Wie viele Arzneimittel pro Tag sind (noch) gut, vor allem für den betagten Patienten? Die Polypharmazie, also die tägliche Einnahme von mindestens fünf Fertigarzneimitteln, ist weit verbreitet, ebenso die "Hyper-Polypharmazie". Hier schluckt der Patient pro Tag mindestens zehn Präparate, was gravierende gesundheitliche Folgen haben kann.
bei einer Polymedikation liegt der Fokus im Wesentlichen auf der Fragestellung: Hängt die (Hyper-)Polypharmazie mit weiteren Komplikationen zusammen, so dass sie als prognostischer "Marker" zunehmend relevant wird? Inwieweit ist die (Hyper-)Polypharmazie die Folge einer Verschreibungskaskade, die es zu durchbrechen gilt? Steht die Polypharmazie in direktem Zusammenhang mit PIM (potenziell unangemessene Medikation), so dass sich ein Deprescribing anbietet? Unbestritten ist, dass sich durch die wachsende Zahl an Arzneimitteln im Therapieplan das Risiko physikalisch-chemischer (z. B. Komplexbildungen), pharmakodynamischer (z. B. Überlappen des Nebenwirkungsspektrums) und pharmakokinetischer Wechselwirkungen (z. B. Enzyminhibition und -induktion) erhöht. Parallel wächst das Risiko von Medikationsfehlern und Non-Adhärenz [1, 4, 5].
Komplikationen der Polypharmazie
Schon vor rund 20 Jahren berichteten Hohl et al., dass polypharmazieassoziierte Begleiteffekte und Wechselwirkungen vor allem bei älteren und betagten Patienten zu häufigeren Krankenhausaufenthalten führen können und als ungünstige prognostische Marker gelten [6].
Sakamoto et al. [15] gingen vor Kurzem der Frage nach, ob es eine Korrelation zwischen Polypharmazie und Nierenfunktionsverschlechterung im Therapieverlauf gibt. Ihre Studie bezog sich auf Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen (Tabelle 1). Das Ergebnis: Bei 208 Patienten mit Polypharmazie, die im Follow-up weiter beobachtet wurden, war die Zahl der verschriebenen Arzneimittel der einzige Faktor, der mit einer beschleunigten Verschlechterung der Nierenfunktion und einem Anstieg der Serumkreatininwerte korrelierte (Tabelle 2).
Bestätigt wurde dabei auch das "kardio-renale Anämie-Syndrom", das vor knapp 20 Jahren schon Silverberg et al. als Hypothese aufgestellt hatten und das einen Teufelskreis zwischen kardiovaskulären Erkrankungen, chronischer Nierenerkrankung und Anämie auslöst. Polypharmazie sei nach Sakamoto et al. deshalb nicht nur ein Marker für viele Komorbiditäten, sondern auch für deren Schweregrad. Inwieweit die Polypharmazie selbst die Nierenfunktion verschlechtert oder dieser Effekt als Folge der Komorbiditäten aufzufassen ist, bedarf weiterer Untersuchungen [15]. Auffällig ist im Spektrum der aufgeführten Arzneimittel die deutliche Steigerung an ACE-Hemmern, Angiotensin-II-Antagonisten, NSAR und Diuretika im Rahmen der (Hyper-)Polypharmazie, die den Verdacht eines "Triple-Whammy" nahelegt und erklären könnte, wie die Nierenfunktionsverschlechterung entsteht. Interessant ist in den Studien von Sakamoto et al. zudem, dass es vor allem im Rahmen der (Hyper-)Polypharmazie zu einer deutlichen Steigerung der Anämie kommt und parallel dazu auch zu einer höheren Rate an Herzinsuffizienz. Gleichzeitig ist ein gesteigerter Einsatz von Antikoagulantien, Thrombozytenaggregationshemmern, Diuretika und Statinen zu beobachten. Die Kontrolle des Eisenstatus (z. B. TSAT%) wird dort allerdings nicht erwähnt [15].
Verordnungskaskaden
Im Rahmen der Polypharmazie ist generell darauf zu achten, inwieweit die Menge der verordneten Arzneimittel möglicherweise die Folge einer Verordnungskaskade ist. Darunter versteht man eine – meist durch Nebenwirkungen bedingte – Verordnung weiterer Medikamente. So können Ödeme in Verbindung mit einem Kalziumantagonisten vom Dihydropyridin-Typ (z. B. Lercanidipin) die Verschreibung eines Schleifendiuretikums (z. B. Torasemid) nach sich ziehen. Wenn es unter Letzterem zu erhöhten Harnsäurewerten kommt, kann wiederum die Verordnung von Allopurinol die Folge sein, so dass aus einer Medikation schließlich drei werden. Wird der Kalziumantagonist abgesetzt, besteht wiederum das Risiko, dass die angestoßene Verordnungskaskade beibehalten wird. Ein weiteres Beispiel kann die Verordnung von Metoclopramid (MCP) zur besseren Beherrschung einer durch Digitalisglykoside assoziierten Übelkeit sein. Aufgrund des zentralen Dopaminantagonismus durch MCP kann hier eine Verordnung von Mirtazapin folgen. Das erklären Mann et al. mit vielen weiteren Beispielen aus ihrer täglichen Praxis [9, 13].
