Ob akut oder chronisch, als Monosymptom oder innerhalb eines Symptomkomplexes oder nach frustraner Facharztvorstellung: Patienten mit Kreuzschmerzen sind beim Hausarzt häufig. Doch was kann er hier tun – vor allem bei Neupatienten, die man nur schwer einschätzen kann? Medikamentöse Optionen schrumpfen meist durch Vorerkrankungen (Kontraindikationen) und Polypharmazie, gleichzeitig mehren sich die "Rote-Hand-Briefe". Intramuskuläre Injektionen gelten als obsolet, wirbelsäulennahe erfordern besondere Expertise. Was kann die Manuelle Medizin hier leisten? Und was sagen die aktuellen Leitlinien dazu?

Auch die Manuelle Medizin (früher: Chirotherapie) stellt sich den Forderungen der evidenzbasierten Medizin und der Tatsache, dass Leitlinien zunehmend bedeutsamer werden. Zum Thema "Kreuzschmerz" gibt es zwei relevante Leitlinien. Welche Rolle die Manuelle Medizin darin spielt, klärt dieser Beitrag. In der Leitlinie "Nicht-spezifischer Kreuzschmerz" ist die manualmedizinische Behandlung mittels Mobilisation/Manipulation als "Kann"-Empfehlung zu finden. In der Leitlinie "Spezifischer Kreuzschmerz", auf die hier näher eingegangen wird, ist bei der Diagnose einer Blockierung die manualmedizinische Therapie eine "Soll"-Empfehlung. Was bedeutet dies für den praktischen Alltag in der Basisversorgung?

Manuelle Medizin – was ist das überhaupt?

Die Manuelle Medizin ist eine schulmedizinische Disziplin und orientiert sich streng an wissenschaftlich nachgewiesenen neurophysiologischen Zusammenhängen: Wie können mit manuellen Techniken reversible Funktionsstörungen des Bewegungsapparats einschließlich ihrer Wechselwirkungen mit anderen Organsystemen diagnostiziert und therapiert werden?

Die Manuelle Medizin wird leider oft falsch wahrgenommen, u. a. auch wegen der Vielzahl paramedizinischer Anbieter, die ebenfalls mit ihren Händen arbeiten (und zugegebenermaßen oft auch Erfolg haben), gleichzeitig aber esoterische Ansätze verfolgen und teilweise bestehende "Voodoo-Wünsche" mancher Patienten bedienen. Zudem war die bisherige Rechtsprechung und Berichterstattung über manuelle Maßnahmen und ihre vermeintlichen Komplikationen leider in ihrer Wortwahl oft mehr als unglücklich und retrospektiv gesehen einfach falsch.

So können wir heute mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass eine lege artis durchgeführte manuelle Behandlung keine gesunden Strukturen wie Bandscheiben oder Hirn-zuführende Gefäße schädigen kann. Wird nach einer manuellen Behandlung eine strukturelle Läsion der A. vertebralis oder einer Bandscheibe klinisch evident und bildmorphologisch nachgewiesen, ist der Zusammenhang zunächst zeitlich und nicht kausal. Das heißt, die strukturelle Läsion bestand schon vorher und die nächste spontane Aktivität (z. B. Bierkiste heben oder Schulterblick beim Autofahren) hätte die gleichen Folgen haben können.

Kasten 1: Weiterbildung Manuelle Medizin

Die Manuelle Medizin ist eine Zusatzbezeichnung nach der (Muster-)Weiterbildungsordnung (MWBO). Diese Zusatz-Weiterbildung umfasst in Ergänzung zur Facharztkompetenz die Erkennung und Behandlung reversibler Funktionsstörungen des Bewegungssystems einschließlich ihrer Wechselwirkung mit anderen Organsystemen mittels manueller Untersuchungs- und Behandlungstechniken.

Mindestanforderungen gemäß § 11 MWBO: Facharztanerkennung in einem Gebiet der unmittelbaren Patientenversorgung, zusätzlich: 320 Stunden Kurs-Weiterbildung in Manueller Medizin, davon
  • 120 Stunden Grundkurs (i. d. R.: zwei Wochen oder vier Doppelwochenenden)
  • 200 Stunden Aufbaukurs (i. d. R.: knapp vier Wochen oder acht Doppelwochenenden)
Die Kurs-Weiterbildung kann man durch zwölf Monate Weiterbildung unter Befugnis an Weiterbildungsstätten ersetzen.

Was sagt die Leitlinie "Spezifischer Kreuzschmerz" konkret aus?

In dieser Leitlinie finden sich als spezifische Dia-gnosen/Entitäten die sogenannte "Blockierung" und die "myofasziale Dysfunktion". Bei den Therapieempfehlungen fallen die Begriffe "Mobilisation", "Manipulation", "Muskelenergie-" und "Weichteiltechnik", ohne dass diese weiter definiert und voneinander abgegrenzt werden. Die Blockierung ist eine manualmedizinische, rein klinische Diagnose ohne Korrelat in einer Bildgebung und kein rein mechanisches Phänomen, wie man oft annimmt. Die Blockierung ist ein neurophysiologischer Prozess, bei dem es zu unbalancierten Verspannungen der tiefen autochthonen Rückenmuskulatur kommt, wodurch das Bewegungssegment funktionell in seiner Beweglichkeit limitiert wird. Oft (aber nicht immer) ist dieser Prozess schmerzhaft.

Die Diagnose "Blockierung" wird bei folgender Befund-Trias gestellt: Es findet sich bei eingeschränkter segmentaler Beweglichkeit ein typischer Palpationsbefund der segmental zugeordneten tiefen autochthonen Rückenmuskulatur. Zusätzlich reagiert diese Muskulatur in typischer Weise bei einer Provokationstestung, bei der sich eine sogenannte freie Richtung finden lässt. Hierbei nehmen Schmerzen und Spannung in der palpierten Muskulatur ab. Nur wenn alle drei Bedingungen (Bewegungseinschränkung, Palpationsbefund und positiver Provokationstest) erfüllt sind, darf manipuliert werden.

