Ein Diagnoseirrtum führt nicht automatisch zur Haftung auf Schadensersatz und Schmerzensgeld. Diese Erkenntnis ist in Rechtsprechung und juristischer Fachliteratur völlig unstrittig und jüngst in zwei Oberlandesgerichtsurteilen in Hamm und Koblenz wieder bestätigt worden.

Eine zutreffende Diagnose zu stellen kann schwierig sein. Unspezifische oder mehrdeutige Symptome, Variationen im individuellen Krankheitsverlauf und eine große Zahl an Differentialdiagnosen können den Behandler auf eine falsche Fährte locken. Schon 1981 hat deshalb der Bundesgerichtshof (BGH) grundlegend festgestellt, dass eine objektiv unzutreffende Diagnose nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden kann [1]. Dabei ist er bis heute geblieben.

In einem jüngst entschiedenen Fall des OLG Hamm [2] hatte ein Gynäkologe zwar vor der Einlage eines Intrauterinpessars alle Untersuchungen vorgenommen, die fachlich geboten waren. Insbesondere hat er neben Spiegelung und Sondierung eine sonographische Kontrolle durchgeführt. Trotzdem blieb ihm das Vorliegen einer Vagina duplex und eines Uterus duplex – beides extrem seltene Anomalien – verborgen. Als die Patientin ein gesundes Kind zur Welt brachte, nahm sie den Arzt auf 5.000 Euro Schmerzensgeld, Verdienstausfall für die Kindesbetreuung in Höhe von 27.972 Euro und auf Zahlung von Kindesunterhalt in Anspruch.

Diagnose: Irrtum oder Fehler?

Das Gericht wies die Klage in zweiter Instanz ab. Der eingesetzte Gutachter bestätigte, dass die Anomalie mit den vor Einsetzen der Spirale fachlich gebotenen und vom Arzt regelgerecht durchgeführten Untersuchungen nicht feststellbar war. Es sei auch nicht erforderlich gewesen, "ins Blaue hinein" nach Anomalien zu fahnden, z. B. durch Verwendung einer anderen Spekulumgröße. Der Gynäkologe habe deshalb von – in Wahrheit nicht vorliegenden – regelgerechten anatomischen Verhältnissen ausgehen dürfen. Das Gericht nahm einen bloßen Diagnoseirrtum, aber keinen Diagnosefehler an. Ein unschädlicher Diagnoseirrtum liegt vor, wenn die erhobenen Befunde fachlich vertretbar gedeutet wurden. Von einem Diagnose- und damit von einem haftungsbegründenden Behandlungsfehler spricht man erst dann, wenn die gestellte Diagnose fachlich nicht mehr vertretbar ist.

In einem ebenfalls vor kurzem entschiedenen Fall des OLG Koblenz [3] ging es um ein Schmerzensgeld von 40.000 Euro gegen eine Allgemeinärztin, die im Bereitschaftsdienst der KV von einer Patientin wegen erheblicher Kopfschmerzen (rechtsseitig in Auge und Hinterkopf ausstrahlend) aufgesucht wurde. Die Ärztin kontrollierte die Pupillenreaktion mit dem Finger und einer Lampe und führte einen Romberg-Versuch, einen Unterberger-Tretversuch und einen Meningismustest durch. Sie diagnostizierte einen Migräneanfall und infundierte Metamizol, was zu einer gewissen Linderung führte. Unter Verschreibung eines weiteren Schmerzmittels und Hinweis auf die Erforderlichkeit einer Wiedervorstellung bei ausbleibender Besserung wurde die Patientin entlassen. 9 Tage später begab sie sich in die Uniklinik, wo man 6 Aneurysmen mit einer Aneurysmablutung in den Subarachnoidalraum feststellte.

Das Gericht wies die Klage der Patientin ab. Zwar könne ein Kopfschmerz auf eine Subarachnoidalblutung hindeuten. Zeigen sich jedoch bei einer ausführlichen neurologischen Untersuchung keine Ausfallerscheinungen und kann weder ein Meningismus diagnostiziert noch Übelkeit mit Erbrechen oder Bewusstseinsstörungen nachgewiesen werden, sei die Deutung der Kopfschmerzen als Migräneerscheinung vertretbar, zumal die Besserung durch das relativ schwache Schmerzmittel ebenfalls nicht auf eine Subarachnoidalblutung hingewiesen habe.

