Bisher ging man davon aus, dass sich Migräneanfälle durch bestimmte Trigger auslösen lassen. Lernt der Patient, diese Trigger konsequent zu meiden, müssten auch die Migräneanfälle weniger häufig auftreten. Das funktioniert jedoch nicht immer. Neueren Erkenntnissen zufolge kann intensives Vermeidungsverhalten sogar die Attackenhäufigkeit steigern. Ein wichtiger Faktor, was die Wirksamkeit von Medikamenten angeht, scheint die Erwartungshaltung des Patienten zu sein, die sich vom behandelnden Arzt beeinflussen und insofern therapeutisch nutzen lässt.

Kopfschmerzen werden nach der Klassifikation der International Headache Society (ICHD-II 2006) in primäre und sekundäre Kopfschmerzen eingeteilt. Während primäre Kopfschmerzen die Erkrankung "an sich" darstellen, sind sekundäre Kopfschmerzen auf andere Erkrankungen zurückzuführen. Daraus ergeben sich therapeutisch unterschiedliche Vorgehensweisen. So wird bei sekundären Kopfschmerzen zunächst die eigentliche Ursache der Kopfschmerzen (z. B. Infektion, Substanzgebrauch) angegangen. Primäre Kopfschmerzen (vgl. Übersicht 1) dagegen haben keine weitere Ursache, was grundsätzlich andere Behandlungen erfordert.

Sekundäre Kopfschmerzen sind in ihrer Art wesentlich stärker nach ihren Ursachen differenziert [15]. Im Rahmen dieses Beitrages soll auf den Umstand der Wirkungserwartung bei der Migräne eingegangen werden. Dieser gewinnt zunehmend mehr Beachtung und führt zu teilweise unerwarteten therapeutischen Konsequenzen.

Merke:
  • Es nützt das beste Medikament nichts, wenn bei dem Patienten eine negative Erwartungshaltung besteht bzw. aufgebaut wird.
  • Wenn ein Verum dem Migränepatienten als Plazebo verkauft wird, wird die Wirkung nicht allzu viel über einem als Verum verkauften Plazebo liegen.
  • Die Kenntnisse der Lernmechanismen können helfen, beim Patienten falsche Zusammenhänge zwischen Auslöser und Attacke zu identifizieren.

Migräne ist charakterisiert durch einen anfallsartigen, pulsierend-pochenden Kopfschmerz, der bei Erwachsenen vier bis 72 Stunden andauert und oft von vegetativen Symptomen wie Übelkeit und/oder Erbrechen begleitet ist [12]. Die Intensität der Kopfschmerzen ist dabei so stark, dass die tägliche Arbeit ohne Behandlung nicht weiter ausgeübt werden kann. In der Regel kommen Betroffene erst dann in die Arztpraxis, wenn die Anfallshäufigkeit deutlich zugenommen hat. Bei seltenen Migräneanfällen wird eher auf die Selbstmedikation apothekenpflichtiger Medikamente zurückgegriffen [6]. Bei ca. 15 % der Patienten kommt es vor den Kopfschmerzen zu einer sogenannten "Aura", vorwiegend mit visuellen Symptomen [15]. Die Aurasymptomatik stellt eine fokale neurologische Funktionsstörung dar, die ungefähr 30 Minuten vor Beginn der eigentlichen Migräneattacke beginnt und zumeist als größer werdendes unilaterales visuelles Flimmerskotom erlebt wird. Die Diagnose einer Migräne kann schnell und zuverlässig mit wenigen Fragen an den Patienten gestellt werden [14].

Die Prävalenz für eine Migräne beträgt 6 – 8 % bei Männern und 12 – 14 % bei Frauen. Für Kinder und Jugendliche beträgt die Prävalenz 4 – 5 %; Jungen und Mädchen sind gleich häufig betroffen [2]. Die meisten Migräneattacken ereignen sich zwischen dem 35. und dem 45. Lebensjahr, wobei Frauen dreimal häufiger betroffen sind.

Neben der episodischen Migräne (EM) kann auch eine chronische Form vorliegen. Bei einer chronifizierten Migräne (CM) treten Migräneattacken an ≥ 15 Tagen/Monat über ≥ 3 Monate auf, wobei an ≥ 8 Tagen/Monat die Kriterien einer Migräne ohne Aura erfüllt sein müssen. Aktuellen epidemiologischen Studien zufolge liegt die Prävalenz der CM bei etwa 2 – 4 %. Etwa 2,5 – 14 % der Patienten mit EM entwickeln in einem Jahr eine CM. Häufig kommt eine Spannungskopfschmerz-Symptomatik dazu [15].

