Selten zuvor hat sich die Problematik einer unsicheren Datenlage so deutlich gezeigt wie im Rahmen der Pandemie. Laut Prof. Dr. Martin Scherer von der DEGAM könnten Politik und Gesellschaft beim professionellen Umgang mit Ungewissheiten viel von der Hausarztpraxis lernen: Denn hier gehört das erfolgreiche Arbeiten mit einem unklaren Datenstand zum Praxisalltag.

doctors|today: Herr Prof. Scherer, wie ist die Lage in den Hausarztpraxen? Wo stehen wir beim Impfen?

Prof. Dr. Martin Scherer (MS):"Wir stehen weiterhin logistischen Problemen mit Impfstoff-Großbehältnissen gegenüber. Es ergeben sich vielfach Schwierigkeiten, Patient:innen zu "clustern", um keinen Impfstoff verwerfen zu müssen. Insgesamt befindet sich das Impfen derzeit in einer vulnerablen Phase. Es gibt aktuell mehr Viertimpfungen als Erstimpfungen.

Dazu tragen drei Mythen bei: Erstens, die Impfung helfe nichts, weil auch aufgefrischte Menschen Omikron bekommen. Zweitens, es sei wirkungsvoller und praktikabler, sich mit Omikron zu infizieren, anstatt sich impfen zu lassen, und schlussendlich auch der Mythos, die Impfung sei nicht mehr so wichtig, weil zunehmend oral verfügbare Substanzen zur Behandlung zur Verfügung stehen."

doctors|today: Warum betrifft COVID-19 die Hausarztpraxen besonders?

MS: "Wir alle stehen durch die Pandemie unter großem Druck. Auch die Patient:innen, die manchmal nicht mehr wissen, was sie denken sollen. Denn die Informationen, die auf sie hereinprasseln, laufen manchmal komplett durcheinander. Diese Unsicherheit bei den Patient:innen und der persönliche Entscheidungsdruck, unter dem wir alle stehen, landen dann ungefiltert in der Hausarztpraxis. Natürlich brauchen wir alle gerade in unsicheren Zeiten Gewissheiten, an denen man sich festhalten kann. Und damit sind wir bei einer Besonderheit der Arbeit in der Hausarztpraxis: dem professionellen Umgang mit Ungewissheiten.

Die Krankengeschichte der Patient:innen, die zu uns in die allgemeinmedizinische Praxis kommen, hat im Regelfall gerade erst begonnen. Den Umstand, noch nicht alles genau zu wissen, das muss man managen können. Hier könnte die Gesellschaft sehr viel vom hausärztlichen Arbeiten lernen."

doctors|today: Wie sind Lockerungen aus hausärztlicher Sicht zu bewerten?

MS: "Es gab noch nie so hohe Inzidenzzahlen wie im Moment, allerdings kann die Krankheitslast im Vergleich zu anderen inzidentellen Hochphasen verhältnismäßig gut beherrscht werden. Somit ist der Zeitpunkt für die Lockerung der Maßnahmen günstig, weil einerseits die Belastung der Krankenhäuser nicht zu hoch ist und wir andererseits auf den Sommer zulaufen, der uns erwartungsgemäß niedrige Infektionszahlen beschert."

doctors|today: Welche Auswirkungen hat das Thema auf das Tätigkeitsfeld der MFA?