Betrachtet man die grundlegenden neurophysiologischen Zusammenhänge, kann man die Blockierung auch als segmentalen Schutzreflex verstehen. Analog zu einem Tier, das sich die Pfote verletzt hat und lahmt, will der menschliche Körper bei einer Blockierung das zugeordnete Wirbelkörper-Bewegungssegment nicht nutzen und "lahmt" auf segmentaler Ebene.

Die myofasziale Dysfunktion zeigt sich klinisch weniger eindeutig, führend sind hier folgende Befunde zu sehen: eingeschränkte Dehnbarkeit, Triggerpunkte, Abschwächung/reflektorische Hemmung der betroffenen Muskeln, palpable Spannungsveränderungen, eingeschränkte Verschieblichkeit, Bewegungskontrolldysfunktion, Koordinationsstörung, gestörte Bewegungs-/Haltungsmuster. Diese Befunde sind Folge komplexer reaktiver Vorgänge im Sinne einer Fehlregulation.

Manuelle Therapieformen

Bei der Mobilisation werden zwei Gelenkpartner/Wirbelpaare in ihrem physiologisch gegebenen Spielraum langsam gegenläufig bewegt. Bei der Manipulation nimmt man hingegen eine schnelle gegenläufige Mikrobewegung zweier Gelenkpartner/eines Wirbelpaars in ihrem physiologisch gegebenen Spielraum vor. Hier sei nochmals darauf hingewiesen, dass dabei niemals über die physiologischen Barrieren hinausgegangen wird.

In den letzten Jahren finden zunehmend Muskel- und Faszien-/Weichteiltechniken sowie Techniken, die an den inneren Organen ansetzen, Einzug in die Manuelle Medizin. Vor allem die sogenannten Muskelenergietechniken (MET) sind oft hocheffizient. Hierbei muss der Patient in besonderen Positionen gegen gezielten Widerstand des Behandlers bestimmte Muskelgruppen kontrolliert leicht anspannen und entspannen.

Schmerzhemmende Mechanismen

Für den Manualmediziner ist es essenziell, alle körpereigenen schmerzhemmenden Mechanismen zu kennen, um auf unterschiedlichen Wegen schmerzreduzierend behandeln zu können. Hierzu gehören selbstverständlich auch Medikamente (NSAR, Antidepressiva, Neuroleptika etc.), gegebenenfalls eine psychologische Begleitung und, falls erforderlich, weitere additive, auch invasive Interventionen. Manuelle Medizin ist somit weitaus mehr als nur Manuelle Therapie.

Kasten 2: Die Deutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin

Die Deutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin (DGMM) ist eine Dachgesellschaft von drei weiterbildenden Ärzteseminaren ( http://www.dgmm.de ).

Als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher Fachgesellschaften (AWMF) steht die DGMM im ständigen interdisziplinären Dialog um den medizinischen Fortschritt in Deutschland. Nationale Versorgungsleitlinien, wissenschaftliche Begutachtung manualmedizinischer Fragestellungen und gesundheitspolitische Fragen werden nicht ohne Vertreter der DGMM diskutiert.

Die DGMM hat als Dachgesellschaft für alle ausbildenden Mitgliedsseminare verbindliche Qualitätsstandards entwickelt und festgelegt. Regelmäßige Maßnahmen der Qualitätssicherung garantieren den langfristigen Bestand einer inhaltlich und didaktisch anspruchsvollen Weiterbildung.

Welche Effekte hat die Manuelle Medizin?

Der größte schmerzhemmende Einfluss bei einer manuellen Behandlung kommt über das GABA (Gamma-aminobutyricacid)-System, das vor allem seine Afferenzen aus allen Mechanorezeptoren und propriozeptiv aktiven Strukturen erfährt. Die Strukturen also, die man bei Untersuchung und Therapie in den Händen hat (Haut, Muskeln, Sehnen, Faszien, Gelenke etc.). Diese nach zentral geleiteten afferenten Signale werden auf spinaler Ebene auf das sogenannte Wide Dynamic Range Neuron (WDR) geschaltet. Hier konvergieren sie mit den Schmerzafferenzen und modifizieren deren Weiterleitung in die übergeordneten Abschnitte des ZNS. Gleichzeitig werden auf spinaler Ebene auch direkt die motorischen Einheiten (Alpha-Motoneurone und dazugehörige Muskelfasern) beeinflusst und damit die motorische Funktion direkt verbessert.

Man geht davon aus, dass die Manipulation (gezielte schnelle Mikrobewegung, s. o.) einen ganz erheblichen propriozeptiven Input in dieses System erzeugt. Von erheblicher Bedeutung ist hier sicherlich nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität beziehungsweise die (Schlüssel-)Stelle, an der man behandelt. Darüber hinaus spielen andere Zusammenhänge, wie die fasziale mechanische Verspannung des gesamten Körpers (Tensegrity-Modell) sowie die segmentale Zuordnung (im embryologischen Sinne) der neuromuskulären Strukturen, eine entscheidende Rolle bei einer zielführenden Manuellen Medizin.



Autor:

Dr. med. Hein Schnell D.O. (DAAO)

Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Kinderorthopädie – Manuelle Medizin, ärztliche Osteopathie (EROP) 81541 München
Kursleiter MWE Isny-Neutrauchburg
Vorsitzender AG Manuelle Medizin der DGOOC

Interessenkonflikte: Der Autor hat Beraterhonorare der Firma Stada erhalten.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (18) Seite 41-43