Noch vor wenigen Jahrhunderten war die Lepra mitten in Deutschland zuhause. Eine Stafette aus Kaufleuten, Reisenden und Soldaten hat im Laufe von Jahrzehnten den Lepraerreger von Indien bis in das Herz Europas getragen. Die Epidemie war weniger spektakulär als die Pest, aber umso grausamer. Der Arzt Martin Glauert machte sich auf die Spurensuche im einzigen Lepramuseum Europas.

"Der Weg endet hier", vermeldet das Navi lapidar, nachdem es uns mal wieder in eine Sackgasse manövriert hat. Ein frecher Satz – aber diesmal hat er einen tieferen Sinn. Hier endeten Lebenswege. Auf der anderen Seite des Baches steht eine Backsteinmauer, und wer früher durch das quietschende Tor hindurchschritt, kam nie mehr zurück. Er trat in eine neue Welt ein, eine lebenslange Quarantäne, die nur von seltenen Ausflügen unterbrochen wurde. Kinderhaus bei Münster ist eine von ehemals über tausend Anlagen in Deutschland, in denen Aussätzige untergebracht wurden. Heute befindet sich hier das Lepramuseum.

Lebende Leichname

Der lang gestreckte weiße Fachwerkbau wirkt idyllisch und verrät nichts von dem Elend, das einst in ihm herrschte. Nach kräftigem Klopfen öffnet eine zierliche Frau die schwere Holztür. Petra Jahnke, die Kustodin des Museums, bittet freundlich herein. Sie bringt Besuchern und Schulklassen diese alte, furchtbare Krankheit näher, und man spürt dabei deutlich ihre innere Anteilnahme. Die hat sie bis Pakistan und Nepal getrieben, wo sie selbst in Leprastationen tatkräftig geholfen hat. Dort ist die Krankheit noch weit verbreitet, und genau aus diesem Winkel der Erde hat sie sich vor Jahrhunderten auf den Weg um die Welt gemacht. Die Lepra entvölkerte keine Landstriche, sondern produzierte lebende Leichname. Mit geduldiger Grausamkeit frisst die Erkrankung langsam an ihren Opfern, verstümmelt ihre Gliedmaßen und zerstört das Gesicht manchmal bis zur Unkenntlichkeit.

Der Erreger der Lepra ...
... ist das Mycobakterium leprae, ein säurefestes Stäbchen. Die Lepra tritt in 2 verschiedenen Formen auf: mit leichtem (paucibazillär) oder schwerem (multibazillär) Bakterienbefall. Der Erreger bevorzugt Temperaturen von 30–32 °C. Das ist der Grund, warum innere Organe von der Krankheit viel weniger befallen werden als Nase, Gesicht und Extremitäten. Die klinische Diagnose, die nicht viel anders gestellt wird als in der Siechenschau zu Köln, muss durch eine mikroskopische Untersuchung gesichert werden, da eine Anzüchtung des Erregers bis heute nicht möglich ist. Dazu wird ein Abstrich aus der Nasenschleimhaut entnommen. Ein Nachweis durch Polymerase-Ketten-Reaktion ist in Einzelfällen möglich. Die Inkubationszeit beträgt mindestens sechs Monate, meistens zwei bis drei Jahre, in manchen Fällen aber sogar bis zu 40 Jahre. Es besteht offensichtlich ein Zusammenhang zwischen genetischer Immunlage und Anfälligkeit. Hohe Anfälligkeit führt zu multibazillärer Lepra, dann wiederum gibt es Menschen, die trotz hohem Ansteckungsrisiko keine Lepra bekommen, wie die Beispiele von Missionaren, Ärzten und Pflegern zeigen.

Auf dem großen Wandfoto sieht man einen hübschen dunkelhäutigen Jungen. Ein Arzt sticht ihm mit der Nadel in die Wange, doch er spürt nichts. Der helle Fleck ist ohne Gefühl. Was auf den ersten Blick ganz harmlos aussieht, ist das erste Anzeichen der Lepra. Später bilden sich dort Knoten, die das Gesicht fratzenhaft entstellen können. Ganze Gesichtsteile verfaulen und fallen ab, wie auf einem anderen Bild zu sehen ist. Der Besucher braucht starke Nerven, um diesen Anblick auszuhalten, der doch für viele Betroffene immer noch normaler Alltag ist. In einem runden Glasbehälter ist das in Spiritus eingelegte Präparat eines echten Fußes mit tiefen Wunden und braunen Geschwüren zu sehen. "Iiih, ist das eklig!", rufen die Schülerinnen auf Klassenexkursion und halten die Hand vor den Mund. Sie spüren genau: Das hier ist kein billiger Horroreffekt, sondern echt, und das ist umso schlimmer.

