Kaum ein Thema polarisiert aktuell stärker als die Frage, ob und wann Cannabis-basierte Medikamente sinnvoll als Arzneimittel eingesetzt werden können. Gleichzeitig wächst die Anzahl an verschiedenen Präparaten. Wir geben einen Überblick, wann und wie Cannabis-basierte Arzneimittel verordnet werden können.

Seit Inkrafttreten des "Cannabis-als-Medizin-Gesetzes" 2017 können neben reinem Tetrahydrocannabinol (THC, Dronabinol) und dem Cannabisextrakt Nabiximols (Sativex®) auch Cannabisblüten und daraus hergestellte Extrakte als Rezepturarzneimittel verschrieben werden. In § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch (SGB) V ist zusätzlich festgelegt, unter welchen Voraussetzungen die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) die Kosten einer solchen "No-label"- oder "Off-label"-Behandlung übernehmen müssen.

Voraussetzungen für eine Kostenübernahme nach § 31 Abs. 6 SGB V
  1. Vorliegen einer schweren Erkrankung (ohne dass dies im Gesetz genauer definiert ist).
  2. Eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung steht nicht zur Verfügung.
  3. Im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes kann eine solche Leistung unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen.
  4. Es besteht eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome.


Wird ein Antrag auf Kostenübernahme bei der Krankenkasse gestellt, muss stets ein "Arztfragebogen zu Cannabinoiden nach § 31 Abs. 6 SGB V" genutzt werden. Zudem empfiehlt es sich, aussagekräftige Berichte und Befunde beizufügen und – falls möglich – Literaturstellen anzugeben, aus denen hervorgeht, dass eine "nicht ganz entfernt liegende Aussicht" auf einen Behandlungserfolg besteht. Hingegen ist es für die Bewilligung der Kostenübernahme nicht notwendig, dass eine Wirksamkeit in der entsprechenden Indikation bereits in größeren kontrollierten Studien zweifelsfrei nachgewiesen wurde. Nach einem Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz aus dem Jahr 2018 ist alleine das subjektive Empfinden der Patient:in – auch wenn dies durch die Einschätzung der behandelnden Ärzt:in gestützt wird – nicht maßgeblich und genügend, um eine "spürbare positive Einwirkung" durch die Cannabis-basierte Therapie zu belegen.

Welche Cannabis-basierten Medikamente können verordnet werden?

Aktuell (Stand 11/2021) sind neben dem Fertigarzneimittel Nabiximols 58 weitere Cannabisextrakte als Rezepturarzneimittel von verschiedenen Herstellern verfügbar, die als Mundspray oder ölige Lösung oral eingenommen werden und sich in den Gehalten an THC und Cannabidiol (CBD) unterscheiden. Weiterhin sind derzeit über 145 verschiedene Medizinalcannabisblüten am Markt, von denen 85 tatsächlich lieferbar sind. Die THC- und CBD-Gehalte der Blüten schwanken von 0,5 bis 25 bzw. 0,1 bis 13,2 %. Daher ist es bei der Verordnung stets erforderlich, die genaue Blütensorte anzugeben. Ferner können Dronabinol (THC) und Kombinationen aus THC und CBD nach dem Neuen Rezepturformularium (NRF) sowie das THC-Analogon Nabilon (Canemes®) verordnet werden. Lediglich reines CBD sowie der CBD-Extrakt Epidyolex® unterliegen nicht den Bestimmungen des Cannabis-Gesetzes und sind nicht betäubungsmittelpflichtig.

Substanz Verschreibungshöchstmenge
Dronabinol 500 mg
Nabiximols 1.000 mg (bezogen auf THC-Gehalt)
Cannabisvollextrakte 1.000 mg (bezogen auf THC-Gehalt)
Nabilon bisher nicht festgelegt
Cannabisblüten 100.000 mg (unabhängig vom THC-Gehalt)

Tabelle 1: Verschreibungshöchstmenge in 30 Tagen für verschiedene Cannabis-basierte Medikamente

Arzneimittelrechtlich zugelassen sind in Deutschland aktuell drei verschiedene Cannabis-basierte Medikamente:
  1. das Mundspray Nabiximols (Sativex®) (THC : CBD = 2,7 : 2,5) zur Behandlung der Therapie-resistenten mittelschweren oder schweren Spastik bei Multipler Sklerose von Erwachsenen.
  2. das THC-Analogon Nabilon (Canemes®) in Kapselform zur Therapie von Übelkeit und Erbrechen infolge einer Chemotherapie.
  3. der CBD-Pflanzenextrakt Epidyolex® zur Begleitbehandlung zu Clobazam bei Kindern ab zwei Jahren bei Krampfanfällen im Zusammenhang mit dem Lennox-Gastaut-Syndrom und dem Dravet-Syndrom, hat jetzt auch eine Zulassung für tuberöse Hirnsklerose.

