Lebensstilassoziierte Erkrankungen sind auch in der kinderärztlichen Praxis ein zunehmendes Problem. Um solchen Krankheiten vorzubeugen bzw. diese zu therapieren, ist eine Modifikation des Bewegungs- und Ernährungsverhaltens notwendig. Häufig wird versucht, durch Informationsvermittlung auf das kindliche Verhalten einzuwirken. Derartige Strategien sind allerdings kaum erfolgreich, weil weder das Ess- noch das Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen maßgeblich durch Wissen (Kognitionen) gesteuert werden.

Um aussichtsreiche Ansatzpunkte für elterliche, erzieherische oder ärztliche Interventionen zur Veränderung des Essverhaltens zu erkennen, ist die dezidierte Kenntnis der maßgeblichen Einflussfaktoren auf die Entwicklung von Präferenzen und Aversionen im Kindes- und Jugendalter notwendig. Diese Einflussfaktoren und die Mechanismen, über die sie das Essverhalten modellieren, werden in diesem Beitrag erläutert.

Prä- und postnatale Prägung

Die Entwicklung von Präferenzen beginnt bereits im Mutterleib durch pränatale Prägung, d. h., das mütterliche Essverhalten während der Schwangerschaft beeinflusst spätere Vorlieben. Experimente haben gezeigt, dass Kinder nach der Geburt solche Geschmackseindrücke bevorzugen, die sie bereits im Mutterleib über Nabelschnurblut und Fruchtwasser in niedrigen Konzentrationen kennengelernt haben [1]. Dieser Prägungsprozess setzt sich postnatal über das Stillen fort. Auch hier „schmeckt“ das Kind die mütterliche Nahrung „mit“ und präferiert die auf diesem Wege kennengelernten Geschmackseindrücke auch nach dem Abstillen [2, 3].

Angeborene Süßpräferenz

Im Gegensatz zu diesen durch Prägung erworbenen Vorlieben ist die Vorliebe für „süß“ bei Neugeborenen angeboren. Die wahrscheinlichsten Ursachen für diese Präferenz dürften der Süßgeschmack der Muttermilch, die hohe Energiedichte süßer Speisen (Nahrungsenergie war evolutionsbiologisch immer knapp) sowie ein Sicherheitsaspekt sein, da es praktisch keine natürlicherweise süß schmeckenden Lebensmittel gibt, die giftig sind [4].

Evolutionsbiologische Programme

Nach der Geburt trägt der wiederholte Kontakt mit neuartigen Geschmackseindrücken zur Ausbildung von Vorlieben bei. Neugeborene lernen das zu schmecken, was ihnen angeboten wird, und mit der Zeit mögen sie diesen Geschmack dann auch. Dieser sog. „Mere Exposure Effect“ beschreibt das gewohnheitsbildende „Hineinschmecken“ in die lokal vorherrschende Esskultur [5]. Dem Prinzip „Iss nur, was Du kennst“ (auch Neophobie genannt) liegt ein evolutionsbiologischer Sicherheitsgedanke zugrunde, denn neue, möglicherweise giftige Speisen werden so systematisch vermieden. Der „Mere Exposure Effect“ interagiert jedoch mit einem weiteren evolutionsbiologischen Steuerungsprogramm, der „spezifisch-sensorischen Sättigung“. Dieses Programm baut gegenüber einer sich ständig wiederholenden Geschmacksqualität eine zunehmende Abneigung auf. Auf diesem Wege soll einem Nährstoffmangel vorgebeugt werden, der bei einseitiger Kost wahrscheinlich wäre. Beide evolutionsbiologischen Programme zusammen optimieren daher permanent Sicherheit („Mere Exposure Effect“) und Vielfalt (spezifisch-sensorische Sättigung) bei der Speisenauswahl [5, 6].

