Die Migräne zählt zu den häufigsten Kopfschmerzarten. Bei der Entstehung spielen genetische Einflüsse eine große Rolle, wie man inzwischen weiß. Die Migräne ohne Aura ist am häufigsten. Bei der Migräne mit Aura kommt es im Vorfeld zu neurologischen Ausfällen, meist in Form von Flimmerskotomen. Bei der seltenen hemiplegischen Migräne treten charakteristischerweise Halbseitenlähmungen im Rahmen der Aura auf.

Mit einer Prävalenz von etwa 15 % ist die Migräne eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen [1]. Betroffen sind überwiegend Menschen im mittleren Erwachsenenalter. Die Häufigkeit und der hohe Leidensdruck im Zusammenhang mit diesem Kopfschmerz bringt erhebliche sozioökonomische Konsequenzen mit sich [2, 3].

Die Migräne zählt zu den sogenannten primären Kopfschmerzerkrankungen. Diese sind nicht die Folge oder das Symptom einer anderen Erkrankung, sondern eine eigenständige "idiopathische" Krankheitsentität. Da keine verlässlichen Biomarker existieren, stützt sich die Diagnosestellung allein auf anamnestische Angaben, die der Arzt im Gespräch mit dem Patienten gründlich erheben muss. Entscheidend sind hierbei Fragen nach Lokalisation (einseitig), Qualität (typischerweise pulsierend), Intensität (mittel bis stark), Schmerzverstärkung durch körperliche Aktivität und Begleitsymptomen (Übelkeit, Licht-/Geräuschempfindlichkeit). Die operationalen Kriterien der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft [4] definieren hier genau, welche Eigenschaften in welcher Kombination vorliegen müssen, um die Dia-gnose einer Migräne zu stellen.

Man unterscheidet die häufigere Migräne ohne Aura (MO) von der Migräne mit Aura (MA). Bei der MA geht dem Kopfschmerz eine sich langsam ausbreitende, bis zu 60-minütige neurologische Reiz- bzw. Ausfall-Symptomatik (meist visuell, z. B. in Form eines sogenannten Flimmerskotoms, seltener sensibel, aphasisch oder sogar motorisch) voran. Eine Aura findet sich bei 30 % der Migränepatienten. Als Korrelat für die Migräneaura gilt – u. a. nach bildgebenden Daten – die sogenannte Cortical spreading Depression, eine sich kortikal ausbreitende Welle neuronaler Depolarisation mit anschließender Untererregbarkeit während einer anhaltenden Erholungsphase [5, 6].

Migräne – eine genetische Erkrankung?

Bei etwa der Hälfte der Migränepatienten ist die Familienanamnese bei Verwandten ersten Grades positiv [7]. Für die MO ist das Risiko eines erstgradigen Verwandten, ebenfalls zu erkranken, um den Faktor 1,9 erhöht, bei der MA liegt dieser mit 3,8 sogar noch höher [8]. Auch Zwillingsstudien haben ein erhöhtes gleichzeitiges Vorkommen von Migräne (sogenannte Konkordanz) bei monozygoten im Vergleich zu dizygoten Zwillingen belegt, insbesondere bei MA [9]. All diese Beobachtungen legen eine erhebliche genetische Komponente von Migräne nahe. Was die häufigen Formen betrifft, so handelt es sich um eine genetisch komplexe Erkrankung. Das heißt: Neben der genetischen Komponente spielen auch Umwelteinflüsse eine wesentliche Rolle (multifaktorielles Krankheitsmodell). Demgegenüber gibt es aber auch seltene Migräneformen, die monogen vererbt werden; ein wichtiges Beispiel ist die (familiäre) hemiplegische Migräne.

Häufige Formen

Für die häufigen Migräneformen (MO, MA) blieb die Suche nach einem genetischen Korrelat lange Zeit ohne großen Erfolg. Erst durch genomweite Assoziationsstudien war in jüngs-ter Zeit eine großflächige Analyse zur Identifikation von Risikogenen für Migräne machbar. Dabei wurden durch die Untersuchung sehr großer Patientenkollektive und die internationale Zusammenarbeit vieler Forschungsgruppen mittlerweile über 30 Risiko-Loci gefunden [10, 11]. Da es sich bei den identifizierten Veränderungen um Risikovarianten handelt, die isoliert betrachtet das relative Erkrankungsrisiko für den einzelnen Patienten nur in ganz diskretem Umfang erhöhen, ist eine Anwendung im Sinne einer Diagnostik nicht sinnvoll.