PIM-Analysen
Vor circa 20 Jahren hatte auch der US-amerikanische Geriater Mark H. Beers bereits angestoßen, bei älteren, alten und sehr betagten Patienten den Medikationsplan auf potenziell unangemessene Medikationen (engl.: Potentially inadequate medication, kurz: PIM) regelmäßig zu überprüfen und nur angemessene Arzneimittel einzusetzen. Um die nationalen Besonderheiten des Arzneimittelmarkts besser abzubilden, wurde in Deutschland daraufhin analog die PRISCUS-Liste implementiert. Später folgte die EU-(7)-PIM-Liste, um eine zumindest auf sieben EU-Ländern basierende Aufstellung von PIM anzubieten (Kasten 1) [8]. Hilfreich sind hier etwa Angaben zur begrenzten Anwendung von Protonenpumpeninhibitoren oder Benzodiazepinen, aber auch zur angemessenen Dosis von Spironolacton, um das Risiko einer Hyperkaliämie so gering wie möglich zu halten (Tabelle 3) [14]. Während die genannten PIM-Listen primär eine Dosismodifikation oder eine Therapieveränderung aufgrund einer PIM-Identifikation fokussieren, wurde mit der FORTA-Klassifikation (FORTA = Fit for the Aged) eine Stratifizierung dahingehend vorgenommen, dass es einerseits Arzneimittel gibt, die man bevorzugt in der Geriatrie einsetzen sollte, und andererseits Medikamente, die man in der Regel nicht verwenden sollte – etwa, wenn eine geringe Evidenz zur Nutzen-Risiko-Abwägung in der Geriatrie vorliegt oder bestimmte Risiken (z. B. das Sturzrisiko) kritisch eingestuft werden müssen [2].
- BEERS-Liste
- PRISCUS-Liste
- START, STOPP
- EU-(7)-PIM-Liste
- FORTA-Klassifikationssystem
- EURO-FORTA
Mit der EURO-FORTA-Klassifikation trieb man – ähnlich wie bei der EU-(7)-PIM-Liste – auch eine stärkere Einbindung weiterer EU-Länder voran, um eine übergeordnete Synchronisation der Medikationsempfehlungen voranzubringen [12]. Alle Listen sind selbstredend einer regelmäßigen Überarbeitung zu unterziehen, da sich ständig neue Erkenntnisse (z. B. neue Studiendaten in der Diabetologie) ergeben können, die zu beachten sind. Solche Konsensus-Empfehlungen können sonst schnell an Akzeptanz verlieren [18].
Deprescribing
Unter "Deprescribing" versteht man das Wegstreichen von Arzneimitteln in einem Medikationsplan. Dabei steht zunächst die Prüfung auf eine PIM, also eine potenziell unangemessene Medikation, im Fokus [3, 16]. Weitergehende "Deprescribing-Modelle" kontrollieren, ob der einzelne Patient im Rahmen der optimistisch geschätzten Lebenserwartung ("Lag time to benefit") überhaupt noch von bestimmten Arzneimitteln profitiert [11].
- Gibt es eine aktuelle Indikation für jedes einzelne Medikament?
- Ist das gewählte Medikament (Dosis) in der Indikationsstellung wirksam?
- Ist die Arzneiform praktikabel?
- Erfolgt eine Dosisanpassung an die Nierenfunktion (eGFR)?
- Werden ausgeprägt anticholinerg wirksame Pharmaka eingesetzt?
- Sind klinisch relevante Arzneimittel-Wechselwirkungen zu erwarten?
- Berichtet der Patient über Schwindel oder Stürze?
- Ergeben sich Anzeichen für eine Verordnungskaskade oder eine Doppelverordnung?
- Erfolgte ein Medikationsabgleich mit Checklisten (z. B. EU-(7)-PIM, FORTA)?
- Sind Probleme in Verbindung mit einer Neuverordnung aufgetreten?
- Bestehen Anzeichen einer Non-Adhärenz?
- Wurden Überlegungen zum Therapeutischen Drug Monitoring (TDM) angestellt?
