Welcher Hausarzt hat das nicht schon erlebt: das Gefühl der Ohnmacht, wenn man einen Selbstmord nicht verhindern konnte, oder Selbstzweifel, wenn man glaubt, vielleicht wegweisende Signale übersehen zu haben. "Hätte ich diesen Menschen retten können", war die zentrale Frage des diesjährigen Qualitätszirkels "Mein Fall" oder – um mit Robert N. Braun zu reden – war das ein "abwendbar gefährlicher" oder vielleicht ein "unabwendbar gefährlicher" Verlauf?"

Eines der zentralen Themen der von Prof. Dr. med. Martin Konitzer, Facharzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, moderierten Veranstaltung war das Problem der Suizidgefährdung. Aufhänger für die lebhafte Diskussion im Kollegenkreis waren zwei Fälle, die ein Hausarzt wie folgt schilderte:

Fall 1:

Die Bäuerin in der Jauchegrube

"Die 83-jährige Patientin, eine Bäuerin, die ich schon lange betreue, ist nur selten bei mir in der Praxis gewesen, weil sie nicht oft krank war. Vor fünf Jahren ist ihr Ehemann verstorben, was ihr aber eher gutgetan hat, seitdem ist sie sichtlich aufgelebt. Anfang des Jahres hat sie dann ein "offenes Bein" entwickelt, wurde zunächst von mir, später dann in der Klinik behandelt.

Vor drei Monaten, es war ein Freitag, wurde sie entlassen. Die Tochter kam dann mit ihr in die Praxis, um den Entlassungsbrief zu übergeben und sich ein Rezept für die von der Klinik empfohlenen Medikamente ausstellen zu lassen. Die Patientin selbst habe ich gar nicht gesehen. Am Montag darauf habe ich dann erfahren, dass die alte Frau tot in der Jauchegrube gefunden wurde. Aufgrund der genauen Auffindesituation war es laut Kripo ein eindeutiger Suizid. Als ich den Fall mit meinen Helferinnen besprochen habe, meinte die eine: Wenn ich jetzt so zurückdenke, hat sich Frau E. am Freitag so seltsam von mir verabschiedet."

Fall 2:

Der Scherz mit "dem Medikament"

"Zu meinen Patienten zählte auch ein sehr rüstiges Rentnerehepaar, beide Ende 80, aber topfit und viel mit dem Fahrrad unterwegs. Die Frau ist dann Anfang dieses Jahres eines Nachts an einem plötzlichen Herztod gestorben. Dieser Verlust hat den Mann sehr getroffen. Ich habe ihm damals auch Gesprächsangebote gemacht und Adressen zur Trauerbegleitung gegeben, aber der alte Herr ist sehr schwer zugänglich und auf das Angebot nicht eingegangen. Im Rahmen des Gesprächs über die oben beschriebene Patientin fiel meiner Helferin dann auch eine Situation mit diesem Patienten ein, die sie mir berichtete: Er sei neulich zu ihr gekommen und habe gesagt, er wolle "das Medikament" haben. Auf Nachfrage, was er denn meine, sagte er "Zyankali". Die Helferin hatte das damals als Scherz gedeutet. Bei mir haben dann aber sämtliche Alarmglocken geläutet und ich war ziemlich verärgert, dass mir die MFA nicht eher davon berichtet hatte. In der Woche darauf kam Herr B. dann in die Praxis und ich habe ihn auf seine Äußerung angesprochen und ihn gefragt, ob er daran denkt, sich das Leben zu nehmen. Das hat er verneint."

Was dem Kollegen bei diesen Fällen durch den Kopf gegangen war und was er zur Diskussion stellen wollte: Habe ich bei der betagten Bäuerin etwas übersehen? Hätte ich ihren Suizid verhindern können? Hätte es etwas genutzt, wenn ich mitbekommen hätte, dass sie sich seltsam verabschiedet hat, und sofort mit ihr gesprochen hätte? Und im zweiten Fall: War die Äußerung von Herrn B. vielleicht doch kein Scherz? Ist er suizidgefährdet? Wie kann ich das herausfinden und was ist dann ggf. zu tun?

Der kalkulierte Suizid

"Meiner Erfahrung nach lassen sich die geplanten Suizide ganz schwer erkennen und verhindern", meinte ein Kollege. In dem Fall der Bäuerin hätte man den Entschluss wahrscheinlich auch nicht verhindern können, wenn man nach dem merkwürdigen Verabschiedungszeremoniell sofort interveniert hätte (Gesprächsangebot, Einweisung in die Psychiatrie). "Der Fall der alten Dame klingt für mich so, als hätte dieser Entschluss schon sehr lange festgestanden, ohne dass sie jemals mit jemandem darüber gesprochen hat", ergänzte ein anderer Hausarzt. "Nach dem Motto: Wenn ich mit der Gesundheit so einknicke, dass absehbar ist, dass ich nicht mehr alles kann, was ich können möchte, mache ich Schluss. Wenn das so war, haben Sie keine Chance."