Weitere Indikationen

Neben den in Deutschland bereits zugelassenen Indikationen gelten folgende weitere Indikationen als etabliert:
  • Chronische, insbesondere neuropathische Schmerzen [4].
  • Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie [10].
  • Anorexie mit Gewichtsverlust bei Aids-Patienten [10].
  • Palliativbehandlungen zur Therapie verschiedener Symptome inklusive Schmerzen und Spastik, aber auch zur Stimmungsaufhellung, Appetitsteigerung, Minderung von Ängsten und Verbesserung des Schlafs [7].

Sind Cannabis-basierte Medikamente auch bei psychiatrischen Erkrankungen wirksam?

Bisher liegen nur sehr wenige Studien vor, in denen die Wirksamkeit Cannabis-basierter Medikamente bei psychischen Erkrankungen untersucht wurde. Nach aktuellen Metaanalysen ist die Datenlage so schlecht, dass bisher zu keiner Indikation verlässliche Aussagen möglich sind [1]. Dabei ist seit Langem bekannt, dass gerade Patient:innen mit psychiatrischen Erkrankungen sehr häufig Cannabis als (Selbst-)Therapie nutzen [5].

Aus offenen und kleinen kontrollierten Studien gibt es begründete Hinweise darauf, dass Cannabis-basierte Medikamente mit mittlerem bis hohem THC-Gehalt bei Patient:innen mit Tourette-Syndrom nicht nur zu einer Verminderung der Tics führen, sondern auch begleitend bestehende psychiatrische Komorbiditäten wie eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Zwänge und Ängste bessern können [8]. Auch bei Patient:innen mit primärer ADHS [2] und reiner Zwangsstörung [9] wurde über Symptomverbesserungen durch Cannabis-basierte Therapien berichtet. In Zusammenhang mit der Behandlung verschiedener somatischer Erkrankungen wie Multiple Sklerose und Schmerzstörungen wurde wiederholt auch eine Verbesserung von Schlafstörungen beobachtet [10].

Darüber hinaus liegen aus kleineren Studien Hinweise darauf vor, dass reines CBD in der Behandlung von Angststörungen und insbesondere bei der sozialen Phobie [3] sowie der Therapie von Psychosen [6] wirksam sein könnte.

Meine erste Patient:in

Stellt sich in der Praxis die Frage einer Therapie mit einem THC-haltigen Cannabis-basierten Medikament, so ist zunächst zu prüfen, ob überhaupt eine betäubungsmittelpflichtige Behandlung indiziert ist oder ob das gewünschte Therapieziel auch auf anderem Wege erreicht werden kann.

Bei bestehender Indikation wird nachfolgend in oben beschriebener Weise ein Antrag auf Kostenübernahme bei der Krankenkasse gestellt. Alternativ kann aber auch eine privatärztliche Verordnung zulasten der Patient:in erfolgen. Die Kostenübernahme wird alternativ für Medizinalcannabisblüten (unabhängig vom THC-Gehalt), Cannabisextrakte, Nabilon oder Dronabinol (THC) gestellt.

Nach dem 2019 in Kraft getretenen "Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV)" muss bei einem Wechsel zwischen verschiedenen Cannabisblüten oder verschiedenen Cannabisextrakten oder einer Änderung der Dosierung kein erneuter Antrag mehr gestellt werden. Strittig ist weiterhin, ob eine Befristung der Kostenübernahme rechtlich zulässig ist. Wird der Kostenübernahmeantrag von der Krankenkasse abgelehnt, lohnt es, in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Gründe vonseiten des MDK angeführt werden, die zur Ablehnung geführt haben, um ggf. Widerspruch einzulegen.

Merke:
  • Die Behandlung mit Cannabis-basierten Medikamenten sollte grundsätzlich mit niedriger Dosis (entsprechend etwa 2,5 mg THC) begonnen werden.
  • Die Dosissteigerung sollte langsam erfolgen (etwa um 2,5 mg alle 2–3 Tage) zur Verbesserung der Verträglichkeit.
  • Eine Cannabis-basierte Therapie ist stets eine individuelle Behandlung.
  • Die inhalative Anwendung führt gegenüber einer oralen Einnahme zu einem schnelleren Wirkeintritt, einer insgesamt stärkeren, aber kürzer anhaltenden Wirkung.

Bei der Verschreibung Cannabis-basierter Medikamente ist wie auch bei anderen betäubungsmittelpflichtigen Substanzen die zulässige Verschreibungshöchstmenge zu beachten, die aber durch entsprechende Kennzeichnung auf dem Rezept mit dem Buchstaben "A" überschritten werden darf (s. Tabelle 1).

Woran ist noch zu denken?