Überformung von Hunger und Sättigung durch äußere Reize

Über die Innenreize Hunger, Durst und Sättigung wird eine adäquate Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme für das Überleben eines Neugeborenen sichergestellt. Sie zählen zu den lebensnotwendigen Primärbedürfnissen des Organismus. Für die Nahrungsaufnahme in den ersten Lebensmonaten spielen sie – in Verbindung mit den oben beschriebenen angeborenen sowie erworbenen Vorlieben und Abneigungen – eine entscheidende Rolle. Mit zunehmendem Lebensalter lässt die Bedeutung von Primärbedürfnissen für die Speisenwahl nach und es kommen immer mehr darüber hinausgehende sogenannte Sekundärbedürfnisse in Verbindung mit Essen und Trinken hinzu [4, 5]. Diese sind von Hunger, Durst und Sättigung entkoppelt. Sekundärbedürfnisse werden im Gegensatz zu den angeborenen Primärbedürfnissen in einem langjährigen soziokulturellen Lernprozess erworben. Dabei treten Innenreize zunehmend in den Hintergrund und werden von Außenreizen abgelöst: So wird z. B. „Essen, wenn man hungrig ist“ durch das „Essen zu von außen festgelegten Essenszeiten“ abgelöst. Die Verzehrsmenge ist nicht mehr von Hunger und Sättigung abhängig, sondern es muss gegessen werden, „was auf den Tisch kommt“. Die Portions- oder Verpackungsgröße determiniert die verzehrte Menge: Es wird so viel gegessen, wie Becher, Packung, Tüte oder Teller vorgeben [7, 8].

Im höheren Lebensalter schließlich werden Einstellungen und Erfahrungen für die Wahl von Speisenart und -menge zunehmend wichtiger [7]. Vereinfachend erfolgt in den ersten Lebensdekaden eine sukzessive Ablösung des Essverhaltens nach physiologischen Faktoren (Innenreizen) durch ein Essverhalten nach psychologischen und sozialen Faktoren (Außenreizen, Einstellungen). Abbildung 1 zeigt die Abhängigkeit des Essens von Innen- und Außenreizen, Einstellungen und Erfahrungen über die Lebenszeit.

Lernprozesse

Das entscheidende Lernprinzip für Kinder ist das Beobachtungslernen: Kinder sehen Rollenmodellen beim Essen zu und übernehmen deren Verhalten, weil sie auch so sein wollen wie ihre großen Vorbilder [9]. Auf diesem Wege können Kinder Präferenzen für die unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen entwickeln. Typische Vorbilder sind die Eltern, ältere Geschwister, Großeltern und Freunde (peer group). In der Nestlé-Studie 2011 wurde festgestellt, dass kindliche Ernährungsmuster in hohem Maße den elterlichen Vorbildern ähnlich sind [10]. Bei älteren Kindern und Jugendlichen werden die peer group sowie mediale Vorbilder wie Sportler und Prominente zunehmend wichtig (s. u.).

Kinder lernen darüber hinaus durch direkt erlebbare positive Verhaltenskonsequenz, d. h. durch angenehme Geschmackserlebnisse. Dieses sog. „operante Konditionieren“ erfolgt auch, wenn die positive Verhaltenskonsequenz ein Spielzeuggeschenk (Non-Food) ist, z. B. bei Kindermenüs in vielen Fastfood-Restaurants.

Ernährungserziehung

Viele der in der Ernährungserziehung von Erziehungsberechtigten angewandten Strategien, um das kindliche Ernährungsverhalten in gewünschte Richtung zu verändern, führen eher zu gegenteiligen Effekten. So setzen Eltern Essen häufig zur Beruhigung ihrer Kinder und zum Abbau negativer Effekte ein. Dies kann sowohl negative Konsequenzen für eine Gewichtszunahme haben als auch mit der Entstehung von Essstörungen und einem höheren Gewicht im Erwachsenenalter assoziiert sein [11 – 14]. Eine Drohung mit Schaden in der fernen Zukunft ist bedingt durch die sehr ungünstigen Kontingenzverhältnisse ebenfalls kein zielführender Erziehungsstil [4, 5].

Das Attribut „gesund“ ist kontraproduktiv

Lehrer und Eltern versuchen oft über die Verwendung des Attributs „gesund“ Kinder zum Verzehr von Lebensmitteln zu drängen, die sie spontan ablehnen. Kinder assoziieren „gesund“ daher meist mit Zwang und Bevormundung. Sie wissen zwar sehr gut, welche Lebensmittel mit „gesund“ betitelt werden, lehnen deren Verzehr aber infolge negativer Assoziationen ab [15]. Werden dagegen stillschweigend – ohne Erklärung mit dem Wort „gesund“ – größere Portionen Gemüse serviert, erhöht dies den tatsächlichen Verzehr der erwünschten Lebensmittel [16]. Kinder konnten bereits vor über 25 Jahren treffsicher zwischen „gesunden“ und „ungesunden“ Lebensmitteln unterscheiden, mochten die „gesunden“ Lebensmittel jedoch nicht und bevorzugten wider besseres Wissen „ungesunde“ Produkte [17]. Eine ausgewogene Lebensmittelauswahl kann danach nicht durch die Vermittlung von Ernährungswissen mit dichotomer Einteilung von Produkten in gesund vs. ungesund erzwungen werden [18].