Die Pathophysiologie des Migräneanfalls ist mittlerweile intensiv erforscht [10], zur medikamentösen Behandlung gibt es deswegen spezifische Migränemittel. Die Behandlung der Migräne kann medikamentös oder nicht-medikamentös erfolgen. Dazu gibt es umfangreiche Leitlinien mit sehr exakt vorgegebenen Handlungsanweisungen, bei denen beispielsweise die Anfallsfrequenz mitberücksichtigt wird. Im Rahmen einer prophylaktischen Behandlung des Migräneanfalls sind nicht-medikamentöse Verfahren, die der Verhaltenstherapie entstammen, den medikamentösen Verfahren in ihrer Effektivität gleichrangig [15, 1, 3].

Zusammenfassend ist die Migräne eine in der Gesamtbevölkerung häufig auftretende Erkrankung, die eine massive Einschränkung in der selbstbestimmten Lebensgestaltung bewirkt. Mittlerweile sind pathophysiologische Komponenten des Anfalls in ihrer Komplexität etwas bekannter, wodurch sich sowohl effektive medikamentöse als auch nicht-medikamentöse Behandlungswege ergeben.

Tipp:
Geben Sie Ihrem Patienten einfach konfrontativ ein Stück Schokolade. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass bei diesem Verhaltenstest nichts passiert.

Wirkungserwartung und Migräne

Basierend auf dem "Diathese-Stress-Modell" wurde lange Zeit angenommen, dass das aktive Meiden bestimmter Auslöser die Migränehäufigkeit reduzieren könne. Dazu liegen umfangreiche Studien vor, in denen Trigger gemieden werden. Die aktive Bearbeitung eines Schmerztagebuches fördert ebenso das Vermeidungsverhalten, weil in der genauen Betrachtung von Migräneanfällen das Erkennen von Auslösern und damit das Vermeiden derselben an erster Stelle steht. Dass dadurch gelegentlich falsche Zusammenhänge hergestellt werden, ist mittlerweile auch bekannt. So weiß man, dass Schokolade, die vor dem Auftreten eines Migräneanfalls eingenommen wurde, keine Migräne auslöst [12, 11]. Diese Kontingenz wird erst durch eine ungünstige Koppelung des Signalreizes (Schokolade) mit dem unkonditionierten Reiz (Migräneanfall) im Sinne einer klassischen Konditionierung hergestellt. Die vermehrte Lust auf Schokolade kann somit eher als Indikator eines bevorstehenden Migräneanfalls gewertet werden, nicht jedoch als Auslöser desselben.

Neben der falschen Annahme von Migräneauslösern gibt es jedoch auch tatsächliche Verhaltensweisen, die Migräneanfälle triggern können. So können die Zufuhr von Alkohol, bestimmte Nahrungsprodukte oder exzessive körperliche Aktivität anfallsauslösend wirken. Ein intensives Meiden dieser Auslöser kann jedoch unter bestimmten Umständen die Migränesymptomatik sogar noch verstärken. Lernpsychologisch wird dabei von einer Reizgeneralisierung ausgegangen, wie sie beispielsweise aus der Angstvermeidung bekannt ist. Bei Letzterer führt das Vermeiden angstauslösender Reize zu einem Vermeidungslernen, welches zwar kurzfristig eine Angstreduktion bewirkt, langfristig aber zu einer ausgeprägten Verhaltenseinengung führt. Die Folge ist somit eine Zunahme der Migräneanfälle, was gelegentlich auch als reale Erfahrung berichtet wird. Statt sie zu vermeiden sollten Patienten deswegen lernen, mit diesen Triggerfaktoren umzugehen, damit eine zentrale Sensibilisierung (und dadurch möglicherweise eine Reizgeneralisierung) verhindert wird [16]. Dies könnte bedeuten, dass Migräneauslöser in Form von Desensibilisierungstechniken ähnlich wie bei der Behandlung von Angst- und Panikzuständen abgestuft dargeboten werden, um beim Patienten Habituationseffekte auszulösen, was in speziellen Therapieprogrammen in Form eines "Reizverarbeitungstrainings" bereits angewandt wird [5, 16, 10].