Beweislastumkehr bei grob fehlerhafter Diagnose

Beide Fälle zeigen, dass bei einer fachgerechten Befunderhebung und ihrer ausreichenden Dokumentation der Vorwurf des Diagnosefehlers ins Leere geht. Anders wäre der zweite Fall möglicherweise ausgegangen, wenn bei den Tests Auffälligkeiten aufgetreten wären, die Ärztin aber gleichwohl die Diagnose Migräne gestellt hätte. Dann wäre diese Falschdiagnose unter Umständen fachlich nicht mehr vertretbar und damit haftungsbegründend geworden. Ein derartiger Diagnosefehler kann sich sogar zu einem groben Behandlungsfehler steigern, wenn die gestellte Diagnose nicht nur fachlich falsch, sondern darüber hinaus schlechterdings unverständlich ist. Das hätte für den Arzt die unangenehme Folge, dass es bei der Frage der Kausalität zwischen dem Behandlungsfehler und den eingetretenen Gesundheitsschäden zu einer Beweislastumkehr kommt: Nicht mehr der Patient muss das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs beweisen, sondern der Arzt muss dessen Fehlen beweisen – was ihm in der Regel nicht möglich sein wird, so dass er den Prozess verliert.Interpretiert etwa die behandelnde Ärztin Unterleibsschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Beschwerden beim Wasserlassen, massenhaft Erythrozyten im Harnsediment sowie eine hühnereigroße Schwellung in der Leiste als Verdacht auf Nierenbeckenentzündung, während in Wahrheit ein eingeklemmter Leistenbruch vorliegt, so ist die Diagnose als grob fehlerhaft zu bewerten. Dann hat die Ärztin zu beweisen, dass ihr Irrtum und die unterbliebene sofortige Krankenhauseinweisung nicht für den wegen der verspäteten Operation eingetretenen Tod der Patientin ursächlich geworden ist [4].

Neue Anwaltstaktik: "Befunderhebungsfehler"

Wegen der gerichtlichen Zurückhaltung bei der Annahme eines Diagnosefehlers sind Patientenanwälte inzwischen dazu übergegangen, das (angeblich) fehlerhafte Unterlassen einer gebotenen Befunderhebung zu rügen – mit gewissem Erfolg. So hatte in dem oben geschilderten Fall des OLG Hamm das erstinstanzlich zuständige Landgericht Bielefeld eine Haftung des Arztes bejaht, weil der Gynäkologe nach Auffassung des dortigen Erstgutachters nicht sorgfältig genug untersucht hatte, was dieser in der zweiten Instanz unter dem Eindruck des OLG-Gutachters revidierte. Wäre auch Letzterer dieser Auffassung gewesen, dann hätte dies sehr weitreichende Folgen gehabt. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung führt schon ein einfach-fahrlässiger Befunderhebungsfehler zu einer Umkehr der Beweislast, wenn erstens sich bei der Erhebung des Befundes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges Ergebnis gezeigt hätte, zweitens eine Nichtreaktion darauf als grob fehlerhaft zu bewerten wäre und drittens dieser grobe Fehler generell geeignet ist, den eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen [5]. Liegen alle 3 Voraussetzungen vor, muss der Arzt beweisen, dass die beim Patienten tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschäden nicht auf seinen Befunderhebungsfehler zurückzuführen sind. Ihm ist mithin der sonst leicht zum Prozesserfolg führende Einwand fehlender Kausalität zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden – also der Einwand, die beim Patienten zutage getretenen Gesundheitsschäden wären auch bei korrekter Behandlung eingetreten – abgeschnitten. Im obigen Fall des OLG Hamm hätte also der Gynäkologe beweisen müssen, dass das Kind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch dann geboren worden wäre, wenn er der Patientin zu einer anderen Verhütungsmethode geraten hätte. So etwas lässt sich praktisch nicht beweisen mit der Folge, dass der Arzt den Prozess verloren hätte.

Wer dem Vorwurf des Befunderhebungsfehlers vorbeugen und damit Haftungsrisiken minimieren will, sollte also die durchgeführten Untersuchungen und die erhobenen Befunde lückenlos dokumentieren. Dazu genügen Stichworte oder allgemeinverständliche und sogar fachspezifische Zeichen. Dann kann dem Vorwurf eines Diagnosefehlers gelassen entgegengesehen werden.


Literatur
1)BGH, Urteil vom 14.07.1981, Aktenzeichen VI ZR 35/79
2)OLG Hamm, Urteil vom 29.05.2015, Aktenzeichen 26 U 2/13
3)OLG Koblenz, Beschluss vom 29.09.2015, Aktenzeichen 5 U 617/15
4)OLG Frankfurt/M, Urteil vom 30.03.1999, Aktenzeichen 8U 219/98)
5)BGH, Urteil vom 07.06.2011, Aktenzeichen VI ZR 87/10



Autor:

Torsten Münnch

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht
Dierks + Bohle Rechtsanwälte, Berlin

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (8) Seite 62-65