  • Patient:innen müssen über eine mögliche Beeinträchtigung der Fahrsicherheit informiert werden.
  • Ärzt:innen müssen für alle GKV-Patient:innen, die eine No-label- oder Off-label-Therapie mit Cannabis-basierten Medikamenten erhalten (außer CBD und Epidyolex®), ein Jahr nach Therapiebeginn, bei Behandlungsabbruch und im März 2022 (zum Ende der Begleiterhebung) an der Begleiterhebung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) teilnehmen.
  • Patient:innen müssen über die Begleiterhebung informiert werden; hierzu stellt das BfArM auf seiner Internetseite ein Informationsblatt zur Verfügung.
  • Für Reisen ins Ausland muss ein Antrag beim Gesundheitsamt gestellt werden, damit Cannabis-basierte Medikamente legal mitgeführt werden dürfen.

ESSENTIALS - Wichtig für die Sprechstunde
  • Vor einer Behandlung zulasten einer gesetzlichen Krankenkasse muss ein Antrag auf Kostenübernahme gestellt werden.
  • Die Behandlung sollte mit niedriger Dosis begonnen werden.
  • Dosissteigerungen nur langsam vornehmen.


Literatur:
1. Black N, Stockings E, Campbell G, Tran LT, Zagic D, Hall WD, Farrell M, Degenhardt L (2019) Cannabinoids for the treatment of mental disorders and symptoms of mental disorders: a systematic review and meta-analysis. Lancet Psychiatry 6(12):995–1010
2. Cooper RE, Williams E, Seegobin S, Tye C, Kuntsi J, Asherson P (2016) Cannabinoids in attention-deficit/hyperactivity disorder: a randomised-controlled trial. European Neuropsychopharmacology 26:S130
3. Crippa JAS, Derenusson GN, Ferrari TB, et al (2011) Neural basis of anxiolytic effects of cannabidiol (CBD) in generalized social anxiety disorder: a preliminary report. J Psychopharmacol (Oxford) 25(1):121–130
4. Häuser W, Finn DP, Kalso E, Krcevski-Skvarc N, Kress HG, Morlion B, Perrot S, Schäfer M, Wells C, Brill S (2018) European Pain Federation (EFIC) position paper on appropriate use of cannabis-based medicines and medical cannabis for chronic pain management. Eur J Pain. doi: 10.1002/ejp.1297
5. Hazekamp A, Ware MA, Muller-Vahl KR, Abrams D, Grotenhermen F (2013) The medicinal use of cannabis and cannabinoids--an international cross-sectional survey on administration forms. J Psychoactive Drugs 45(3):199–210
6. Leweke FM, Mueller JK, Lange B, Fritze S, Topor CE, Koethe D, Rohleder C (2018) Role of the Endocannabinoid System in the Pathophysiology of Schizophrenia: Implications for Pharmacological Intervention. CNS Drugs 32(7):605–619
7. Mücke M, Weier M, Carter C, Copeland J, Degenhardt L, Cuhls H, Radbruch L, Häuser W, Conrad R (2018) Systematic review and meta‐analysis of cannabinoids in palliative medicine. J Cachexia Sarcopenia Muscle 9(2):220–234
8. Müller-Vahl KR (2020) Behandlung des Tourette-Syndroms mit cannabisbasierten Medikamenten. Nervenheilkunde 39(5):314–319
9. Szejko N, Fremer C, Müller-Vahl KR (2020) Cannabis Improves Obsessive-Compulsive Disorder-Case Report and Review of the Literature. Front Psychiatry 11:681
10. Whiting PF, Wolff RF, Deshpande S, et al (2015) Cannabinoids for Medical Use: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA 313(24):2456–2473



Autorin

Prof. Dr. Kirsten R. Müller-Vahl

Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie
Medizinische Hochschule Hannover
30625 Hannover
Interessenkonflikte: Die Autorin hat Beraterhonorare erhalten von Abide Therapeutics, Boehringer Ingelheim International GmbH, Bionorica Ethics GmbH, CannaMedical Pharma GmbH, Canopy Grouth, Columbia Care, CTC Communications Corp., Demecan, Ethypharm GmbH, Eurox Deutschland GmbH, Global Praxis Group Limited, Lundbeck, MCI Germany, Neuraxpharm, Sanity Group, Stadapharm GmbH, Synendos Therapeutics AG, and Tilray. Die Autorin ist Mitglied im Advisory/Scientific Board von Alexion, CannaMedical Pharma GmbH, Bionorica Ethics GmbH, CannaXan GmbH, Canopy Growth, Columbia Care, Ethypharm GmbH, IMC Germany, Leafly Deutschland GmbH, Neuraxpharm, Sanity Group, Stadapharm GmbH, Synendos Therapeutics AG, Syqe Medical Ltd., Therapix Biosciences Ltd., Tilray, von Mende Marketing GmbH, Wayland Group, and Zambon.



Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (12) Seite 42-44