Holzklappern warnten die Gesunden

Für die zarter Besaiteten sitzt im Vorraum eine lebensgroße Puppe, dekoriert mit den Attributen der Lepra. Sie lehnt an einen Krückstock, ihre Stirn ist von roten Falten verformt, der Blick ist grimmig. Die Hände und Füße sind mit Lappen verbunden. Auf ihrem Schoß liegt eine Holzklapper. Die darf der Besucher gerne einmal in die Hand nehmen und betätigen, der Effekt aber ist überwältigend. Dieses primitive Holzstück macht einen ohrenbetäubenden Lärm. Mit einer solchen Klapper mussten die Leprakranken auf ihren seltenen Ausflügen in die Stadt alle Mitbürger warnen. Die Früchte auf dem Markt durften sie nicht berühren, der Besuch von Tavernen war ihnen strengstens untersagt. Nicht einmal die Brunnen der Gesunden durften sie benutzen, da blieb immerhin als Trost, dass sie aus ihrer eigenen Wasserflasche Dünnbier trinken konnten, so viel sie wollten, sollte doch der Alkohol vom Aussatz reinigen!

Schuld ist ein Bakterium

Die Krankheit war seit biblischen Zeiten den Zeitgenossen unheimlich, die Symptome erregten Angst und Ekel. Im Mittelalter galt jeder von ihr Befallene als "tamquam mortuus" – "gleichsam tot". Ihre Ursache lag viele Jahrhunderte vollkommen im Dunkeln. Die Vorstellungen reichten von einer Erbkrankheit bis hin zur verdienten Strafe Gottes für begangene Verfehlungen. Erst im Jahre 1873 entdeckte der norwegische Arzt Gerhard Armauer Hansen ein Bakterium im Blut der Erkrankten, das er Mycobakterium leprae nannte. Auf einem alten grobkörnigen Schwarz-Weiß-Foto sieht man den Forscher, wie er sich nachdenklich den struppigen Rauschebart krault, während er an seinem hölzernen Experimentiertisch grübelnd ins Mikroskop schaut.

Anti-Lepra-Wirkstoff aus der Nuss

Wie aber konnte man die Krankheit bekämpfen? Der Leibarzt des römischen Kaisers Nero hatte zur Behandlung der Lepra einen geheimnisvollen Theriak angerührt, eine ausgeklügelte Kräutermischung mit Honig. Das Rezept ist überliefert und Frau Jahnke hat dieses antike Wundermittel neu angemischt, – "mit Aldi-Honig", wie sie augenzwinkernd gesteht. Das Fleisch einer Giftschlange hat sie allerdings weggelassen. Die dunkelbraune Paste riecht wie eine Mischung aus Hustensaft und Schuhcreme, und so schmeckt sie auch! Ende des 19. Jahrhunderts besann man sich auf die traditionelle indische Medizin und entdeckte, dass das Öl der Chaulmoogranuss offenbar eine günstige Wirkung auf den Krankheitsverlauf hatte. Diese Nuss liegt wie ein brauner Tennisball in der Hand, aus ihren Kernen presste man Öl und verwendete es in Pillen, Tropfen und Seifen. Die Firma Bayer stellte aus dem Öl einen Äthylester her und brachte ihn unter dem Namen "Antileprol" auf den Markt. Eine blaue Pappschachtel mit diesen Ampullen hat sich im Museum erhalten. Damit war das erste moderne Medikament gegen die Lepra erfunden. Noch heute wird es in einigen Ländern den Patienten direkt in die Haut injiziert, um die Knoten zum Abheilen zu bringen.

Antibiotika bringen Heilung …

Das aktuelle Therapieschema der Weltgesundheitsorganisation besteht aus einer Kombination von verschiedenen Wirkstoffen, die auch bei der Behandlung der Tuberkulose eingesetzt werden. Damit ist die Krankheit heute endlich heilbar. Wird ein erstes Symptom in der Haut rechtzeitig festgestellt, reicht eine einmalige Antibiotikagabe, um die Erkrankung komplett zum Stillstand zu bringen. Die Behandlung eines Leprakranken mit ausgebildeten Symptomen dauert sechs bis zwölf Monate und kostet etwa 23 Euro – ein lächerlicher Preis angesichts der furchtbaren Folgen der unbehandelten Lepra.

… aber auch Kaugummi hilft

Mindestens ebenso wichtig wie die Tabletten aber sind einfache Tricks und Hilfsmittel, die das Leben erleichtern. Auf der Fensterbank des Museums liegt eine kleine Sammlung solcher selbst gebastelten Schätze: Sohlen aus Palmblättern oder Autoreifen schonen die angegriffenen Fußsohlen. Das mag läppisch klingen, hat aber einen grausam realen Grund. "In Nepal haben wir Füße gesehen, bei denen die nackten Knochen aus dem Fleisch herausragten", berichtet Frau Jahnke, "und trotzdem liefen diese Menschen ungeschützt auf den schmutzigen Wegen, um ihre Erledigungen zu machen." Kleine lederne Schuhe hält die Museumsleiterin in der Hand, die aussehen wie Puppenschuhe, aber nur deshalb so klein sind, weil sie an verstümmelte Füße passen. Wenn im Laufe der Krankheit der Nerv geschädigt wird, der für den Lidschluss verantwortlich ist, trocknet das Auge aus und der Patient erblindet. Eine relativ einfache Methode, das zu verhindern, besteht darin, eine Sehne des Kaumuskels abzuzweigen und zum Augenmuskel umzuleiten. Jedes Mal, wenn der Patient nun kaut, wird das Auge unwillkürlich geschlossen und damit das Austrocknen verhindert. Deshalb bekommen diese Patienten in Pakistan neben ihren Tabletten regelmäßig Kaugummi.



Autor:
Martin Glauert

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (17) Seite 84-86