MS: "Die Medizinischen Fachangestellten sind einer hohen Arbeitsbelastung und einem hohen Druck ausgesetzt. Sie stehen in der ersten Reihe der Versorgung und erhalten nicht annähernd so viel materielle und immaterielle Wertschätzung wie zum Beispiel Pflegekräfte in Krankenhäusern. Dabei müssen sie sich oft vieles gefallen lassen und erleben nicht selten aggressive oder ungebührliche Verhaltensweisen. Was mir in diesem Kontext besonders große Sorgen macht, ist der Fachkräftemangel im medizinischen Bereich allgemein und insbesondere der Nachwuchsmangel bei den Medizinischen Fachangestellten. Viele Hausarztpraxen greifen tief in ihre eigene Tasche, damit ihre Mitarbeiter:innen die oftmals fehlende Wertschätzung durch Politik und Gesellschaft wenigstens finanziell "erfahren" können. Aber solche individuellen Lösungen funktionieren z.B. nicht in größeren Einrichtungen, wo die Arbeitslöhne tarifgebunden sind, und für die vielen kleinen Praxen ist das so nicht finanzierbar. Mit der Ressource Hausarztpraxis achtsam umzugehen bedeutet auch, achtsam mit den MFAs umzugehen! Im Rahmen der Pandemie gab es keine Entwicklung, die dazu beigetragen hat, dass der Beruf der MFA in ihrem Ansehen zum Leuchten gebracht wurde. Das wäre aber notwendig, damit auch viele junge Leute sagen: Genau diesen Beruf möchte ich später einmal ausüben. Echte Wertschätzung ist leider Fehlanzeige."

doctors|today: Verbessert die Dauerpräsenz von Corona die Gesundheitskompetenz der Patient:innen?

MS: "Leider ist das Gegenteil der Fall: Alles, was heute medial passiert, führt eher zu einer Senkung der Gesundheitskompetenz der einzelnen Patient:innen. Es wurde noch nie so viel gesprochen über eine Erkrankung, wie es bei Corona der Fall ist. Jedes Detail wird auf die Goldwaage gelegt und COVID-19 gegenüber anderen Erkrankungen von politischer Seite und in den Medien maximal überhöht.Das führt zu viel Verwirrung und Durcheinander in den Köpfen der Menschen. Das müssen v.a. die Hausärzt:innen und ihre Teams auffangen, zusätzlich zu ihrem Praxisalltag, der durch COVID-19 noch anspruchsvoller und belastender geworden ist."

doctors|today: Der Pandemiebekämpfung wird viel untergeordnet. Welche Folgen hat das z. B. für vulnerable Gruppen?

MS: "Natürlich ist es furchtbar, dass bereits so viele Menschen im Kontext von Corona ihr Leben verloren haben. Aber all die anderen Toten – die Krebstoten, die Unfallopfer, die Opfer anderer Infektionskrankheiten, die Opfer des Rauchens usw. – finden öffentlich keine solche Anerkennung. Hier merkt man, welche implizierten Priorisierungen es durch die Pandemie gibt. Dem Thema Corona wird nach wie vor sehr viel untergeordnet, auch in der hausärztlichen Praxis. Das hat Folgen für das gesamte Gesundheitssystem und die spüren die schwächsten Personengruppen am stärksten. In diesem Falle sind das z.B. schwerstkranke Patient:innen wie Krebskranke. Es darf aber nicht sein, dass ein Corona-Toter rechnerisch mehr wert ist als z.B. ein Krebstoter."

doctors|today: Welche Probleme ergeben sich durch die Politisierung medizinischer Themen?

MS: "Alles rund um Corona wird auch nach über zwei Jahren in einem hohen Maße moralisiert und politarisiert. Es ist schwierig, neutral und faktenbasiert Stellung zu beziehen. Das beste Beispiel ist die Virusvariante Omikron: Direkt zu Beginn redete jeder über dieses Thema, aber was wussten wir da denn wirklich ganz konkret? In einem solchen Fall wird dann schnell prognostiziert und gemutmaßt. Nach 3–4 Wochen musste dann vieles davon wieder zurückgenommen werden. Es wäre besser, klipp und klar zu sagen: Das sind die Unsicherheiten, hier haben wir noch nicht alle notwendigen Fakten. Diese unklare Lage, die in den allgemeinen Medien viel zu oft als eindeutig dargestellt wird, verstärkt die Unsicherheit der Patient:innen. Was sich viele Journalist:innen heute wünschen, ist, dass es die befragten Expert:innen möglichst genau auf den Punkt bringen. Dadurch verschwimmen aber die klassischen Grautöne, die für das richtige Verständnis wichtig sind. Stattdessen wird Klartext gefordert und dann findet man sich schnell wieder bei einer Entscheidung zwischen richtig und falsch oder Schwarz oder Weiß.