Werden in der Ernährungserziehung rigide Verbote eingesetzt, führen diese gewöhnlich zu gegenteiligen Effekten [19, 20]. Verknappung steigert die Präferenz. Dies gilt insbesondere für zunehmend offene Systeme. In Extremfällen können Verbote auch Essstörungen induzieren [6, 35]. Sie sind daher für die Ernährungserziehung ungeeignet.

Kinder und Jugendliche essen primär, was ihnen schmeckt

In der Nestlé-Studie 2011 [10] wurden Kinder und Jugendliche repräsentativ befragt, was sie beim Mittag- und Abendessen besonders schätzen. 100 % aller Kinder mögen, wenn es gut schmeckt, 95 % mögen, wenn gute Laune am Tisch ist und ebenfalls 95 % mögen, wenn sie sich etwas wünschen dürfen. Gesundheitsmotive kamen unter den 8 ersten Nennungen überhaupt nicht vor. Hedonistische und soziale Motive stehen für die überwältigende Mehrheit der Heranwachsenden im Vordergrund, nicht aber physiologische oder gesundheitliche Motive.

Gesundheit ist kein Grundbedürfnis

Wie kann jungen Menschen das Thema gesunde Ernährung alternativ näher gebracht werden? Viele – vor allem männliche – Jugendlichen leben im Rausch des Jetzt und denken noch wenig an die Zukunft, und sie spüren die Folgen von „ungesundem“ Verhalten durch ungünstige Kontingenzverhältnisse nicht. Ein weiterer Grund: Gesundheit wird oft noch sehr abstrakt und zu sehr mit erhobenem Zeigefinger verkauft (s. o.). Das jugendliche Denken und Handeln wird von Grundbedürfnissen dominiert. Solche Grundbedürfnisse sind z. B. Anerkennung in der Gruppe, das Finden eines Partners, die Suche nach der Rolle in der Gesellschaft, Spaß haben oder erwachsen werden. Das abstrakte Thema Gesundheit oder gesunde Ernährung sind hingegen keine Grundbedürfnisse. Aus diesem Grund kann dieses Thema an Jugendliche, die nicht direkt von Krankheit betroffen sind, nur vermittelt werden, wenn man sich an ihren Grundbedürfnissen orientiert.

Ab 14 Jahren ist die peer group wichtiger als die Familie

Nach einer repräsentativen Studie [21] ist die Familie ein vom Alter unabhängiger Eckpfeiler in der Lebenswelt aller Jugendlichen. Ab einem Alter von 14 Jahren werden jedoch Freunde noch wichtiger. Die peer group ist vor allem bei Faktoren von Bedeutung, die das wichtigste Grundbedürfnis der Jugendlichen beeinflussen: Dazu zu gehören, kein Außenseiter sein. Dies kann der gemeinsame Besuch eines Fast-Food-Restaurants sein, der Konsum von Alkohol oder auch die Angst davor, ‚gemobbt‘ zu werden: 20 % der Jugendlichen sind schon mal wegen ihres Aussehens gehänselt worden, 72 % der Jugendlichen stimmen der Aussage zu, schlanke Menschen seien beliebter als füllige und jedes dritte 11- bis 17-jährige Mädchen gibt an, bereits eine Diät gemacht zu haben [22].

Das Elternhaus und die peer group beeinflussen, welcher Lebenswelt die Jugendlichen angehören. Im Jugendbereich gibt es nach einer Untersuchung von iconkids & youth 4 relevante Typen: Hedonisten, Aufstiegsorientierte, Postmoderne und das moderne Arbeitnehmermilieu [22]. Diese Typen unterscheiden sich deutlich in ihren Ansichten und Einstellungen und müssen auch in der Prävention differenziert angesprochen werden. Hedonisten erreicht man z. B. gut mit einfachen Rollenvorbildern, wie Fußballern. Postmoderne dagegen bedürfen anspruchsvoller, intellektueller und nonkonformistischer Ansprache.