Die "glaubhafte Versicherung"

Wie standen die Kollegen zu dem Fall mit der "Zyankaliforderung"? Darf man die Sache auf sich bewenden lassen, wenn er versichert, das sei ein Scherz gewesen? "Ich höre solche Äußerungen (ich will das "Medikament") gerade von älteren Herren relativ oft, erklärte ein Kollege. Wenn das seit Jahren regelmäßig vorkommt, nehme ich das dann auch nicht besonders ernst. Aber im Zweifel hilft nur nachfragen: "Wie darf ich das verstehen? Denken Sie darüber nach, sich das Leben zu nehmen?" Weist er das dann von sich und beteuert, dass es ein Scherz gewesen ist, können Sie nichts mehr tun."

Das sah eine Kollegin anders: "Für mich hört sich das nicht wie ein Scherz an. Der Mann hat ja schließlich einen großen Verlust erlitten, so etwas ist ja ganz oft ein Grund für Selbstmord. Ich hätte in dem Fall nicht noch bis zur nächsten Woche gewartet. Ich wäre sofort zu ihm gefahren und hätte intensiv mit ihm über seine Lebensperspektive gesprochen."

Suizidversprechen: sinnvoll oder nicht?

"Was halten die Kollegen von dem immer wieder empfohlenen ‚Suizidversprechen‘?", wollte ein Kollege wissen. "Ich fand es anfänglich eigentlich albern, dem Patienten das Versprechen abzunehmen, sich bis zum nächsten Termin nichts anzutun, am besten mit Handschlag. Aber es scheint tatsächlich zu funktionieren. Mir hat einmal eine Patientin erzählt, dass sie sich in dem Moment, wo sie auf der Landstraße fuhr und schon die Bäume gezählt hat nach dem Motto "welchen nehme ich", dieses Versprechens erinnerte, an den Straßenrand fuhr und sich hat einweisen lassen."

"Das funktioniert aber nicht immer", wandte ein anderer Kollege ein: "Ich hatte einmal eine 25-jährige Patientin, die einen Suizidversuch mit Tabletten unternommen hatte. Sie kam dann aus der psychiatrischen Klinik zurück, ich habe mit ihr gesprochen und sie meinte zu mir, das wäre die größte Dummheit ihres Lebens gewesen, sie würde das nie wieder machen. 15 Minuten, nachdem sie die Praxis verlassen hatte, erschießt sie sich zu Hause mit dem Jagdgewehr ihres Vaters."

"Wie glaubhaft ist ein solches Suizidversprechen, wenn man sich diesen Fall vor Augen führt?", fragte sich ein anderer Hausarzt. Wenn in Entlassungsberichten steht, "hat sich glaubhaft von Suizidabsichten distanziert", woran macht man dieses "glaubhaft" fest?" "Vielleicht war das ja auch anders gemeint", wandte ein Kollege ein. "Vielleicht wollte die junge Frau sagen: "Ich mache das nie wieder mit Tabletten, weil mich dann ja jemand finden könnte, jetzt mache ich’s richtig." In dem Fall hätte sie ja ihr Versprechen gehalten."

"Es gibt schon Möglichkeiten, herauszufinden, wie glaubhaft ein Suizidversprechen ist bzw. die Distanzierung von Suizidabsichten", erklärte eine Kollegin: "Ich frage in einem solchen Fall auch: "Was hält Sie davon ab", um herauszufinden, was dem Betreffenden Halt gibt in seinem Leben und welche Perspektiven er hat. Gewinne ich dann den Eindruck, dass Suizidgefahr besteht, muss ich den Patienten einweisen." Ob allerdings eine Unterbringung nach PsychKG gelingt, wenn der Patient dem Richter gegenüber Suizidabsichten verneint, bezweifelte ein Kollege.

Der Traum vom Messer

Einen geradezu gruseligen Fall zu demselben Thema berichtete abschließend ein weiterer Kollege: "Ein Patient von mir, eigentlich ein recht lebenslustiger Mann, hat immer mal wieder von schlechten Träumen berichtet. Ansonsten war er selten bei mir. Irgendwann wurde ich dann gerufen, weil er sich ein Messer in die Brust gerammt hatte. Die Reanimation blieb erfolglos. Erst dann erzählte mir die Ehefrau, dass er schon seit Jahren immer wieder davon geträumt hat, sich ein Messer in die Brust zu rammen. Sie hatte ihm geraten, damit einen Arzt zu konsultieren, aber er hatte ihr verboten, mir davon etwas zu erzählen. Solche Suizide empfinden wir Ärzte ja als doppelte Niederlage, zum einen, weil wir den Patienten nicht retten konnten, zum anderen wegen der persönlichen Kränkung, weil der Patient sich uns nicht anvertraut hat."

"Es gibt nach Robert N. Braun nicht nur den abwendbar gefährlichen Verlauf, sondern auch den "unabwendbar gefährlichen Verlauf". Und genau um einen solchen handelt es sich hier", kommentierte abschließend Dr. Konitzer. Dazu passte das Statement eines Hausarztes aus dem Auditorium: "Wir sind Hausärzte und keine Wunderheiler."

Dr. med. Vera Seifert


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (SH practica) Seite 26-28