Das war und ist auch eines der größten Kommunikationsprobleme rund um Corona. Gerade die Sozialen Medien übernehmen dabei eine oftmals unrühmliche Rolle: Hier geht es vorrangig darum, die eigenen Informationen als Schnellster an seine Zielgruppen zu bringen. Man braucht die richtigen Keywords/Schlagworte und wenn man drei Stunden zu langsam ist mit seinem Artikel im Online-Kosmos, weil man fundiert recherchiert, dann werden die eigenen Inhalte nicht wahrgenommen. Vielmehr gilt: Je polarisierender ich schreibe, umso mehr Follower habe ich, desto erfolgreicher bin ich. Viele dieser Online-Formate führen zwangsläufig dazu, dass Themen noch mehr zugespitzt werden – und dann sind wir bei dieser Polarisierung, die für komplexe Inhalte schädlich ist."

doctors|today: Was erwartet uns im anstehenden Sommer bzgl. künftiger Virusvarianten?

MS: "Das ist komplett unvorhersehbar. Ich beteilige mich ausdrücklich nicht an dem munteren Ratespiel und halbgaren Warnungen. Meine Devise: Reden ist Silber, belastbare Daten sind Gold."

doctors|today: Was können wir über die aktuelle Situation hinaus aus der Pandemie mitnehmen?

MS: "Den wenigsten Entscheider:innen in Politik und Gesellschaft ist klar, wie wichtig die Hausärzt:innen in Deutschland für die ärztliche Grundversorgung vor Ort sind. Was passiert, wenn die Hausarztpraxen nicht mehr funktionieren, wenn wir diese Ressource "verbrennen"? Gleichzeitig herrscht vielerorts Unklarheit über die Herausforderungen in der hausärztlichen Praxis. Hier werden nicht "einmal schnell ein paar Rezepte geschrieben"! Vielmehr ist ein hohes Maß an Kompetenz und Entscheidungsfähigkeit gefragt, weil ein Großteil der Patient:innen in einem frühen und oft unklaren Stadium in der Hausarztpraxis erscheint. Gleichzeitig ist die Kommunikations- und Debattenkultur in unserer Gesellschaft eine entscheidende Baustelle. Und bei der Kommunikation habenauch wir Ärztinnen und Ärzte schon viel falsch gemacht. Wie sollte das funktionieren, wenn wir es schon nicht vormachen, wie wir wertschätzend miteinander umgehen können? Unser "Lessons Learned" zu COVID-19 sollte sein, dass Eindämmung schwierig ist, man das Virus nicht aufhalten kann und wir auch weiterhin damit zu tun haben werden. Wir sollten offen damit umgehen, dass der Wunsch nach kontinuierlichen Regeln oft der Notwendigkeit entgegensteht, die Maßnahmen flexibel den Gegebenheiten anzupassen – die ja regional recht unterschiedlich sein können. Jetzt muss es darum gehen, den Eintritt in die Endemiephase gut zu managen, d. h. die Eindämmungsautomatismen und Quarantäneregeln zu überdenken. Davon profitiert die Personaldecke in den med. Einrichtungen und wir erhalten die Möglichkeit, uns auf die dringlichen Versorgungsprobleme zu konzentrieren."

Das Interview führte Sabine Mack

Veranstaltungstipps: 56. DEGAM-Kongress und practica 2022
Vom 15. bis 17. September wird in Greifswald der 56. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin stattfinden, der sich u.a. dem Thema Klimaschutz in der Hausarztpraxis widmen wird: http://www.degam-kongress.de/2022

Die unterschätzte Rolle der Hausärzt:innen in der Pandemie und die Frage, was wir daraus lernen können, war u.a. Thema in den Workshops von Prof. Scherer im Rahmen der Fortbildungsveranstaltung practica 2021. Die diesjährige practica wird vom 19. bis 22. Oktober 2022 stattfinden, wie gewohnt in Bad Orb: http://www.ihf-fobi.de/fortbildungen-aerzte/practica




Experte

© DEGAM
Prof. Dr. med. Martin Scherer

Präsident der DEGAM (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin)



Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (4) Seite 51-53