen wollte, hielt die Sprechstundenhilfe sie mit der Erklärung auf, dass der Herr Doktor durch eine Operation in Verzug geraten sei und deshalb erst in ein bis zwei Stunden da sein könne. Sie solle doch so lange in die Stadt gehen und Besorgungen machen. Gekränkt verlässt die Frau die Praxis – und kommt nicht wieder.

Was ist passiert? Was ist da rassistisch? Die Ausführungen der Sprechstundenhilfe sind doch ganz normal und an der Kundin orientiert. Der Arzt kann immer mal in zeitlichen Verzug geraten. So weiß die Patientin gleich, dass es bis zur Untersuchung noch etwas dauert, und kann die Wartezeit sinnvoll nutzen – oder einen neuen Termin ausmachen. Kaum jemand wird auf den Gedanken kommen, dass die junge Frau annimmt, sie werde weggeschickt, um nicht so lange im Wartezimmer herumzusitzen, auffällig sichtbar wegen ihrer dunklen Hautfarbe, als Störfaktor gesehen.

Doch genau das dachte sie, wie sich im folgenden Gespräch herausstellte. Was alles dazu beitrug, die Situation so zu interpretieren, können wir nicht wissen; aber dass Ablehnung aufgrund ihrer Hautfarbe zum persönlichen Erfahrungsbereich gehört, ist anzunehmen. Die dargestellte Situation deutet für die Mehrheit der Bevölkerung nicht auf Rassismus hin. Die gleiche Erklärung bekommt ja auch die hellhäutige autochthone Patientin und fühlt sich nicht persönlich abgelehnt. Diese hat aber sehr wahrscheinlich auch kein Vorleben, in dem der Arztbesuch etwas sehr Seltenes und Wertvolles war, wo man den einmal eingenommenen Warteplatz freiwillig nicht aufgab. Wartezeit ist relativ und war im früheren Leben der Patientin ganz normal. Manchmal musste tagelang auf eine Untersuchung oder Behandlung gewartet werden.

Zeitverständnis

Zeit spielte in diesem Konflikt eine Rolle, aber anders als vielleicht vermutet. Pünktlich war die Patientin. Sie hat die Wichtigkeit von Pünktlichkeit im neuen Lebensumfeld erkannt und hält sich daran. Das heißt aber nicht, dass sie deren Wert auf die gleiche Weise empfindet wie die Sprechstundenhilfe. Diese Patientin hätte kein Problem mit der Wartezeit gehabt, sie hätte sich gern im Wartezimmer ausgeruht – von ihrer Arbeit, der Verantwortung für ihre Kinder, dem ganz alltäglichen Stress. Warum sie diesen geschützten Ort verlassen sollte, verstand sie erst, als sie sich auf das europäische Zeitsystem mit seinen spezifischen Wertungen einließ.

Nicht alle interkulturellen Missverständnisse sind zu vermeiden. Doch zur Aufklärung können gegenseitige Empathie und Kommunikation stets beitragen. ▪

Zeit

In den Kulturwissenschaften wird das polychrone Zeitsystem dem monochronen gegenübergestellt. Im polychronen System wird das getan, was gerade notwendig oder gefordert ist. Vieles wird parallel erledigt, Angefangenes nicht unbedingt beendet. Zeitliche Planungen gelten als grobe Orientierung oder aktuelle Willensbekundung, Beziehung hat Vorrang vor Zeit. Wenn das Beziehungssystem der Zeit übergeordnet ist, bedeutet Zuwendung mehr als die Einhaltung zeitlicher Vorgaben. Dann wird jeder verstehen, dass ein überraschender Besuch durch Bekannte oder Verwandte zum „Vergessen“ einer zeitlichen Zusage führen kann.

Nicht so im monochronen System, dem bevorzugten System deutscher Arztpraxen, wo Zeit große Bedeutung hat. Da wird in Minuten geplant und langfristig terminiert. Jeder weiß: Zeit ist Geld. Nicht abgesagte Termine oder Verspätungen machen die Wartenden ärgerlich, bringen Zeitraster und Planungen durcheinander. Wartenlassen wird mit fehlender Wertschätzung verbunden und schnell persönlich genommen. Auch wenn diese beiden Zeitmodelle kaum je in Reinform erlebbar sind, bildet der Umgang mit Zeit einen der am häufigsten genannten Konfliktpunkte in den interkulturellen Fortbildungen der Autorin.



Literatur
1. Der Integrationsbeauftragte der Landesregierung NRW (2008): Herausforderungen und Chancen in Bildungseinrichtungen. Grundinformationen zum Islam und Anregungen zum Umgang mit muslimischen Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern. Von Lamya Kaddor und Jörgen Nieland. I. Aufl. Düsseldorf
2. Hofstede GH (2006) Lokales Denken, globales Handeln: interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management. III. Aufl. München
3. Marschke B, Brinkmann HU Hg. (2011) Handbuch Migrationsarbeit. I. Aufl. VS-Verlag Wiesbaden
4. van Keuk G, Joksimovic D Hg. (2011) Diversity. Transkulturelle Kompetenz in klinischen und sozialen Arbeitsfeldern. I. Aufl. W. Kohlhammer Stuttgart
5. von Bose A, Terpstra J (2012) Muslimische Patienten pflegen. Praxisbuch für Betreuung und Kommunikation. I. Aufl. Springer, Heidelberg

Dr. rer soc. Anne Dietrich


Kontakt:
Dr. rer. soc. Anne Dietrich
Empirische Kulturwissenschaftlerin und Ethnologin
Fortbildungen zur interkulturellen Kompetenz
45131 Essen

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2013; (12) Seite 18-20