Zahlreiche Patienten, die den Allgemeinarzt aufsuchen, weisen mindestens eine zusätzliche psychische Erkrankung auf, und ein bedeutender Anteil an Notarzteinsätzen findet aus hauptsächlich „psychiatrischen Gründen“ statt. Daher sollte auch der überwiegend allgemeinärztlich tätige Arzt mit den häufigsten psychiatrischen Notfällen und deren Erstversorgung vertraut sein.

Die Prävalenz von psychiatrischen Notfällen in nicht-psychiatrischen Einrichtungen wird - je nach Untersuchung - auf 10-60 % geschätzt [1, 7, 8].

Unter einem „psychiatrischen Notfall“ versteht man eine durch Belastung, Erkrankung oder Verschlechterung einer psychischen Störung hervorgerufene akute Dekompensation, bei der das Denken, Fühlen und die Bewältigungsstrategien eines Menschen so verändert sind, dass eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht. Dies macht eine sofortige symptomorientierte Therapie erforderlich [4, 6].

Symptomorientierte Behandlung

An erster Stelle steht die symptomatische, meist medikamentöse Behandlung. Auch wenn eine genaue differentialdiagnostische Einordnung der zugrundeliegenden psychischen Erkrankung oft nicht sofort sicher möglich ist, kann anhand der sichtbaren Leitsymptome eine Einteilung in psychiatrische Syndrome vorgenommen werden (Tab. 1). Nichtsdestotrotz muss zeitnah eine genaue Diagnose gestellt werden, um die weiteren therapeutischen Maßnahmen einzuleiten. Idealerweise sollte ein psychiatrischer Notfall, der in der allgemeinärztlichen Praxis auftritt,

  1. nach seinem akuten Selbst- und Fremdgefährdungsrisiko eingeschätzt werden,
  2. medikamentös „anbehandelt“ werden,
  3. gegebenenfalls einer fachärztlichen psychiatrischen Weiterbehandlung zugeführt werden.

Tabelle 1 enthält einige Empfehlungen zur akuten symptomatischen Pharmakotherapie häufiger psychiatrischer Syndrome.

Prüfen der Suizidgefahr

Die größte akute Gefahr für einen psychisch kranken Menschen ist der Suizid [6]. Die Suizidrate liegt hierzulande bei 19 - 25/100 000 Einwohner, in 90 % der Fälle geht man davon aus, dass eine psychische Erkrankung zugrunde liegt. In einem Drittel der Fälle handelt es sich um eine depressive Erkrankung, die prinzipiell medikamentös, psycho- und soziotherapeutisch therapierbar ist [6]. Um das akute Suizidrisiko eines Patienten einzuschätzen, sollte man die Risikofaktoren für einen akuten Suizidversuch kennen (Tabelle 2). Fällt es schwer, die akute Suizidgefahr einzuschätzen (möglich sind z. B. sowohl äußerliche Ruhe trotz Suizidabsicht als auch Agitiertheit ohne Suizidgedanken), empfiehlt sich das Hinzuziehen eines Psychiaters.

Zu später Stunde oder an Feiertagen ist dies über einen ambulanten psychiatrischen Krisendienst oder die Ambulanz einer psychiatrischen Klinik möglich. Unerlässlich ist es, direkt nach Suizidgedanken oder -plänen zu fragen und auf einer Antwort zu bestehen. Es kann ein - zunächst kurzfristiger - Antisuizidpakt geschlossen werden.

Die Akutbehandlung besteht initial in der Gabe einer sedierenden, entaktualisierenden und anxiolytischen Medikation (z. B. mit Lorazepam 1 - 2,5 mg, Diazepam 5 - 10 mg) oder/und eines sedierenden Neuroleptikums (z. B. Quetiapin 25 - 100 mg, Olanzapin 5-10 mg). Bei Suizidalität ist eine beschützte stationäre psychiatrische Behandlung indiziert.

Bei Delir die Grunderkrankung ­behandeln

Unter Delir versteht man einen (oft fluktuierenden) akut-subakut auftretenden Zustand mit Bewusstseinsstörung, psychomotorischer Unruhe, kognitiven Beeinträchtigungen, vegetativen Symptomen, Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus und teilweise optischen Halluzinationen und psychotischem Erleben, der auf eine organische Ursache zurückzuführen ist (z. B. Medikamente, Substanzentzug, Operation, Infektion). Bei ausgeprägter vegetativer Entgleisung (Blutdruck, Puls, Fieber) kann ein unbehandeltes Delir für den Patienten vital bedrohlich werden.

Essenziell ist daher die Behandlung der - meist körperlichen - Grunderkrankung. Gegebenenfalls muss eine stationäre Überwachung erfolgen (besonders bei vegetativer Entgleisung oder erforderlicher mechanischer Fixierung). Eine symptomatische Medikation wird mit Antipsychotika durchgeführt (z. B. Quetiapin 25 mg oder Haloperidol 1 - 2 mg). Besonders bei Alkoholentzugsdelir empfiehlt sich Clomethiazol (z. B. Clomethiazol 2 Kapseln à 192 mg bis zu 2-stündlich).

