Ergotherapie kann dazu beitragen, bei Patient:innen mit Demenz die Selbstständigkeit in den persönlich relevanten Betätigungsbereichen zu stärken. Das Training täglicher Aktivitäten kann die Lebensqualität und aufgrund der aktivierenden und stimulierenden Wirkung auch die Prognose verbessern.

Aktuell leben in Deutschland etwa 1,6 Millionen Menschen mit Demenz [1]. Mit Medikamenten können Demenzen bisher nur begrenzt beeinflusst werden. Trotzdem können Sie etwas für Ihre Patient:innen tun: Ergotherapie hilft Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen, maximale Selbstständigkeit zu erhalten. Das Heilmittel wird in der S3-Leitlinie empfohlen und die Verordnung belastet Ihr Budget nicht.

Versetzen Sie sich in eine Person mit Demenz

Vor zwei Jahren traten die ersten Schwierigkeiten auf. In Ihrer Freizeit haben Sie stets gerne frisch gekocht. Dann fanden Sie jedoch manchmal die notwendigen Utensilien nicht und konnten sich oft nicht mehr an die Rezepte erinnern. Die Hilfe Ihrer Partnerin/Ihrem Partner anzunehmen, fällt Ihnen schwer. Vor einigen Monaten haben Sie das Kochen eingestellt, um weitere Frustration zu vermeiden. Seither sind Sie gedrückter Stimmung. Häufig laufen Sie ruhelos durch das Haus. Immer öfter kommt es vor, dass Sie sich im Raum irren und Sie sind bereits zweimal gestürzt. Vor ein paar Wochen wurde die Diagnose Alzheimer-Demenz gestellt. Der Blick in die Zukunft macht Ihnen Angst und Ihre Ihre Partnerin/Ihr Partner wirkt auf Sie ebenfalls verunsichert. Zur Unterstützung hat Ihnen Ihre Hausärzt:in Ergotherapie verschrieben.

Bei einem ersten Hausbesuch stellt sich die Ergotherapeut:in Ihnen vor. Nach einem einleitenden Gespräch erfragt sie, welche Aktivitäten von Ihnen beiden als besonders problematisch und als besonders wichtig wahrgenommen werden. Sie beschließen gemeinsam, zuerst an der eigenständigen Zubereitung einer Mahlzeit zu arbeiten. Die Ergotherapeut:in beobachtet Sie bei den Vorbereitungen und erkennt Ihre Schwierigkeiten, das Geschirr zu finden und mehrere Dinge gleichzeitig zu bedenken. In den nächsten Sitzungen erarbeiten Sie gemeinsam einzelne Handlungsschritte. Sie etablieren die Routine, zunächst das Geschirr, dann die Zutaten bereitzulegen und den Herd erst anzuschalten, wenn alle Vorbereitungen (putzen, schälen, würfeln, hacken) getroffen sind. Zusammen mit Ihrer Partnerin/Ihrem Partner wird eine angepasste Aufgabenteilung erarbeitet und wo nötig Wissen zum Krankheitsbild vermittelt, wo nötig. Außerdem empfiehlt Ihnen die Ergotherapeut:in durchsichtige Schranktüren, um den Überblick über die Utensilien zu erleichtern, und sie regt die Sammlung von Lieblingsrezepten in einem Buch an. Nach einigen Sitzungen gewinnen Sie die Freude am Kochen zurück. Wenngleich Sie hier und da etwas Unterstützung brauchen, hilft Ihnen die Struktur während der Tätigkeit sehr. Wieder am Geschehen beteiligt zu sein, ist ein großartiges Gefühl. Nun liegt Ihrer Partnerin/Ihrem Partner noch die Sicherheit im Haus am Herzen. Wieder beobachtet Sie die Ergotherapeut:in. Sie erkennt ein paar Stolperfallen und regt an, diese zu entfernen. Sie schlägt außerdem vor, die Türen im Flur mit Schildern zu versehen.

Aufkeimende Konflikte vermag die Ergotherapeut:in dank ihrer Ausbildung einfühlsam aufzulösen. Die Informationen und Hinweise, die sie gibt, helfen auch Ihrer Partnerin/Ihrem Partner sehr, in die neue Rolle zu finden und Sie besser zu verstehen.