Gemeinschaftsverpflegung und Ernährungsbildung

Ein gutes Gemeinschaftsverpflegungsangebot hat günstige Effekte auf das kindliche Essverhalten, da häufiges Training im positiven Kontext nachhaltig auf das Essverhalten wirkt [23]. Gute Essgewohnheiten können sich durch wiederholte Erfahrung mit gutem Essen entwickeln [24].

In einer repräsentativen Studie wurden Schüler weiterführender deutscher Ganztagschulen im Jahr 2010 nach ihren Anforderungen an die Schulverpflegung befragt [25]. Ganz vorne standen der Geschmack, das Aussehen und der Geruch des Essens. Das Essen muss in erster Linie diesen polysensuellen Anforderungen entsprechen. Daneben sollte Abwechslung geboten werden und es soll satt machen. So gut wie keine Rolle spielten dagegen die Gesundheit des Essens oder die regionale Herkunft.

Nicht nur eine gute Gemeinschaftsverpflegung, sondern auch Ernährungsbildung im öffentlichen Raum kann die Entwicklung des kindlichen Essverhaltens günstig beeinflussen. Wenn jedoch allein Wissensvermittlung im Vordergrund steht, sind Angebote zur Ernährungsbildung nicht wirksam, da sie theoretisches Wissen anhäufen, das von den Kindern nicht – oder gerade nicht – in entsprechendes praktisches Handeln übersetzt wird [26]. Deutlich erfolgversprechender ist die Vermittlung von praktischen Fertigkeiten (skills) und Kompetenzen [27 – 29]. Aus diesem Grunde sind aktuelle Konzepte zur Ernährungsbildung deutlich handlungsorientierter [30]. Weil in solchen Ansätzen alle Kinder – auch solche aus sozial benachteiligten Milieus – erreicht werden können, wird zugleich die Chancengleichheit gefördert [31].

Werbung beeinflusst die Markenwahl

Jugendliche werden auch von ihrer medialen Umwelt beeinflusst. Die Wirkung von Werbung hat aber Grenzen: Sie ist nur ein Teil der Markenwelt und steht häufig hinter dem point of sale, dem Verkaufsort, zurück. Werbung kann zu einem Erstkauf führen, aber wenn das Produkt nicht hält, was es verspricht, wird es nicht erneut gekauft. Durch Werbung wird in erster Linie die Markenwahl beeinflusst, weniger die Konsumhäufigkeit der Produktkategorie: Durch Werbung für Schokoriegel A werden insgesamt nicht mehr Schokoriegel gegessen, dafür aber mehr des beworbenen Riegels A auf Kosten des nicht beworbenen Riegels B [32]. Erfahrungen aus Kanada und Skandinavien zeigen, dass es keinen Unterschied in der Prävalenz von Übergewicht zwischen werbefreien Provinzen oder Ländern im Vergleich mit den Provinzen oder Ländern, in denen Lebensmittelwerbung für Kinder erlaubt ist, gibt [33, 34]. Dagegen sind Fernsehdauer und passive Medienzeit relevante kausale Faktoren für die Entwicklung von Übergewicht und Adipositas [26].

Ein Blick auf die Werbung kann aber auch helfen, Schlüssel zu finden, wie die Zielgruppe angesprochen werden kann. Denn Werbung versucht, ihre Zielgruppe dort abzuholen, wo sie ist – und beherzigt damit einen bewährten pädagogischen Anspruch.

Anmerkung

Umfangreichere Darstellungen zum Thema sind unlängst im Fachbuch „Pädiatrische Ernährungsmedizin“ [6] sowie als CME-Beitrag in der Fachzeitschrift „Aktuelle Ernährungsmedizin“ [35] erschienen.

Dieser Beitrag
ist die Zusammenfassung des Symposiums „Entwicklung des Essverhaltens im Kindes- und Jugendalter“ auf der Jahrestagung der Deutschen Adipositasgesellschaft 2011 in Bochum.


Literatur
beim Verfasser

PD Dr. med. Thomas Ellrott


Ingo Barlovic


Korrespondenzadresse
PD Dr. med. Thomas Ellrott (li.)
Institut für Ernährungspsychologie
An der Georg-August-Universität Göttingen
Universitätsmedizin
Humboldtallee 32
37073 Göttingen
E-Mail: thomas.ellrott@gmx.com

Ingo Barlovic (re.)
iconkids & youth international research
Rückertstraße 4
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i.barlovic@iconkids.com

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2012; (4) Seite 211-215