In einer Pilotstudie von McKean et al. wurde z. B. bei 34 % der akut aufgenommenen Senioren (Alter ≥ 65 Jahre) die Medikation von anfangs zehn (9 – 12) auf sieben (5 – 9) bei der Entlassung reduziert, wobei mindestens zwei Fertigarzneimittel bei 84 % der Patienten und mindestens vier bei der Hälfte von ihnen wegfielen (Deprescribing). Am häufigsten wurden Statine, Magen-pH-steigernde Arzneimittel, ACE-Hemmer/Angiotensin-II-Antagonisten und inhalative Bronchodilatatoren aus dem Medikationsplan gestrichen. Nur bei 1,2 % war im Follow-up symptombedingt eine Wiederaufnahme von bestimmten Medikamenten erforderlich [10]. Generell ist allerdings darauf zu achten, dass notwendige Therapien nicht vorenthalten werden dürfen, sondern vielmehr unter dem Aspekt unerwünschter Begleiteffekte, mangelnder Evidenz, alternativer Optionen oder unzureichender Effektivität eine patientenzentrierte, individualisierte Nutzen-Risiko-Abwägung vorgenommen wird, ob ein Medikament abgesetzt werden kann oder nicht [3].
Zusammenfassung und Diskussion
Durch den demografischen Wandel steigt auch der Medikamentenbedarf, so dass schnell die Vorzeichen einer Polypharmazie erreicht werden können, die mit einem erhöhten Risiko für Notfaufnahmen und Krankenhauseinweisungen und beim Patienten mit Funktionsverlusten, kognitiven Einschränkungen, Non-Adhärenz, mehr Neben- und Wechselwirkungen einhergehen [17]. Besonders kritisch ist hier das Risiko für schwere Stürze zu sehen, die mit beachtlicher Morbidität und Mortalität einhergehen. Eine prospektive Kohorten-Studie von Dhalwani zeigt eindrucksvoll, dass mit mindestens vier Arzneimitteln im Medikationsplan das Sturzrisiko um 18 %, bei Hyper-Polypharmazie sogar um 50 % innerhalb von zwei Jahren steigt [2]. Die Arbeitsgruppe geht hier nicht konkret auf die besonders relevanten Arzneimittel ein. Vor allem auf anticholinerg wirksame Pharmaka ist aber ein besonderes Augenmerk zu legen. Dabei sollte man auch eine Stratifizierung der Arzneimittel vornehmen (Tabelle 4) [7].
Generell sollte jeder Arzt sehr sorgfältig mit Medikamenten umgehen, die mit den häufigsten Auslösern für tödlich verlaufende Arzneimittel-ereignisse in Verbindung stehen – allen voran: Methotrexat, Opioide, Digoxin, Theophyllin, Acetylsalicylsäure, Vitamin-K-Antagonisten oder nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) [17].
Als wichtigste und am häufigsten eingesetzte Medikamente, die in der Gerontopsychiatrie zu relevanten Interaktionen führen, wurden von Hefner et al. vor allem Melperon (Cyp2D6-Inhibitor), Duloxetin (Cyp2D6-Inhibitor), Omeprazol (Cyp2C19-Inhibitor) und Carbamazepin (Cyp2C/3A-Induktor) identifiziert. Sie schlagen deshalb einen Wechsel von Melperon auf Pipamperon, von Omeprazol auf Pantoprazol und von Carbamazepin auf Lamotrigin oder Valproat vor, wenn die indikationsgerechte Behandlung weiter aufrechterhalten, das Wechselwirkungsrisiko aber auf ein Minimum reduziert werden soll. Bei erheblichen Verunsicherungen zu Nebenwirkungen unter einer Therapie kann man bei verschiedenen Arzneimittelgruppen auch eine Bestimmung des Serumspiegels anfordern, so wie dieser für viele Antidepressiva und Antipsychotika definiert ist [4].
Hilfreich ist auch eine Checkliste, wie sie durch den Medication Appropriateness Index (MAI) und die Good Palliative Geriatric Practice (GPGP) auf den Weg gebracht wurde (Kasten 2) [3 – 5]. So sollte man bei jedem Präparat immer wieder kritisch die Frage nach der klaren Indikation (z. B.: Besteht noch ein Bedarf an einem Protonenpumpenhemmer?), möglichen Arzneimittelinteraktionen und korrekten Dosierungen stellen (z. B.: Ist die Dosis an die eingeschränkte Nierenfunktion angepasst?). Auch sollte man Optionen des Deprescribing überdenken, denn: Weniger kann mehr sein!

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (17) Seite 16-20