Info – S3-Leitlinie Demenzen:
"Es gibt Evidenz, dass ergotherapeutische, individuell angepasste Maßnahmen bei Patient:innen mit leichter bis mittelschwerer Demenz unter Einbeziehung der Bezugspersonen zum Erhalt der Alltagsfunktionen beitragen. Der Einsatz sollte angeboten werden."

Empfehlungsgrad B, Evidenzebene Ib, Leitlinienadaptation NICE-SCIE 2007 [2]

Ergotherapie bei Demenz – Kompensation nachlassender kognitiver Fähigkeiten

Durch die von einer Demenz verursachten kognitiven Einschränkungen werden viele persönlich bedeutsame Handlungen unmöglich. Der Verlust von Selbstständigkeit kann psychologische Symptome bei Demenz und Inaktivität nach sich ziehen, durch die das Fortschreiten der Demenz begünstigt wird. Ergotherapie kann diesen Teufelskreis durchbrechen.

Ergotherapie als psychisch-funktionelle Behandlung ist ein strukturiertes Verfahren, bestehend aus einer Anamnese, der gemeinsamen Erarbeitung persönlich bedeutsamer Therapieziele anhand eines Betätigungsprofils und der anschließenden systematischen Zielerreichung in enger Zusammenarbeit mit den Angehörigen und unter Berücksichtigung der Wohnumgebung. Mit "Körbeflechten, Seidenmalerei und Nähen"* oder "Handarbeit" hat Ergotherapie bei Demenz wenig zu tun. In Ergotherapie-Manualen wie WHEDA [11], Ergodem [8] oder HED-I [3] ist das Vorgehen im Detail beschrieben. Einige Ergotherapeut:innen sind speziell für die Durchführung dieser Programme ausgebildet und beherrschen unter anderem spezielle Gesprächstechniken. Dennoch kann Ergotherapie bei Demenz von allen Ergotherapeut:innen im Erwachsenenbereich durchgeführt werden.

In späteren Stadien der Demenz bleibt die Beratung und Unterstützung der Angehörigen weiterhin Aufgabe der Ergotherapeut:innen, für die Menschen mit schwerer Demenz treten dann Verfahren wie die basale Stimulation in den Vordergrund.

Ziel der Ergotherapie ist es, die größtmögliche Selbstständigkeit in den persönlich relevanten Betätigungsbereichen Ihrer Patient:innen zu erhalten. Ergotherapie reduziert so das Leiden, das aus der Demenz resultiert, und lindert die Sekundärsymptomatik (u. a. Depression, Apathie, Aggression, Angst). Zudem ist das Verfahren aufgrund seiner aktivierenden und stimulierenden Natur prognostisch günstig, denn die Fähigkeiten der Menschen mit Demenz mit Hilfe von systematischem Training, Umgebungsanpassungen und gezieltem Einsatz von Hilfsmitteln zu erhalten, beugt drohender Inaktivität vor. Autonomieerleben und Erfolgserlebnisse stärken den Selbstwert und erhöhen die Lebensqualität (Abb. 1). Auch die pflegenden Angehörigen werden unterstützt und für den Erhalt der Autonomie sensibilisiert.

Evidenz

Die Wirksamkeit von Ergotherapie konnte empirisch nachgewiesen werden. Ergotherapie wirkt sich nachweislich positiv auf die Lebensqualität [6, 10], herausforderndes Verhalten [5, 9] und den Erhalt der Selbstständigkeit [5, 6] aus. Auch das Belastungsempfinden der Angehörigen konnte reduziert [5] und das Kompetenz-/Kontrollerleben verbessert werden [6]. Ergotherapie wird deshalb in der S3-Leitlinie der DGN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie) und DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie und Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde) empfohlen [7].

