Arterielle Gefäßerkrankungen sind eine wesentliche Ursache für Amputationen im Bereich der unteren Extremität in Deutschland. Menschen mit Diabetes, insbesondere ältere Personen, sind aufgrund des diabetischen Fußsyndroms um ein Vielfaches häufiger betroffen als Menschen ohne Diabetes.

Ein geriatrischer Patient ist laut Definition der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie
  • über 70 Jahre alt und multimorbide oder
  • über 80 Jahre alt, da in diesem Kollektiv Multimorbidität überwiegt.

Da die Selbsttherapiefähigkeit auch beim Gefäßpatienten mit Diabetes eine zentrale Frage zur Therapieentscheidung darstellt, hat sich folgende Einteilung ebenfalls bewährt:

1. vollständig mobile, geistig und körperlich kompetente, nicht-geriatrische Patienten – sogenannte "Go-Go"

2. funktionseingeschränkte Patienten, mit geriatrischen Syndromen versehen und leicht hilfsbedürftig – die "Slow-Go"

3. extrem eingeschränkte und hilfsbedürftige geriatrische Patienten, oft auch an Demenz oder anderen ausgeprägten Organschwächen terminal erkrankt – sogenannte "No-Go".

Entstehung des diabetischen Fußsyndroms

Pathophysiologische Hauptursachen für das diabetische Fußsyndrom sind neben der klassischen arteriellen Verschlusskrankheit (AVK) die sogar häufiger vorkommende diabetische oder endogene Polyneuropathie (PNP) und – gerade im Alter unterschätzt – die periphere Ödembildung. Derartige Ödembildungen der unteren Extremität entstehen meist im Rahmen einer venösen Insuffizienz, einer Herzinsuffizienz oder einer Lymphabflussschwäche durch Immobilität oder ausgeprägte Adipositas.

Menschen mit Diabetes sind durch das deutlich höhere Infektionsrisiko bei entgleistem Diabetesstoffwechsel besonders gefährdet, ein diabetisches Fußsyndrom oder gar eine Amputation zu erleiden. Meist sind es initial kleinere Verletzungen und Druckschäden, die chronische Ulzerationen generieren. Zudem beeinflussen auch funktionelle Beeinträchtigungen durch die Multimorbidität des geriatrischen Patienten den Verlauf: Ca. 80 % der geriatrischen Menschen mit Diabetes können ihre Fußsohlen nicht mehr inspizieren! Damit fehlt zumindest für die Rezidivprophylaxe die wichtige Schutzfunktion der Selbstkontrolle. Wunden und Verletzungen werden nicht rechtzeitig erkannt, können sich leicht unerkannt infizieren und werden erst dadurch zu einer ernsten Gefahr bis hin zur drohenden Amputation.

Weitere Handicaps, die Selbstkontrolle und Selbsttherapie einschränken, sind die sogenannten geriatrischen Syndrome. Allein die geriatrischen "I" unter ihnen:
  • Immobilität
  • Instabilität
  • Intellektueller Abbau
  • Isolation
  • Iatrogene Störungen durch Multimedikation können aus einer kleinen Verletzung schnell eine Extremitäten-gefährdende Situation entstehen lassen oder gute Therapieansätze bei erkannter Gefahr wieder zunichtemachen.

Die Folgen einer Amputation sind für den geriatrischen Patienten besonders dramatisch:
  • Das Risiko einer anhaltenden Pflegebedürftigkeit bei zuvor noch mobilen Patienten liegt nach Majoramputationen bei etwa 30 – 40 %.
  • Die 1-Jahresmortalität bei geriatrischen Patienten nach Majoramputation wird in Studien mit bis zu 50 % angegeben!

