Er ist längst im Praxisalltag angekommen: Der seit letztem Sommer herrschende Medikamentenmangel, hauptsächlich hervorgerufen durch Lieferengpässe, ist zum globalen Problem geworden. Es betrifft nicht nur seltene Arzneistoffe, sondern auch den Generikamarkt und gängige Antibiotika. Wie gehen Hausärzt:innen mit dem Medikamentenengpass um? Zwei Kollegen aus unserem Hausärztebeirat berichten von ihren Erfahrungen, dem Frust über die Gründe, die sich hinter dem Problem verbergen, aber auch von den Chancen und Lehren für ein künftiges Verschreibungsverhalten.

Hausarztpraxen, Apotheken, Kliniken – sie alle treibt der aktuelle Medikamentenmangel um. Die Gründe für den Engpass u.a. bei Hustenmitteln, Blutdrucksenkern und Antibiotika sind multifaktoriell. Der Grundstein des Problems liegt in der Produktionskette, die bei den meisten Medikamenten global verläuft: von China (Herstellung der Vorprodukte) über Indien (Hauptproduktion) nach Osteuropa (Blisterverpackung). Fehlerpotenzial gibt es daher an einigen Stellen: Bei der Herstellung der Arzneistoffe, durch Lieferengpässe der Rohmaterialien oder bei der Umverpackung kann es haken. Die Schließung einzelner Produktionsstätten in China während der Corona-Pandemie sowie die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine tragen ebenso ihren Teil bei.

U.a. die Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Pharmafirmen haben dafür gesorgt, dass die Produktion von Europa in Billiglohnländer ausgelagert wurde. Hinzu kommt eine gestiegene Medikamenten-Nachfrage, die sich durch erhöhtes Infektionsaufkommen seit Sommer 2022 und nicht wie gewöhnlich ab Herbst/Winter abzeichnete.

Offenbar liegt es in der Natur des Menschen, dass allein das Wissen über einen aktuellen Medikamentenmangel eine "Hamster-Tendenz" herbeiführt. So rufen Apotheker:innen dazu auf, auch wirklich nur die Medikamente in den Mengen zu kaufen, die tatsächlich benötigt werden, und keine Vorräte an Medikamenten zu horten, die am Ende den akut Erkrankten fehlen. Allerdings geraten Apotheker:innen bei der Problemlösung auch in die Kritik: "Apotheken schicken die Patienten zur Praxis zurück, ohne ihnen einen Hinweis mitzugeben, welche alternativen Medikamente verfügbar sind. Das gleicht dann manchmal einem Pingpong-Spiel. Neulich musste ich einer Patientin dreimal ein neues Antibiotikum verschreiben. Ich selbst kann ja nicht wissen, welche derzeit lieferbar sind – die Apotheken schon und sie kennen auch die Alternativen", bemängelt Dr. Stefanie Lutz, Allgemeinärztin in Mainz und Mitglied in unserem Hausärztebeirat.

Wir haben zwei weitere Hausärzte aus unserem Beirat gefragt, wie sie den akuten Engpass im Praxisalltag erleben, welche Lösungen sie sehen und wie die Patient:innen damit umgehen.



