Patienten, die über Schwindel klagen, konsultieren häufig als Erstes den Allgemeinarzt. Durch ein strukturiertes Vorgehen lässt sich dieses Symptom gut in der Hausarztpraxis behandeln. Überweisungen zum Facharzt sollten, wenn überhaupt, zielgerichtet erfolgen und immer durch den Hausarzt koordiniert werden.

Der Fall

Die Tochter einer 78-jährigen Patientin ruft in der Praxis an und bittet den Hausarzt, nach ihrer Mutter zu sehen. Die ältere Frau fühlt sich nicht gut, kann nicht mehr richtig sehen und kaum gehen – die Tochter befürchtet einen Schlaganfall. Beim Hausbesuch, der unverzüglich folgt, zeigt sich, dass die Patientin auf dem Sofa sitzend einen herabgesetzten Allgemeinzustand aufweist. Sie ist jedoch zu allen Qualitäten orientiert und zeigt in der groben neurologischen Prüfung keinen Hinweis auf einen Schlaganfall. Dafür berichtet sie aber über Übelkeit und dass sich alles um sie herum drehe, sobald sie sich aufrichte. Die Beschwerden bestünden seit dem letzten Aufstehen vor zwei Stunden.

Es erfolgt ein Dix-Hallpike-Manöver (Video unter: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/e9/Dix-Hallpike_maneuver.ogv ) [7]. Dabei lässt sich rechts ein deutlicher Drehschwindel mit Nystagmus provozieren, der etwa eine halbe Minute anhält und dann nachlässt. Wir stellen die Diagnose eines "benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels (BPPV)" und klären die Patientin und ihre Angehörigen über die Gutartigkeit der Erkrankung auf. Dies führt bereits zu einer spürbaren Entlastung.

Da die Patientin altersbedingt das therapeutische Befreiungsmanöver nicht eigenständig vornehmen kann, erhält sie eine Heilmittelverordnung (nach Ziffer SO3). Diese fällt extrabudgetär unter besonderen Versorgungsbedarf, weil die Patientin älter als 70 ist. Als sie sich nach drei Wochen in der Praxis vorstellt, ist sie gänzlich beschwerdefrei.

Für die Diagnosestellung wegweisend ist immer die Schwindelanamnese. Um dem Hausarzt eine praktikable Handreichung zum Management von Schwindelpatienten anbieten zu können, haben wir einen primärmedizinischen Schwindel-Algorithmus auf Basis der DEGAM-Leitlinie "Akuter Schwindel in der Hausarztpraxis" ( http://www.degam.de ; vgl. Abb. 1)
entwickelt: Ist nach Ausschluss abwendbar gefährlicher Verläufe keine eindeutige Diagnosestellung möglich, sollten die Patienten beruhigt und über den meist selbstlimitierenden Verlauf des akuten Schwindels vom Arzt aufgeklärt werden. Eine weiterführende Diagnostik scheint in vielen Fällen nicht zielführend. Diese fördert die iatrogene Fixierung und begünstigt die Überversorgung.

Schwindel steht an neunter Stelle der häufigsten Beratungsanlässe in der Hausarztpraxis – mit einer absoluten Zahl von 2,3 % aller Konsultationen [5]. Knapp die Hälfte aller Schwindelpatienten überweist der Hausarzt an den Spezialisten [6].

Beim Blick auf die Epidemiologie des Beratungsanlasses "Schwindel" zeigt sich jedoch, dass etwa drei Viertel aller Diagnosen durch Anamnese und körperliche Untersuchung gestellt werden können, was somit auch beim Hausarzt ohne spezielle Untersuchungsverfahren erfolgen kann. Zusätzlich hilft in der Hausarztpraxis die Prävalenz: Von 100 Patienten mit Schwindel ist bei etwa 60 von ihnen keine ursächliche Erkrankung nachzuweisen. Bei circa 20 Personen liegt ein gut zu diagnostizierender benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel vor. Lediglich bei den verbleibenden 20 Patienten findet sich eine zuordenbare Diagnose. Abwendbar gefährliche Verläufe sind selten [1].