Allgemeine Therapierisiken

Aufgrund der großen Heterogenität geriatrischer Gefäßpatienten mit Diabetes müssen individuelle Therapieziele definiert werden (vgl. Tabelle 1). Für jeden Therapeuten ist die Beachtung der Multimorbidität für eine erfolgreiche Therapie von entscheidender Bedeutung:
  • BZ-Werte über 200 mg% (mmol) können die Wundheilung verzögern und fördern andere Risiken wie Thrombose, Pneumonie oder zerebralen Insult.
  • Begleitende Organinsuffizienzen, insbesondere die Niereninsuffizienz, beeinträchtigen klassische Therapiemethoden wie die Kontrastmittelangiographie und erhöhen das Risiko für ein Therapieversagen und eine nochmals erhöhte Mortalität
  • Demenzielle Entwicklungen beeinträchtigen das Einhalten von Therapieempfehlungen wie die akute Druckentlastung der Wunden durch Rollstuhlmobilisierung oder das Tragen von Spezialschuhen.
  • Prä- oder postoperativ delirante Zustände, häufig durch metabolische Entgleisungen, Hypotonie, Multimedikation oder Schmerzen bedingt, erhöhen das Komplikationsrisiko und die Mortalität. Die Krankenhaus-Mortalität von geriatrischen Patienten mit Delir liegt je nach Studie zwischen 22 und 78 %!
  • Eine Kachexie und der damit verbundene Mangel an Eiweiß, Spurenelementen und Vitaminen machen oft jede Anstrengung moderner Wundbehandlung und den Versuch der postinterventionellen Mobilisierung zunichte.
  • Multimedikation fördert Kachexie durch Appetitlosigkeit und Gastritiden, aber auch delirante Zustände in Zusammenhang mit zentralnervös wirksamen Mitteln und das plötzliche Versagen schon zuvor eingeschränkter Organe und der Gerinnung. Eine häufig gut gemeinte, aber über das Ziel hinausschießende antihypertensive Therapie gefährdet den Erfolg einer angioplastischen oder gefäßchirurgischen Therapie durch Steigerung von Frühverschlussraten. Hier sollte man sich, wenn nicht eine ausgeprägte Herzinsuffizienz vorliegt, an den neueren RR-Zielen für geriatrische Patienten von 150/90 mmHg orientieren.

Spezielle Therapie und ihre Risiken

Die grundlegenden Prinzipien der Therapie bei geriatrischen Gefäßpatienten mit Diabetes unterscheiden sich nicht von denen jüngerer Patienten. Das modifizierte "IRA+-Prinzip" beinhaltet neben der Infektionsbekämpfung, Revaskularisation und Teil-Amputation besonders die Stoffwechselstabilisierung mit präprandialen BZ-Werten unter 200 mg % und die akute Druckentlastung.

Die Druckentlastung ist besonders wichtig, da geriatrischen Patienten mit Polyneuropathie das wichtigste Warnsignal vor schädlichem Druck auf die Wunde oder die Extremität, das Schmerzgefühl, fehlt oder deutlich vermindert ist. In diesem Zusammenhang kann das klassische "Gehtraining" für geriatrische Gefäßpatienten mit Polyneuropathie fatale Folgen haben. Besonders plantare Wunden werden dabei, meist ohne angepasstes Schuhwerk, extrem druckbelastet. Damit kann eine Wunde selbst mit modernsten Wundprodukten nicht abheilen. Oft wird dann fälschlicherweise die sehr umstrittene sogenannte "Mikroangiopathie" oder schlichtweg der Diabetes für den mangelnden Heilungsprozess angeschuldigt.

Trotz der genannten Gefahren ist eine vorsichtige Mobilisierung für geriatrische Patienten überlebenswichtig. Immobilisation und Bettlägerigkeit erhöhen das Risiko für Folgekomplikationen wie Pneumonie, Thrombose und Insult deutlich; bislang noch kompensierte Handicaps verstärken sich schnell. Die Gefahr der Inkontinenz, der Depression, der Desorientierung bei demenzieller Entwicklung und die Sturzgefahr mit Frakturrisiko steigen drastisch an.