Dr. Fritz Meyer, Oettingen

Dem Mangel mit Kreativität begegnen

Ein langer Sprechstundentag neigte sich vor wenigen Wochen den dunklen Abendstunden zu. Das Ende machte eine 62-jährige Landwirtin, die "schnell mal" vorbeikam, weil ihre rechte Hand stark schmerzte. Was sie vorzeigte, erschreckte mich, aber passte zum Beruf: Ein Erysipel des stark geschwollenen, hochroten und überwärmten Handrückens breitete sich schon auf den Unterarm aus, kleinste Hautläsionen waren wohl die Eintrittspforten für die tückischen Keime gewesen. Eine sofortige kalkulierte antibiotische Systembehandlung war definitiv obligat. Weil die ortsansässigen Apotheken schon geschlossen hatten, suchte die Bäuerin die einzige Notdienstapotheke unserer Region auf. Wie sie mir später telefonisch berichtete, habe ihr der Apotheker schmunzelnd versichert, dass sie ein Glückspilz sei. Er könne nämlich in seinem Depot gerade noch eine Packung des gewünschten Antibiotikums aufstöbern, dann seien die Vorräte aufgebraucht. Dass dies bei einem völlig unspektakulären Präparat vorkommen könne und nicht etwa nur bei einem hochpreisigen Exklusivmedikament, wäre noch vor Monaten undenkbar gewesen. Doch jetzt ist sie Realität: die Flaute bei nicht nur außergewöhnlichen, sondern auch "üblichen Alltagspillen". Jammern aber wäre fehl am Platz. Vielmehr sollte diese Problemlage als Chance oder "Gamechanger" für eine kreative hausärztliche Behandlungs- und Beratungskultur begriffen werden, weg von den ausgetretenen Pfaden. Nicht jede 08/15-Erkrankung braucht ad hoc die gesamte Toolbox der pharmazeutischen Industrie. Mit Verweis auf die aktuelle Mangelsituation wird eine kompetente hausärztliche Beratung zu andersartigen, vielleicht auch unkonventionellen therapeutischen Optionen von den meisten Patient:innen zumindest verstanden oder als situationsgerecht akzeptiert. Ebenso können rational nachvollziehbare Medikamentenkürzungen bei passender Gelegenheit veranlasst werden. So musste ich am selben Tag bei einer 90-jährigen, kognitiv kaum beeinträchtigten Patientin nach einem operativ versorgten Oberschenkelbruch einen Hausbesuch machen. Der gut informierte Sohn breitete vor mir den Verordnungsdschungel eines Klinikums mit mehr als einem Dutzend empfohlener Tabletten aus. Statine, Schlaftabletten, Analgetika, Antirheumatika, Antidepressiva, "Magenschoner" und eine ganze Serie von Elektrolytpräparaten erschienen mir diskussionswürdig oder mit dem Ziel ersetzbar, die Roborierung durch Reduzierung voranzutreiben. Das kostet zugegebenermaßen Zeit und verlangt schöpferische Kopfarbeit gestützt auf evidenzbasierte wissenschaftliche Erkenntnisse. So könnte in jeder einzelnen Praxis ein wichtiger Beitrag gegen die Verknappung der Medikamentenressourcen geleistet werden. Last but not least wäre damit unter Klimaschutzaspekten [1] eine medikamentöse Überalimentierung vermeidbar.


Literatur:
1. Römer J et al., Die Bedeutung des Klimawandels in der Allgemeinmedizin; Bayerisches Ärzteblatt 2023; 1–2: 28–30



Dr. Christian Schulze, Winterburg

Von Jägern und Sammlern…

Peinlich mutete es an, als ein großer Insulinhersteller vor einigen Wochen einen Rundbrief schrieb, um auf drohende Lieferengpässe beim Humaninsulin hinzuweisen. Die voraussichtliche Rückkehr zur normalen Versorgung wurde dort auf Juli bis November 2023 angegeben. Ursache scheinen u.a. fehlende Gummistopfen zum Verschließen der Glasbehältnisse zu sein. Was soll man davon halten? Wo ist die Verantwortung der Pharmaindustrie, frage ich mich und akzeptiere bei den eingefahrenen Milliardengewinnen vor Steuern pro Quartal auch keine Ausreden. Allerdings ist der Ruf nach Verstaatlichung gleichermaßen ebenso wenig hilfreich in der Situation. Denn der Staat lässt das ja alles ebenso zu!