Info – Ziele und Methoden der Ergotherapie
Wichtige Ziele der Ergotherapie:
  • Selbstständigkeit/Autonomie maximieren
  • Handlungsfähigkeit erhalten
  • Kompetenzerleben/Selbstwert steigern
  • Inaktivität vorbeugen
  • Lebensqualität erhöhen
  • Angehörige unterstützen

Wichtige Methoden der Ergotherapie:
  • Aktivitäten des täglichen Lebens einüben
  • Umgebung anpassen
  • Einbeziehung von Hilfsmitteln
  • Biografische Arbeit
  • Psychoedukation
  • Vermittlung von Ressourcen

Verordnung

Im Oktober 2020 ist ein neuer Heilmittelkatalog erschienen, der am 01.01.2021 in Kraft getreten ist [7]. Es gibt nun ein Rezept für alle Heilmittel, was die Verordnung deutlich vereinfacht. Wenn Sie nach einer neurologischen Eingangsdiagnostik Ergotherapie verordnen möchten, kreuzen Sie dies auf dem Rezept an und tragen die Diagnosegruppe PS4 (ehemals PS5) ein (Psychische Störungen, Dementielle Syndrome). Nun können Sie zwischen Hirnleistungstraining und psychisch-funktionellem Training wählen. Hirnleistungstraining entspricht pro Einheit einer halben Stunde Zeit für angeleitete kognitive Übungen. Für die psychisch-funktionelle Behandlung hingegen stehen pro Einheit 60 Minuten zur Verfügung und sie beinhaltet das wertvolle Training täglicher Aktivitäten.

Das Heilmittel kann in allen Stadien der Demenz angewendet werden. Bei Menschen mit beginnender Demenz hilft Ergotherapie besonders, die Selbstständigkeit möglichst lange zu erhalten, und kann den Verbleib in der Häuslichkeit verlängern. In späteren Stadien kann zum Beispiel mit sensorischen Verfahren unter anderem die Körperwahrnehmung gefördert werden. Die Angehörigen werden informiert, beraten und entlastet. Besonders gut können Ergotherapeut:innen mit ihren Patient:innen an den Aktivitäten des täglichen Lebens arbeiten, wenn aufsuchende Ergotherapie verschrieben wird. In der vertrauten Wohnumgebung können die Übungen optimal an die individuellen Bedürfnisse angepasst werden.

"Letztendlich geht es immer bergab."* Aber Ergotherapie kann die Folgen der Demenz wirksam bremsen und verbessert die Lebensqualität nicht nur Ihrer Patient:innen.

Info – Mehr Informationen
Website der Technischen Universität Chemnitz: Um Ärzt:innen einen schnellen Überblick über Ergotherapie und Verhaltenstherapie bei Demenz und die Rahmenbedingungen der Verordnung zu ermöglichen, haben wir auf folgender Website Informationsmaterial bereitgestellt. Das Material wird mit der Zeit aktualisiert und erweitert.

Weitere Informationen finden Sie zum Beispiel auf den Seiten der Ergotherapieverbände BED und DVE

Video zu häuslicher Ergotherapie bei Demenz.

Verhaltenstherapie, eine sinnvolle Ergänzung

Neben Ergotherapie gibt es noch weitere hilfreiche nichtmedikamentöse Interventionen bei Demenz (kognitive Stimulation, Aktivierungstherapie etc.). Als ähnlich strukturiertes und zeitlich begrenztes Verfahren kann besonders Verhaltenstherapie eine ergotherapeutische Behandlung gut ergänzen [4]. Verhaltenstherapie kann psychologische Symptome bei Demenz reduzieren. Methoden sind hierbei unter anderem kognitive Umstrukturierung, Biografiearbeit sowie Tagesstrukturierung. Davon können auch Angehörige profitieren. "Psychosoziale Interventionen zur Behandlung von Depressionen" werden ebenfalls in der S3-Leitlinie Demenzen empfohlen [2]. Eine Kostenübernahme durch die Krankenkassen ist allerdings bisher nur dann möglich, wenn eine psychische Erkrankung gemäß ICD-10 (beispielsweise eine Depression, eine Angststörung oder im Falle der Angehörigen eine Anpassungsstörung) vorliegt.