Allgemeinärzte gelten aus zwei Gründen als die wichtigsten Ansprechpartner beim Leitsymptom Schwindel: Zum einen als erste Anlaufstelle für Patienten mit Gesundheitsproblemen. Zum anderen, weil sie in ihrer Lotsenfunktion eine mögliche zweite Versorgungsebene bei Spezialisten koordinieren. Je nach Ursache des Schwindels können hier viele unterschiedliche Disziplinen – vom Augenarzt über den Neurologen bis zum Hals-Nasen-Ohrenarzt – involviert werden. Ohne fachkundige Einschätzung des Hausarztes erfolgt hingegen eine ziellose Beanspruchung zahlreicher Spezialisten, die hohe Gesundheitskosten verursacht [3].

Schwindelanamnese: zentral für die Diagnose

Die Definition des Begriffs "Schwindel" ist keineswegs scharf gefasst. Unter diesem Symptom subsumieren sich vielmehr unterschiedliche Empfindungen, die man anamnestisch unterscheiden muss (Tabelle 1). So kann sich hinter Schwindel ein Gefühl von Benommenheit genau wie ein Dreh- oder Schwankschwindel verbergen. Auch andere Beschreibungen wie Geh- und Standunsicherheit sind häufig. Der Arzt sollte den Patienten die Symptomatik zunächst frei schildern lassen und diese möglichst unverfälscht dokumentieren, wie etwa: "Mir zieht es den Boden unter den Füßen weg." Im zweiten Schritt sollte anamnestisch präzise geklärt werden, in welche Kategorie sich der Schwindel einordnen lässt. Handelt es sich um einen Dreh-, Schwank- oder eine sonstige Schwindelform und wie lange hält die Symp-
tomatik an? Dabei unterscheidet man kurzen Schwindel (Sekunden bis Minuten) von mittlerem (Minuten bis wenige Stunden) und langanhaltendem (Stunden bis Tage). Mit der Kombination von Schwindelart und -dauer ist schon eine wegweisende diagnostische Einordnung möglich (vgl. Fall). Ergibt sich hieraus noch keine klare Verdachtsdiagnose, kann man mit den sechs W-Fragen und anhand der Prävalenz der häufigsten Ursachen die Großzahl aller Schwindelfälle zuordnen.

Gefährliche Verläufe

Gefährliche Verläufe sind selten und treten – bis auf wenige Ausnahmen (z. B. bestimmte Kleinhirninfarkte, Wallenberg-Syndrom) – fast immer mit Zusatzsymptomen, wie neurologischen Defiziten, Synkopen oder Orthostasen auf (vgl. Tabelle 2). Besonders der Ausschluss eines Schlaganfalls schafft in der Hausarztpraxis häufig das größte Gefühl von Unsicherheit.

Abgesehen von weiteren neurologischen Defiziten, die ein sofortiges Handeln indizieren, kann sich ein zerebellarer Insult auch allein durch kontinuierlichen Schwindel und Nystagmus bemerkbar machen und somit eine periphere Vestibulopathie imitieren. Um hier gut zu differenzieren, hilft die körperliche HINTS-Untersuchung mit Kopfimpulstest, Nystagmus, Abdecktest, die sich gegenüber aufwendiger Schnittbildgebung sogar überlegen gezeigt hat und sich problemlos in der Hausarztpraxis vornehmen lässt (Abb. 2 – 4) [4].
Nach Ausschluss eines abwendbar gefährlichen Verlaufs sollten Patienten über die Gutartigkeit und den häufig selbstlimitierenden oder zumindest symptomlindernden Verlauf der unspezifischen Schwindelformen aufgeklärt und im Sinne eines abwartenden Offenhaltens begleitet werden [2].