Weitere Endpunkte der Versorgung bei Cotrim forte, Digitoxin, Bisoprolol und Pantoprazol sind auch tragisch für uns wie auch für die Patient:innen. Gut ist es da, einen Apotheker zu haben, der seinen Bevorratungsumfang von Medikamenten vor Ort auf mittlerweile einen Wert von 240.000 Euro aufgestockt hat und damit die meisten Ausfälle noch deutlich länger kompensieren kann als viele andere Apotheken im Gebiet.

Unser Vorteil bei Pantoprazol ist zumindest, dass wir 70% weniger verordnen als die Fachgruppe, sodass ich an dieser Stelle einmal vorschlagen würde, das Medikament ggf. aufgrund der nicht unerheblichen Nebenwirkungen bei fehlender Indikation (Refluxösophagitis, Zollinger-Ellison-Syndrom, Dauermedikation NSAR) als Dauermedikament vielleicht zu überdenken und abzusetzen. Dieses gelingt gerade bei Patient:innen sehr gut, die es abends nach dem oft zu üppigen Abendessen wegen Sodbrennen noch "hinterherwerfen", sodass es vermutlich ohnehin nicht so wirkt wie nach Einnahme 30 Minuten vor dem Frühstück entsprechend dem Beipackzettel. Die Patient:innen merken zumindest mittlerweile auch, dass es nicht mehr alles gibt, und somit werden die Gespräche zumindest einfacher, wenn man sagt: "Sie können froh sein, wenn Sie ein Medikament überhaupt noch bekommen!"

Weder wir noch die Apotheke ist daran schuld. Sonst natürlich offiziell auch niemand. Das ist in meinen Augen rücksichts- und verantwortungslos. Jedes System, das ich in der komplexen Versorgungslandschaft kenne, hat eine Drop-back-Funktion, mit der solche Ausfälle vermieden werden sollen. Die Energie und der Aufwand aller Beteiligten für dieses große Chaos, die vielen Gespräche mit den verunsicherten Patient:innen, die – als Jäger und Sammler durch das Horten von Arzneimitteln – auch zur weiteren Verknappung beitragen, werden natürlich wieder mal nicht respektiert und mit einer Nullrunde unfair belohnt. Wir Ärzte löffeln mal wieder die Suppe aus, die uns Politik und die Krankenkassen mit ihren Rabattverträgen eingebrockt haben und die den enorm großen Aufwand bei uns Hausärzten verursacht haben.

Darüber hinaus ist das Problem ja seit Jahrzehnten bekannt: Kein Td-Impfstoff, jahrelang kein FSME-Impfstoff, aktuell selten Tollwut-Impfstoff und zuletzt kein Cholera- sowie Hepatitis-A-Impfstoff sind verfügbar. Herr Lauterbach ist seit einem Jahrzehnt in Regierungsverantwortung! Vielleicht sollte man hier mal eine Nullrunde der Diäten/Gehälter im Gesundheitsministerium sowie eine vollständige Abschöpfung aller Übergewinne der Pharmaindustrie fordern, um im Sinne des Ursache-Wirkungs-Prinzips an der richtigen Stelle "faire Bezahlung" darzustellen.

Soviel zur Theorie. In der Praxis schauen Sie bitte, dass Sie nur Medikamente verordnen, die beim Patienten auch nachvollziehbar verbraucht sein könnten. Aber bei 1,4 Hausärzten je Patient haben wir es eh nicht in der Hand. Dann hoffen wir einmal darauf, dass sich ggf. etwas durch eine intelligente und zuverlässige Digitalisierung bzgl. dieses Dilemmas optimieren lässt. Aber bis dahin werden wir wie in der Steinzeit weiter als Jäger und Sammler unterwegs sein und hoffen, dass wir clevere Apotheker im Netzwerk haben, die uns vor den größten Problemen bewahren, auch wenn das Fach "Jagen und Sammeln" weder bei den Pharmazeuten noch den Medizinern gelehrt oder geprüft wird.



Autorin
Yvonne Emard

Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (3) Seite 54-55