Seltene Formen

Die hemiplegische Migräne ist eine seltene monogenetische Variante der Migräne mit Aura und hat eine Prävalenz von etwa 0,01 %. Man unterscheidet die autosomal-dominant vererbte familiäre (FHM) von der sporadischen Form (SHM) ohne positive Familienanamnese. Bisher sind bei der familiären hemiplegischen Migräne drei ursächliche Gene bekannt, die alle für Kanalproteine kodieren (CACNA1A, ATP1A2 und SCN1A) [14, 15, 16]. Die Mutationen in diesen Genen führen zu einer Erhöhung von Glutamat im synaptischen Spalt und somit zu einer gesteigerten neuronalen Erregbarkeit, was in eine gesteigerte Suszeptibilität für die spreading depression mündet.

Eine hemiplegische Migräne zeigt sich durch das Auftreten rezidivierender Attacken mit reversiblen visuellen oder sensiblen Symptomen und/oder Sprachstörungen sowie dem namensgebenden reversiblen motorischen Defizit. Dabei ist der Begriff "Hemiplegie" missverständlich, da nicht nur ein vollständiger Kraftverlust (= plegie), sondern auch eine Parese unterschiedlichen Schweregrads als motorische Aura gewertet werden kann. Typischerweise breiten sich die Symptome aus oder treten zeitlich gestaffelt auf. Anders als Aurasymptome bei gewöhnlicher MA, die durch eine Dauer zwischen fünf und 60 Minuten gekennzeichnet sind, kann die motorische Symptomatik bis zu 72 Stunden anhalten. In seltenen Fällen gibt es noch länger andauernde Auren, die in den offiziellen Diagnosekriterien der Internationalen Kopfschmerzklassifikation ICHD-IIIß aber unberücksichtigt bleiben [4].

Die Ersterkrankung beginnt meist schon in der Kindheit oder frühen Jugend. Im Vergleich zur gewöhnlichen Migräne mit Aura dauern die Aurasymptome oft länger und die Attackenfrequenz ist mit durchschnittlich drei Anfällen im Jahr tendenziell niedriger. Viele Patienten leiden neben der hemiplegischen Migräne jedoch zusätzlich unter Attacken einer nicht hemiplegischen Migräne mit oder ohne Aura. Als mögliche Auslöser von hemiplegischen Attacken kommen leichte Kopftraumata, physische Anstrengung und Kontrastmittelexposition (z. B. im Rahmen einer zerebralen Angiographie) infrage. Bei schwereren Attacken können zusätzliche Komplikationen wie Fieber, Verwirrtheit, epileptische Anfälle, Bewusstseinsstörung bis hin zum Koma auftreten [12]. Auch transiente Hirnstammsymptome mit bilateralen motorischen bzw. sensiblen Defiziten, Dysarthrie oder Schwindel im Rahmen der Aura sind möglich [13].

Neben der reinen hemiplegischen Migräne können in Familien mit einer bestimmten Genmutation auch permanente neurologische Symptome (außerhalb der Attacken) vorkommen. So zeigten sich z. B. gehäuft progrediente zerebelläre Symptome (Nystagmus, Gang- und Standstörungen) [17]. Auch permanente kognitive Defizite wie mentale Retardierung und eine spät einsetzende "demenzielle Entwicklung" werden beschrieben [18, 19].

Mögliche Differenzialdiagnosen

Besonders bei der Erstmanifestation der Erkrankung, bei dem Verdacht auf eine sporadische hemiplegische Migräne ohne positive Familienanamnese oder bei Auftreten von verlängerten Aurasymptomen sind weitere diagnostische Maßnahmen, wie die Bildgebung mittels cMRT, unbedingt erforderlich, um eine symptomatische Ursache der Beschwerden im Rahmen einer anderen Grunderkrankung auszuschließen. Hierzu zählen einerseits häufigere Differenzialdiagnosen, wie Transitorisch Ischämische Attacken (TIA) oder epileptische Anfälle. Aber auch andere seltene Erkrankungen mit strukturellen Veränderungen (z. B. Sturge-Weber-Syndrom [20]) oder genetische Erkrankungen (z. B. CADASIL, RVCL, MELAS) können Symptome einer Migräne mit Aura hervorrufen oder imitieren [21].

