Die Kenntnis des häuslichen und familiären Umfeldes seiner Patienten kann den Arzt in einen Konflikt widerstreitender Interessen stürzen. Besonders problematisch ist der Verdacht oder gar die Gewissheit über eine Kindesmisshandlung.

Dem Hausarzt obliegt „die allgemeine und fortgesetzte ärztliche Betreuung eines Patienten in Diagnostik und Therapie bei Kenntnis seines häuslichen und familiären Umfeldes“. So steht es in § 73 Absatz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V). Doch was, wenn aus dieser Kenntnis der Verdacht auf eine Kindesmisshandlung erwächst? Soll der Arzt seine Erkenntnisse den Behörden mitteilen? Muss er es möglicherweise sogar, um Schlimmeres zu verhindern? Und was wird dann aus der ärztlichen Therapie, wenn mit der Meldung das Vertrauensverhältnis zum Patienten zerstört wird?

Mit dem Anfang 2012 in Kraft getretenen Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) hatte der Gesetzgeber die Rechtslage neu geordnet und entschieden, dass eine Rechtspflicht für Ärzte, Missbrauchsfälle bei einer Behörde anzuzeigen, nicht besteht. Er hat es sogar ausdrücklich abgelehnt, eine Ausnahmeregelung für die insoweit bestehenden landesgesetzlichen Meldepflichten in Bayern und Sachsen-Anhalt in das KKG aufzunehmen. Er war der Auffassung, dass eine gesetzliche Meldepflicht Eltern davon abhalten könnte, ihr Kind beim Arzt vorzustellen und es untersuchen zu lassen. Da nach Artikel 31 Grundgesetz das Bundesrecht entgegenstehendes Landesrecht „bricht“, gelten die landesgesetzlichen Meldepflichten seit Inkrafttreten des KKG nicht mehr.

Der Gesetzgeber hat einen Wertungswiderspruch beseitigt

Eine Vorschrift hatte der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des KKG jedoch unberührt gelassen: § 294a SGB V. Danach sind Vertragsärzte verpflichtet, bei Hinweisen auf drittverursachte Gesundheitsschäden die erforderlichen Daten einschließlich der Angaben über Ursachen und den möglichen Verursacher den Krankenkassen mitzuteilen. Darunter fällt auch die Pflicht zur Mitteilung über Tat und Täter einer Kindesmisshandlung.

Den Wertungswiderspruch zwischen SGB V und KKG hat der Gesetzgeber nun beseitigt. Anlässlich eines Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher Vorschriften hat er § 294a SGB V um den Absatz 2 ergänzt. Seit dem 13.8.2013 ist danach die Meldepflicht bei Gesundheitsschäden, die Folge einer Misshandlung, eines sexuellen Missbrauchs oder einer Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen sein können, aufgehoben. Damit wollte der Gesetzgeber der von behandelnden Ärzten, psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten geäußerten Befürchtung Rechnung tragen, dass durch die Mitteilung und daran anschließende Schritte der Krankenkasse gegen den möglichen Verursacher Konflikte im Umfeld der Betroffenen ausgelöst werden oder sonstige Wirkungen hervorgerufen werden, die zu einer Gefährdung des Behandlungserfolges führen können.

Für Kindesmisshandlungen existieren nun keine gesetzlich speziell ausgeformten arztbezogenen Meldepflichten mehr. Solche können gleichwohl aus allgemeinen strafrechtlichen Vorschriften in besonders eindeutigen Fallkonstellationen entstehen, wenn andere Vorgehensweisen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen weiteren und dazu schweren Missbrauch nicht verhindern können. Bleibt der Arzt untätig, kann er sich dann wegen Körperverletzung durch Unterlassen oder wegen Aussetzung strafbar machen. Eine unterlassene Hilfeleistung kommt demgegenüber in der Regel nicht in Betracht, weil es an dem dafür erforderlichen „Unglücksfall“ fehlt.

Der Arzt muss weitere Misshandlung verhindern

Zwar wird die Schwelle zum strafrechtlich relevanten Nichttätigwerden eher selten überschritten sein, allerdings ist jeder Arzt auch unterhalb dieser Schwelle berufsrechtlich (und berufsethisch) verpflichtet, Kindesmisshandlungsfälle zu verhindern. Denn alle Länderberufsordnungen statuieren eine aktive Pflicht der Ärzte, die Gesundheit ihrer Patienten zu schützen. Diese Schutzpflicht beinhaltet zwar keine Meldepflicht, aber die Berechtigung, unter bestimmten Umständen Informationen über einen möglichen Kindesmissbrauch weiterzugeben.

