Psychische Störungen sind häufig. Woran denken Sie, wenn Patienten über Müdigkeit, Libidoverlust, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme und Konzentrationsstörungen klagen? Wie können Sie in der Praxis rasch eine Depression ausschließen? Welche somatischen Ursachen kommen als Diagnose infrage? Beantworten Sie diese Fragen zuerst und lesen erst dann weiter. Haben Sie richtig gelegen?
Was ist das Problem?
Die inzwischen 40-jährige Patientin (Abb. 1) – wir kennen sie bereits vom Fall 4 in der Ausgabe 15/2017 (vgl. Abb. 2) – meldet sich acht Jahre später erneut. Sie sei nicht mehr in die Praxis gekommen, weil die Diagnose "Krätze" sie gekränkt habe. Vor zwei Jahren sei eine Schilddrüsenentzündung festgestellt worden – voll substituiert. Seither fühle sie sich schlapp, könne sich zu nichts aufraffen. Weiterhin bestünden Libidoverlust, Appetitlosigkeit, Konzentrationsstörungen und eine Gewichtsabnahme von 10 kg in zwei Jahren.
Welche Erkrankung vermuten Sie?
Was die Patientin am Telefon vorbringt, lässt prima vista an eine Depression denken. Die Störung dauert nunmehr seit zwei Jahren an. Die Hauptsymptome
- gedrückte Stimmung
- Interesse-, Freudlosigkeit
- Antriebsstörung
- gereizte Stimmung
liegen ausnahmslos vor. Dazu kommen eine Appetitminderung, Gewichtsabnahme sowie die Konzentrationsstörung – all das würde die Kriterien einer Depression erfüllen. Definitionsgemäß ist jedoch hier der Ausschluss eines Missbrauchs psychotroper Substanzen und einer organischen Störung zu fordern.
Was wollen Sie noch wissen?
Neben der Frage nach Einnahme von Medikamenten, psychotropen Substanzen und der Frage nach Infektionen und chronischen Erkrankungen – in diesem Fall besteht ein Zustand nach Hashimoto-Thyreoiditis, allerdings suffizient substituiert – ist die Fahndung nach Symptomen von Depression und Angst wichtig. Zwei Screeningfragen haben sich bewährt:
- Haben Sie sich in den letzten vier Wochen oft niedergeschlagen, schwermütig und hoffnungslos gefühlt?
- Haben Sie wenig Interesse/Freude an Tätigkeiten gehabt?
Werden beide Fragen verneint, kann eine ausgeprägte Depression mit hoher Sicherheit ausgeschlossen werden. Wird mindestens eine Frage bejaht, so sollte nach weiteren Symptomen gefahndet werden wie:
- Schlafstörungen
- verändertem Appetit oder Gewichtsveränderung
- negativem Selbstwertgefühl
- Enttäuschung über sich selbst
- Versagensängsten
- Konzentrationsschwierigkeiten
- vermehrtem/vermindertem Bewegungsdrang
- Gedanken an Tod oder Selbstmord
Eine ausgeprägte Depression liegt vor, wenn mindestens insgesamt fünf oder mehr Kriterien bejaht werden, darunter mindestens eine der beiden Screeningfragen. Besonders wichtig ist die Frage nach Selbstmordgedanken, da der Suizid einen abwendbar gefährlichen Verlauf darstellt.
Frau P. bejaht beide Screeningfragen. Dazu kommen Gewichtsabnahme, Müdigkeit, Konzentrationsstörung, Libidoverlust; formal liegen die Kriterien für eine Depression vor.
Welche seelischen Störungen kommen außerdem in Betracht?
- (generalisierte) Angststörung
- somatoforme Störungen
- chronisches Müdigkeitssyndrom
Auffälliger Befund: ein deutlich dunkleres Hautkolorit
Die Veränderung der Hautfarbe (Abb. 1) springt sofort ins Auge. Die früher eher blasshäutige Patientin weist nunmehr ein dunkelbraunes Hautkolorit auf. Auch die Handlinien sind hyperpigmentiert (Abb. 3). Die Patientin gibt an, nicht im Solarium oder viel in der Sonne gewesen zu sein.
Die Krankheitsgeschichte der Patientin erscheint nunmehr in einem völlig anderen Licht. Dunkelbraunes Hautkolorit, hyperpigmentierte Handlinien in Kombination mit Antriebslosigkeit, Libidomangel und Gewichtsverlust lassen an einen Morbus Addison denken. Da die Patientin bereits vor knapp zwei Jahren eine Hashimoto-Thyreoiditis durchgemacht hatte – sie ist diesbezüglich suffizient substituiert –, besteht der Verdacht auf ein autoimmun polyglanduläres Syndrom Typ II (APS2) im Sinn eines Schmidt-Syndroms.
Basales und stimuliertes Kortisol waren erniedrigt. Die Möglichkeiten der weiteren Abklärung in der Allgemeinpraxis sind sehr beschränkt. Die Patientin wurde daher unverzüglich (um einer lebensbedrohlichen Addison-Krise vorzubeugen) in ein spezialisiertes endokrinologisches Zentrum überwiesen. Dort wurde die Diagnose eines Schmidt-Syndroms bestätigt.
Unter Substitution mit Gluko- und Mineralokortikoiden sowie Sexualhormonen zeigte sich eine deutliche Besserung. Allerdings nahm die Patientin auch gleich wieder an Gewicht zu.
Was lernen wir?
Eckpfeiler der Depressions-Diagnostik ist die Anamnestik hinsichtlich der Hauptsymptome gedrückte Stimmung, Interesse-, Freudlosigkeit, Antriebsstörung, gereizte Stimmung unter Einbeziehung der Nebensymptome.
Definitionsgemäß ist jedoch hier der Ausschluss eines Missbrauchs psychotroper Substanzen und einer organischen Störung zu fordern. Die erlebte Anamnese spielt in der Allgemeinmedizin eine große Rolle. In diesem Fall führte die beobachtete Veränderung des Hautkolorits bei bereits von früher bekannter Hashimoto-Thyreoiditis zur Aufdeckung des in der Hausarztpraxis extrem seltenen M. Addison, hier im Rahmen eines Schmidt-Syndroms.
Überblick über die bisher in dieser Serie erschienenen Beiträge:
- Fall 1: Roter Gelee im Urinbecher
- Fall 2: Plötzlich bewusstlos – der ganze Körper zuckt
- Fall 3: Nach Reha-Entlassung: 17 ½ Tabletten täglich!
- Fall 4: Juckreiz am ganzen Körper
- Fall 5: Traurig, schlapp und müde
- Fall 6: Wegen Atemnot in die Spezialklinik
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (16) Seite 47-48