Therapie

Zur Akuttherapie der hemiplegischen Migräne sind Triptane formal kontraindiziert, wenngleich kleinere Fallserien keinen Hinweis auf ein erhöhtes Risiko zu liefern scheinen. Die stark einschränkende Aurasymptomatik lässt sich durch Triptane jedoch nicht beeinflussen. Als Akutmaßnahme kann hierzu in Einzelfällen auf individueller Basis Ketamin-Nasenspray eingesetzt werden. Vornehmliches Therapieziel wäre daher die Verringerung der Auftretenswahrscheinlichkeit von hemiplegischen Attacken durch eine medikamentöse Prophylaxe, wobei hierzu bisher keine evidenzbasierten Daten vorliegen.


Literatur
1. Stovner, L.J., et al., Epidemiology of headache in Europe. Eur J Neurol, 2006. 13(4): p. 333-45.
2. Menken, M., T.L. Munsat, and J.F. Toole, The global burden of disease study: implications for neurology. Arch Neurol, 2000. 57(3): p. 418-20.
3. Andlin-Sobocki, P., et al., Cost of disorders of the brain in Europe. Eur J Neurol, 2005. 12 Suppl 1: p. 1-27.
4. The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition (beta version). Cephalalgia, 2013. 33(9): p. 629-808.
5. Teive, H.A., et al., Leao‘s cortical spreading depression: from experimental "artifact" to physiological principle. Neurology, 2005. 65(9): p. 1455-9.
6. Hadjikhani, N., et al., Mechanisms of migraine aura revealed by functional MRI in human visual cortex. Proc Natl Acad Sci U S A, 2001. 98(8): p. 4687-92.
7. Bille, B., A 40-year follow-up of school children with migraine. Cephalalgia, 1997. 17(4): p. 488-91; discussion 487.
8. Russell, M.B. and J. Olesen, Increased familial risk and evidence of genetic factor in migraine. BMJ, 1995. 311(7004): p. 541-4.
9. Gervil, M., et al., Migraine without aura: a population-based twin study. Ann Neurol, 1999. 46(4): p. 606-11.
10. Anttila, V., et al., Genome-wide meta-analysis identifies new susceptibility loci for migraine. Nat Genet, 2013. 45(8): p. 912-7.
11. Gormley, P., et al., Meta-analysis of 375,000 individuals identifies 38 susceptibility loci for migraine. Nat Genet, 2016. 48(8): p. 856-66.
12. Ducros, A., et al., The clinical spectrum of familial hemiplegic migraine associated with mutations in a neuronal calcium channel. N Engl J Med, 2001. 345(1): p. 17-24.
13. Haan, J., et al., Is familial hemiplegic migraine a hereditary form of basilar migraine? Cephalalgia, 1995. 15(6): p. 477-81.
14. Ophoff, R.A., et al., Familial hemiplegic migraine and episodic ataxia type-2 are caused by mutations in the Ca2+ channel gene CACNL1A4. Cell, 1996. 87(3): p. 543-52.
15. De Fusco, M., et al., Haploinsufficiency of ATP1A2 encoding the Na+/K+ pump alpha2 subunit associated with familial hemiplegic migraine type 2. Nat Genet, 2003. 33(2): p. 192-6.
16. Dichgans, M., et al., Mutation in the neuronal voltage-gated sodium channel SCN1A in familial hemiplegic migraine. Lancet, 2005. 366(9483): p. 371-7.
17. Ducros, A., et al., Recurrence of the T666M calcium channel CACNA1A gene mutation in familial hemiplegic migraine with progressive cerebellar ataxia. Am J Hum Genet, 1999. 64(1): p. 89-98.
18. Freilinger, T., et al., Expansion of the phenotypic spectrum of the CACNA1A T666M mutation: a family with familial hemiplegic migraine type 1, cerebellar atrophy and mental retardation. Cephalalgia, 2008. 28(4): p. 403-7.
19. Freilinger, T., et al., A novel mutation in CACNA1A associated with hemiplegic migraine, cerebellar dysfunction and late-onset cognitive decline. J Neurol Sci, 2011. 300(1-2): p. 160-3.
20. Freilinger, T., et al., A case of Sturge-Weber syndrome with symptomatic hemiplegic migraine: clinical and multimodality imaging data during a prolonged attack. J Neurol Sci, 2009. 287(1-2): p. 271-4.
21. Vahedi, K., et al., Migraine with aura and brain magnetic resonance imaging abnormalities in patients with CADASIL. Arch Neurol, 2004. 61(8): p. 1237-40.



Autor:

Dr. med. Victoria Schubert

PD Dr. med. Tobias Freilinger
Zentrum für Neurologie, Hertie-Institut f. klinische Hirnforschung, Universitätsklinikum Tübingen
72076 Tübingen

Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (4) Seite 22-24