Therapie des Schwindels

Für viele spezifische Schwindelursachen gibt es kausale Therapien wie die Befreiungsmanöver nach Sémont oder Epley beim benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel. Bei nicht eindeutig zuordenbarer Diagnose kann man sehr gut auf eine symptomatische Therapie zurückgreifen. Die Optionen an evidenzbasierten, gut belegtenTherapiemöglichkeiten sind hier überschaubar. Den größten Therapieeffekt zeigt ein Schwindel-/Gleichgewichtstraining unter Eigenanleitung oder im Rahmen einer Heilmittelverordnung. Antivertiginosa haben nur geringe Effekte und können bei dauerhafter Einnahme einer Adaptation des Schwindels sogar im Wege stehen. Falls eine medikamentöse Therapie erwünscht ist, eignet sich das Kombinationspräparat aus Cinnarizin und Dimenhydrinat (Arlevert®), das zur symptomatischen Behandlung von Schwindel zugelassen ist und die besten Daten zur Wirksamkeit aufweist.

In Anbetracht des oft günstigen Verlaufs des akuten unspezifischen Schwindels ist jedoch die Aufklärung und Beruhigung die entscheidende symptomatische Maßnahme. Akuter Schwindel, der trotz adäquater primärer Abklärung und unter Ausschluss abwendbar gefährlicher Verläufe keiner spezifischen Diagnose zugeordnet werden kann, tritt häufig spontan auf und spricht daher für eine Strategie des abwartenden Offenhaltens (Watchful Waiting) [1].

Zusammenfassung des Vorgehens

Die hier vorgestellte Handlungsempfehlung zeigt ein praktisches Vorgehen für den Beratungsanlass "Schwindel" in der Hausarztpraxis. Mit der Kenntnis der Prävalenz und der Kombination aus Anamnese und zielgerichteter körperlicher Untersuchung lassen sich die Möglichkeiten der Diagnosen deutlich einschränken und abwendbar gefährliche Verläufe, die ja selten sind, gut filtern.

Überweisungen des Hausarztes an den Spezialisten zur weiteren Diagnostik lassen sich gezielt formulieren, falls diese überhaupt notwendig sein sollten. Die wichtigste therapeutische Maßnahme ist die Beruhigung und Aufklärung der Patienten durch den Arzt. Mit Schwindel-/Gleichgewichtstraining, Befreiungsmanövern und wenigen Antivertiginosa sind die Therapieansätze überschaubar.


Literatur
1. Abholz, H. and R. Jendyk (2016). "Akuter Schwindel in der Hausarztpraxis." S3-Leitlinie. Berlin: Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM).
2. Dros, J., et al. (2012). "Functional prognosis of dizziness in older adults in primary care: a prospective cohort study." Journal of the American Geriatrics Society60(12): 2263-2269.
3. Grill, E., et al. (2014). "Health services utilization of patients with vertigo in primary care: a retrospective cohort study." Journal of neurology261(8): 1492-1498.
4. Kattah, J. C., et al. (2009). "HINTS to diagnose stroke in the acute vestibular syndrome: three-step bedside oculomotor examination more sensitive than early MRI diffusion-weighted imaging." Stroke40(11): 3504-3510.
5. Laux, G., et al. (2008). "Co-and multimorbidity patterns in primary care based on episodes of care: results from the German CONTENT project." BMC Health Services Research8(1): 14.
6. Sczepanek, J., et al. (2011). "Newly diagnosed incident dizziness of older patients: a follow-up study in primary care." BMC family practice12(1): 58.
7. Genutzt unter der Creative Commons Lizenz, Autoren: Ballve Moreno J, Carrillo Munoz R, Villar Balboa I, Rando Matos Y, Arias Agudelo O, Vasudeva A, Bigas Aguilera O, Almeda Ortega J, Capella Guillen A, Buitrago Olaya C, Monteverde Curto X, Rodero Perez E, Rubio Ripolles C, Sepulveda Palacios P, Moreno Farres N, Hernandez Sanchez A, Martin Cantera C, Azagra Ledesma R [CC BY (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0)]



Autor:

Raphael Kunisch


Dr. med. Marco Roos
Allgemeinmedizinisches Institut, Universitätsklinikum Erlangen 91054 Erlangen

Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (9) Seite 42-47