Psychomotorische Erregung

Charakteristisch für einen Erregungszustand ist es, wenn Antrieb und Psychomotorik gesteigert sind, eine affektive Enthemmung und Gereiztheit vorliegen und eventuell ein Kontrollverlust mit möglicher Selbst- oder auch Fremdaggression droht. Einer psychomotorischen Erregung können beinahe sämtliche psychiatrischen Erkrankungen zugrunde liegen. Sowohl exogene (z. B. Intoxikation, Delir) als auch endogene (z. B. Schizophrenie, Manie) oder psychologische Faktoren (z. B. Persönlichkeitsstörung, Krise, Trauma) kommen hier ursächlich in Frage [4].

Das oberste Ziel bei einem (aus womöglich noch unklarem Grund) stark erregten Patienten muss es zunächst sein, unmittelbare Gefahr von anderen und vom Patienten selber abzuwenden.

Ein allzu heroischer persönlicher Einsatz verbietet sich hier jedoch, und ein angespannter, fremdaggressiver Patient kann in der Regel nur mit einer ausreichenden Anzahl geschulter Hilfskräfte oder im Beisein der Polizei festgehalten werden. Ein gereizter, nicht verbal zu beruhigender Patient sollte im Ernstfall lieber wieder entlaufen (danach Polizei oder Angehörige bzw. Betreuer verständigen), bevor man in eine alleinige körperliche Auseinandersetzung mit ihm gerät.

Neben dem Versuch einer verbalen Beruhigung („Talking down“) haben sich hier in der Akutbehandlung Benzodiazepine (z. B. Diazepam 5 - 10 mg) und sowohl nieder- als auch höherpotente Neuroleptika (z. B. Olanzapin 10 mg, Haloperidol 5 mg) bewährt.

Katatoner Stupor erfordert Einweisung

Ein Katatoner Stupor ist durch eine ausgeprägte psychomotorische Verlangsamung gekennzeichnet. Dies kann bis zum vollkommenen Fehlen von körperlicher und psychischer Aktivität gehen. Er kann als Folge einer schizophrenen oder schweren affektiven Erkrankung auftreten, vereinzelt ist er Folge einer hirnorganischen Störung, seltener tritt er psychogen nach schweren Traumata auf. Der Ausprägungsgrad kann bis zum völligen Haltungsverharren reichen und parenterale Ernährung, Thromboseprophylaxe und aufwendige Pflegemaßnahmen notwendig machen.

Akut wird ein Katatoner Stupor jeglicher Ursache mit Benzodiazepinen (z. B. Lorazepam 1 - 2,5 mg) behandelt. In der Regel muss hier eine stationäre Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus zur weiteren Diagnostik und Therapie erfolgen.

Tabelle 3 gibt einen Überblick über rasch wirksame Medikamente für psychiatrische Notfälle, deren Applikationsformen, Dosisangaben und häufige Arzneimittelnebenwirkungen.

Psychopharmaka-induzierte Notfälle

Lithiumintoxikation

Lithiumsalze werden bei affektiven Erkrankungen verschrieben. Ein Nachteil der Lithiumbehandlung ist ihr enger therapeutischer Bereich. Bei Überdosierung finden sich gastrointestinale, zentralnervöse und kardiale Nebenwirkungen. Ab einer Serumkonzentration von >1,2 mmol/l können bereits leichte Intoxikationserscheinungen auftreten (Tremor, Dysarthrie). Bei Lithiumserumspiegeln bis 2 mmol/l können Durst, Myoklonien, Faszikulationen, Choreoathetosen und ataktische Symptome hinzukommen. Eine schwere Lithiumintoxikation (> 3 mmol/l) kann auch mit kardialen (Bradykardie, AV-Blockierung) und weiteren schweren ZNS-Symptomen (Koma, Krampfanfall) einhergehen und erfordert eine intensivmedizinische Überwachung, eventuell mit Hämodialyse.

Anticholinerges Syndrom

Viele Antidepressiva, Neuroleptika, Hypnotika und Antiparkinsonmittel haben ein anticholinerges (Neben-)Wirkungsprofil. Häufig verordnete Pharmaka, die zu anticholinergen Nebenwirkungen führen können, sind die trizyklischen Antidepressiva Amitriptylin und Doxepin, das atypische Neuroleptikum Clozapin, das Antihistaminikum Promethazin und das Antiparkinsonmittel Biperiden. Die daraus resultierenden Effekte erklären sich durch die Blockade von Acetylcholin im Zentralen Nervensystem und an den jeweiligen peripheren Zielorganen.

Bei einer Intoxikation können folgende Symptome in unterschiedlichem Ausprägungsgrad vorkommen: Mundtrockenheit, verschwommenes Sehen durch Akkomodationsstörung und weite Pupillen, Glaukomanfall, Blasenentleerungs-störungen, Magen-Darm-Atonie, Herzrhythmusstörungen, Fieber, trockene Schleimhäute, Verwirrtheit, Somnolenz, Krampfanfälle. Anticholinerge Syndrome kommen gehäuft bei Kombinationsbehandlungen von mehreren anticholinergen Substanzen und bei älteren hirnorganisch vorerkrankten Patienten vor. Patienten mit einem schweren anticholinergen Syndrom müssen auf einer Intensivstation überwacht werden. Als Antidot steht hier Physostigmin zur Verfügung.