ESSENTIALS – Wichtig für die Sprechstunde
  • Ergotherapie kann Selbstständigkeit und Handlungsfähigkeit erhalten und das Selbstwertgefühl steigern.
  • Zu den Methoden der Ergotherapie gehören Übungen zu Aktivitäten des täglichen Lebens, Einsatz von Hilfsmitteln, biografische Arbeit und Psychoedukation.
  • Ergotherapie kann für Menschen mit Demenz ab dem vollendeten 70. Lebensjahr sowie bei Alzheimer-Krankheit mit frühem Beginn extrabudgetär verordnet werden.


* mit dem Stern gekennzeichnete Zitate sind Interviews mit Allgemeinmediziner:innen entnommen.


Literatur:
1. Deutsche Alzheimer Gesellschaft, & H. Bickel. (2020). Die Häufigkeit von Demenzerkrankungen. Deutsche Alzheimer Gesellschaft. https://www.deutsche-alzheimer.de/fileadmin/alz/pdf/factsheets/infoblatt1_haeufigkeit_demenzerkrankungen_dalzg.pdf
[2] Deutsche Gesellschaft für Neurologie, & Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (2016). S3-Leitlinie Demenzen. Stand: 24. Januar 2016, DGPPN & DGN. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/038-013l_S3-Demenzen-2016-07.pdf
[3] Flotho, W., & Sibold, C. (2014). HED-I Häusliche Ergotherapie bei Demenz. Interventionsprogramm für Menschen mit leichter bis mittlerer Demenz und ihre Angehörigen im häuslichen Umfeld. Schulz-Kirchner.
[4] Frankenstein, L. & Jahn, G. (2020). Behavioral and Occupational Therapy for Dementia Patients and Caregivers. GeroPsych: The Journal of Gerontopsychology and Geriatric Psychiatry, 33(2), 85–100. https://doi.org/10.1024/1662-9647/a000225
[5] Gitlin, L., Corcoran, M., & Winter, L. (2001). A randomized, controlled trial of a home environmental intervention: Effect on efficacy and upset in caregivers and on daily function of persons with dementia. The Gerontologist, 41. https://doi.org/10.1093/geront/41.1.4
[6] Graff, M. J. L., Vernooij-Dassen, M. J. M., Thijssen, M., Dekker, J., Hoefnagels, W. H. L., & Olde Rikkert, M. G. M. (2006). Community based occupational therapy for patients with dementia and their care givers: randomised controlled trial. BMJ. https://doi.org/10.1136/bmj.39001.688843.BE
[7] Heilmittel-Richtlinie und Heilmittelkatalog. Das Standardwerk für die regelkonforme Verordnung von Heilmitteln. Aktuelle Ausgabe zur Neufassung der Heilmittel-Richtlinie 2020 mit allen Hinweisen zur extrabudgetären Heilmittelverordnung. Buchner. Intellimed
[8] Holthoff, V., Reuster, T., & Schützwohl, M. (2013). ERGODEM. Häusliche Ergotherapie bei Demenz - ein Leitfaden für die Praxis. Thieme.
[9] Kim, S.-Y., Yoo, E.-Y., Jung, M.-Y., Park, S.-H., & Park, J.-H. (2012). A systematic review of the effects of occupational therapy for persons with dementia: A meta-analysis of randomized controlled trials. Neurorehabilitation, 31. https://doi.org/10.3233/NRE-2012-0779
[10] Pimouguet, C., Le Goff, M., Wittwer, J., Dartigues, J.-F., & Helmer, C. (2016). Benefits of occupational therapy in dementia patients: Findings from a real-world observational study. Journal of Alzheimer’s Disease, 56. https://doi.org/10.3233/JAD-160820
[11] Voigt-Radloff, S., Rühlemann, A., & Hüll, M. (2012). WHEDA - Wirksame Häusliche Ergotherapie für Demenzerkrankte und Angehörige. Behandlungsmanual. Schulz-Kirchner.



Autoren

Lou Louise Frankenstein, Dipl.-Psych. (Foto)

Prof. Dr. Georg Jahn
Institut für Psychologie
Technische Universität
09120 Chemnitz

Interessenkonflikte: Die Autor:innen haben keine deklariert



Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (5) Seite 16-19