Allerdings stellt der mit der Weitergabe einhergehende Bruch der ärztlichen Schweigepflicht eine Straftat nach § 203 Strafgesetzbuch dar. Dem Arzt ist es deshalb nicht ohne weiteres gestattet, seine Erkenntnisse einem Dritten, z. B. der Staatsanwaltschaft oder dem Jugendamt, zu offenbaren. Er bedarf vielmehr eines Rechtfertigungsgrundes, der entweder im Vorliegen eines Notstandes (§ 34 StGB) oder einer Meldeberechtigung nach § 4 KKG liegen kann. Die in beiden Normen steckenden Wertungen sind im Wesentlichen deckungsgleich, so dass im Folgenden eine Differenzierung nicht erforderlich ist.

Voraussetzung ist zunächst einmal, dass überhaupt eine Kindesmisshandlung oder ein Missbrauch vorliegt. Absolute Gewissheit wird allenfalls bei einem Tätergeständnis vorliegen. In der Regel wird der Arzt nur mehr oder weniger typische Verletzungsbilder vorfinden oder gar nur auf Schilderungen des Kindes oder Dritter, z. B. der Eltern, angewiesen sein. Voreilige Schlüsse sind ebenso unangebracht wie ein Zögern vor der schweren Aufgabe.

Stellt der Arzt hinreichende Anzeichen für eine Kindesmisshandlung fest, ist der Bruch der Schweigepflicht allerdings nicht allein wegen des bloßen Wunsches, der Täter möge für seine Tat bestraft werden, gerechtfertigt. Der Arzt ist nicht der Hilfsbeamte des Staatsanwaltes. Erforderlich ist vielmehr stets eine Wiederholungsgefahr. Diese muss sich aus konkreten Anhaltspunkten des Einzelfalles ergeben. Die Ansicht, Kindesmissbrauchshandlungen würden typischerweise wiederholt begangen, reicht nicht aus. Eine Wiederholungsgefahr wird man beispielsweise annehmen können, wenn sich am Körper des Kindes entsprechende ältere und neuere Verletzungen zeigen. Auch die Schilderungen des Kindes selbst können eine ausreichende Wiederholungsgefahr begründen.

Zuständig ist das Jugendamt

Liegt eine Wiederholungsgefahr vor, muss der Arzt klären, ob es genügt, die Situation mit dem Kind oder den Sorgeberechtigten zu erörtern und auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinzuwirken. Dann wäre die Einschaltung staatlicher Behörden nicht erforderlich. Dabei spielt das Alter des Kindes bzw. des Jugendlichen ebenso eine Rolle wie die Reaktion der Eltern oder des Täters bzw. der Täterin. Scheitert dieses Vorgehen oder verspricht es erkennbar keinen Erfolg – z. B. wenn der Täter seine Tat zwar einräumt, sich aber eine „Einmischung in innerfamiliäre Angelegenheiten“ verbittet –, muss der Arzt prüfen, ob und welche Mitteilungen an Dritte geeignet und angemessen sind. Der Arzt kann zu dem Ergebnis kommen, dass sein eigenes therapeutisches Tätigwerden genügt. Er kann aber auch zu dem Ergebnis kommen, das Jugendamt einzuschalten. Ein Einschalten der Staatsanwaltschaft ist in der Regel nicht angezeigt, da deren Fähigkeit im Wesentlichen in der Verfolgung bereits begangener und nicht in der Verhinderung künftiger Straftaten liegt.

Nimmt der Arzt irrtümlich einen Kindesmissbrauch an, handelt es sich um einen sogenannten Erlaubnistatbestandsirrtum. Ein Geheimnisverrat wäre dann nicht vorsätzlich begangen und bliebe straflos. Das gilt nach Ansicht des Bundesgerichtshofes auch dann, wenn der Irrtum des Arztes auf Fahrlässigkeit beruht.

Handelt es sich um einen Missbrauchsfall und war der Arzt der fehlerhaften Annahme, er sei trotz bestehender Therapiewilligkeit des Täters oder Wehrhaftigkeit des Opfers zur Offenbarung berechtigt, dann liegt ein sogenannter Verbotsirrtum vor. Er führt nur dann zur Straflosigkeit, wenn er unvermeidbar war, was nur selten der Fall ist.

Alles in allem bleibt der Umgang mit der ärztlichen Schweigepflicht beim Verdacht auf Kindesmissbrauch eine Frage des Einzelfalles, für die das deutsche Recht zwar einen Rahmen, aber keine vorgefertigten Antworten bereithält. Über bestehende Hilfsangebote informieren alle Ärztekammern in Leitfäden.



Autor:

Torsten Münnch

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht
Dierks + Bohle Rechtsanwälte, Berlin

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2013; 35 (19) Seite 42-44