Serotonerges Syndrom

Viele Antidepressiva entfalten ihre Wirksamkeit vermutlich über eine Wiederaufnahmehemmung von Serotonin im synaptischen Spalt (Serotoninmangel-Hypothese der Depression). Besonders bei pharmakologischen Kombinationsbehandlungen kann es zu synergistischen Effekten kommen. Zentrale und periphere Symptome einer serotonergen Überaktivität sind: gastrointestinale Beschwerden, Herzrhythmusstörungen, Tachykardie, arterieller Hypertonus, Hyperreflexie, Tremor, Myoklonien, Hyperthermie, Delir, zerebrale Anfälle, Multiorganversagen und eine Verbrauchskoagulopathie [3]. Das Vollbild eines Serotonergen Syndroms ist intensivpflichtig. Neben symptomatischen Maßnahmen (Kühlung, Sedierung, Volumenersatz) kann Cyproheptadin zur pharmakologischen Behandlung eingesetzt werden.

Neuroleptika-induzierte Dyskinesien

Häufigste Ursache von akuten Dyskinesien ist eine Frühreaktion auf Antipsychotika. Es kann zu akuten Verkrampfungen von Augenmuskeln, Augenlidern, Zunge oder Schlund kommen. Die Akutbehandlung erfolgt mit Biperiden (z. B. 2,5 - 5 mg i. v.) oder - bei Kontraindikationen gegen Biperiden - mit einem Benzodiazepin.

Rechtliche Aspekte

Lässt sich die Unterbringung - also das zwangsweise Festhalten eines Patienten gegen seinen Willen in einem psychiatrischen Krankenhaus oder an einem anderen geeigneten Ort - nach öffentlichem Zivil- oder Strafrecht wegen akuter Selbst- oder Fremdgefährdung nicht vermeiden, bieten sich dafür im Wesentlichen drei Unterbringungsmöglichkeiten an:

  1. Die öffentlich-rechtliche Unterbringung bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung aufgrund einer psychischen Erkrankung über das Landratsamt oder die Polizei. Diese rechtliche Grundlage kommt immer im akuten Notfall (z. B. nachts oder am Wochenende) zur Geltung.
  2. Eine zivilrechtliche Unterbringung eines nicht betreuten Erwachsenen gemäß § 1846 BGB. Darunter versteht man eine dringliche Unterbringung - ohne sofortige Beantragung eines gesetzlichen Betreuers durch das Vormundschaftsgericht - wegen akuter Selbstgefährdung oder erheblichen gesundheitlichen Nachteils für den Betroffenen bei Nichtbehandlung.
  3. Die zivilrechtliche Unterbringung eines unter Betreuung stehenden Erwachsenen nach § 1906 BGB auf Antrag seines Betreuers aus denselben Gründen wie nach § 1846.


Literatur
1. Arnold V (2004) Das Problem der Diagnostik psychischer Störungen in der Primärversorgung. In Arnold V, Diefenbacher A (Hrsg.). Psychiatrie in der klinischen Medizin. 1. Aufl., Steinkopf, Darmstadt
2. Bäuml J (2000) Psychiatrische Notfälle in der internistischen Praxis. Der Internist 41:714-718
3. Benkert O, Hippius H (2005) Psychiatrische Pharmakotherapie. 5. Aufl., Springer, Berlin-Heidelberg-New York
4. Mavrogiorgou P, Brüne M, Juckel G (2011) The management of psychiatric emergencies. Deutsches Arzteblatt 108: 222–30
5. Neu P (2008) Akutpsychiatrie. 1. Aufl., Schattauer, Stuttgart-New York
6. Rentrop M, Müller R, Bäuml J (2009) Klinikleitfaden Psychiatrie und Psychotherapie. 4. Aufl., Elsevier Urban und Fischer, München
7. Rothenhäusler H-B, Kapfhammer H-P (1999) Psychiatrische Notfälle-Konsiliartätigkeit am Allgemeinkrankenhaus. Psycho 25:550-565
8. Schneider A, Hörlein E, Wartner E, Schumann I, Henningsen P, Linde K (2011) Unlimited access to health care - impact of psychosomatic co-morbidity on utilisation in German general practices. BMC Family Practice 12:51
9. Schnoor J, Gillmann B, Pavlakovic G, Seiger K, Heussen N, Roissant R (2005) Characteristics of Repeated Emergency Physician Use. Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Schmerztherapie 40:737-742
10. WHO: Internationale Klassifikation psychischer Störungen Herausgegeben von H. Dilling st al.

Interessenkonflikte:
keine deklariert

Dr. med. Dirk Schwerthöffer


Kontakt:
Dr. med Dirk Schwerthöffer
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der TU München
81675 München

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2012; 34 (5) Seite 20-24