Für die Mobilisierung stehen eine ganze Reihe von preiswerten, vorkonfektionierten, damit schnell lieferbaren Spezialverbandschuhen mit Entlastungs- und Weichsohlen zur Verfügung. Die speziellen Einlegesohlen können im Bereich von plantaren Wunden ausgeschnitten werden und sichern damit die lokale Druckentlastung. Billig-Verbandschuhe ohne die Möglichkeit zur Entlastungssohleneinlage sollten trotz gegenteiliger Versuche mancher Krankenkassen und MDK-Gutachter vermieden werden. Hier würde am falschen Platz gespart.

Praxishilfe "Herz- und Kreislauferkrankungen im Alter"
In Band 4 der Reihe "Praxishilfen Praktische Geriatrie", die von Dr. med. Peter Landendörfer und Prof. Dr. med. Frank H. Mader herausgegeben wird, finden Sie in übersichtlicher, knapper und praxisrelevanter Form wichtige Informationen zu den häufigsten Beratungsproblemen älterer Patienten im Bereich der Herz-Kreislauferkrankungen. Es gibt u. a. Kapitel zu häufigen Leitsymptomen, zur Hypertonie, zur KHK und zur Herzinsuffizienz. Wie alle Bände der Praxishilfen "Praktische Geriatrie" zeichnet sich auch dieses Büchlein durch eine an hausärztlichen Bedürfnissen orientierte Gliederung und Systematik sowie viele Merksätze und Kasuistiken aus und stellt so eine echte Hilfe für die Routine im Praxisalltag dar. Zu beziehen für 14,90 Euro beim Kirchheim-Verlag ( http://www.kirchheim-shop.de , Tel.: 0711/6672-1483 oder svk@svk.de) oder im Buchhandel. Roland Hardt, Erich Schmidt: Herz- und Kreislauferkrankungen im Alter, ISBN: 978-3-87409-480-570-9, 64 Seiten, Kirchheim-Verlag, Mainz

Sogar gefährlich für geriatrische Gefäßpatienten mit Diabetes sind die früher gerne genutzten Vorfußentlastungsschuhe. Die schon für jüngere Patienten kaum nützlichen Vorfußschuhe stellen für geriatrische Patienten eine massive Stolperfalle dar und erhöhen das Sturz- und das Frakturrisiko maßgeblich.

Bettlägerige Patienten haben häufig Druckulzerationen im Liegebereich der Fersen. Die klassische Pflegemethode der Unterschenkel-Hochlagerung durch ein Kopfkissen ist dabei nicht wirksam und hilft nur noch bei völlig bewegungslosen Patienten. Sobald ein geriatrischer Patient sich im Bett bewegt, wird er seine Fersen mitbenutzen, so dass das gut gemeinte Kissen sofort wegrutscht und die Fersenwunden Druck bekommen. Hier sind spezielle Hilfsmittel wie z. B. Orthesen mit Bügelschutz im Fersenbereich angeraten. Auch lassen sich damit erste therapeutisch begleitete Mobilisierungsübungen durchführen.

Prophylaxe

Regelmäßige Kontrollen von Fußbefund, Schuhbeschaffenheit, Stoffwechselqualität und arterieller Perfusion, aber auch der kognitiven Fähigkeiten, der psychischen Stabilität und insbesondere der Selbsthilfefähigkeiten des Patienten in Bezug auf Fußpflege sind wichtig.

Die dem Risikopatienten mit AVK und Polyneuropathie seit 2008 zustehende monatliche podologische Fußpflege sollte rezeptiert werden. Bei Handicaps hilft die frühzeitige Organisation familiärer oder professioneller Hilfen. Bei drohender Immobilität, Sturzgefahr und Pflegebedürftigkeit kann ein vom Kostenträger unterstütztes Krafttraining für geriatrische Patienten einen Verlust der Selbstständigkeit lange hinauszögern.



Autor:

Dr. med. Jürgen Wernecke

AGAPLESION Diakonieklnikum Hamburg
20259 Hamburg

Interessenkonflikte: Vortragstätigkeit für Lilly, Novo Nordisk, Novartis; Beratertätigkeit für Lilly, MSD


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (3) Seite 46-49