Zusätzlich dazu liegen neueste Befunde vor, nach denen sich selbst erfüllende Prophezeiungen (self-fulfilling prophecy theory [13]) einen wesentlichen Einfluss auf die Behandlung der Migräneattacke haben können. Dabei spielt die wahrgenommene Prognose über die Wirkung der Behandlung die entscheidende Rolle. Dies wurde kürzlich an 66 Patienten mit insgesamt 459 Kopfschmerzattacken untersucht [9]. Die Patienten erhielten zufällig ein Plazebo oder ein Verum (Triptan zur Behandlung des akuten Anfalls). Die Verpackung der Pille war gekennzeichnet mit "Plazebo" (negative Wirkungserwartung), "Arzneimittel" (positive Wirkungserwartung) oder "Plazebo oder Arzneimittel" (unsichere Wirkungserwartung). Erstaunlicherweise ergab sich selbst dann eine Wirkung, wenn der Patient wusste, dass er ein Plazebo zu sich nahm. Eine negative Wirkungserwartung führte dagegen auch beim Verum zu einer schlechteren Wirkung. Damit konnte die Hypothese bestätigt werden, dass sich das klinische Ergebnis bessert, wenn die begleitende Information ("Wirkungserwartung") von "negativ" zu "positiv" verändert wird. Insgesamt trug der Anteil des Plazeboeffekts in allen drei Bedingungen mehr als 50 % zur Wirksamkeit der Behandlung bei und wurde als "robuster" als die eigentliche pharmakologische Wirkung charakterisiert.

Zugleich konnte damit gezeigt werden, dass neben der aktuellen Erwartungshaltung auch frühere positive Lerneffekte die aktuelle Wirkung mitbeeinflussen. Diese sind zeitlich "wirksam": Wenn ein Patient mehrfach die Erfahrung gemacht hat, am Wochenende unter Kopfschmerzen zu leiden, wird er dies zukünftig auch erwarten und damit eine Überzeugung aufbauen, erneut am Wochenende Kopfschmerzen zu bekommen. Das Eintreten des Wochenendes wird zum (klassisch konditionierten) Signalreiz für die Kopfschmerzerwartung. In diesem Sinne ist auch das Schmerztagebuch zu sehen. Je mehr Schmerzen dort verzeichnet sind, desto stärker wirkt die Überzeugung, erneut einen Kopfschmerzanfall zu erleiden. Sinnvoller könnte es deswegen sein, ein "Kopfschmerzfrei-Tagebuch" zu führen, damit die Wirkungserwartung vom Kopfschmerz abgekoppelt wird und der Fokus von der Kopfschmerzerwartung auf kopfschmerzfreie Tage übergeht.

Beachte:
  • Erwartungen und Überzeugungen des Patienten, aber insbesondere auch Ihre eigenen Erwartungen und Überzeugungen als Arzt bzw. Psychotherapeut sind zu ergründen. Achten Sie neben Ihren therapeutischen Aussagen auch auf nicht-sprachlich vermittelte Informationen (Mimik, Gestik, Haltung). Diese können zu einer negativen Erwartungshaltung führen, insbesondere wenn sie den verbalen Informationen widersprechen.
  • Gehen Sie mit den Annahmen der Patienten behutsam um! Auch wenn diese irrational sind, stellen sie für den Patienten einen Teil seiner Realität dar. Psychotherapeutische Techniken helfen dem Patienten, die Annahmen zu hinterfragen.
  • Wenn ein Medikament nicht wirkt, könnte dies an den Erwartungen des Patienten liegen. Ein Wechsel auf ein anderes Medikament, ohne die Erwartungen zu beachten, könnte einen Teufelskreis auslösen (Das wirkt nicht, das auch nicht, ich bin ein hoffnungsloser Fall).

Somit besteht eine Wirkung von Erwartungen, Annahmen, Überzeugungen und möglichen (teilweise auch irrealen) Zusammenhängen zwischen Schmerzauslösern und dem Auftreten von Schmerzen beim Patienten, aber auch beim Arzt. Es kann deswegen unterstellt werden, dass diese Erwartungen bei der Migräne möglicherweise einen höheren Stellenwert aufweisen, als bislang überhaupt angenommen. Kurz gefasst heißt dies, dass die Überzeugung des Arztes, inwieweit ein Medikament wirkt, einen sehr hohen Einfluss auf die tatsächliche Wirksamkeit des Medikaments ausübt. Ist der Arzt über die Wirkung des Medikaments unsicher, kann sich dies auch auf den Patienten übertragen und ein möglicherweise effektives Medikament wirkt schlechter.

Wie lässt sich die richtige Wirkungserwartung aufbauen?

Obwohl Messinstrumente zur direkten Erfassung der Wirkungserwartung noch nicht vorliegen, kann aus den Studien gefolgert werden, dass die Überzeugung des Arztes oder des Psychotherapeuten über die Wirkung der Kopfschmerzintervention eine entscheidende Rolle spielt. Wenn der Therapeut seine eigene positive Wirkungserwartung dem Patienten überzeugend vermittelt, wird die Wirkung der Behandlung deutlich besser ausfallen. Eventuelle Unsicherheiten über die Wirkung der Behandlung können sich auch bei erwiesener Wirksamkeit negativ auf den Behandlungserfolg auswirken [9]. Damit zeigt sich, dass insbesondere kommunikative Aspekte in der Therapeut-Patient-Beziehung eine entscheidende Rolle spielen. Diese werden mittlerweile schon im vorklinischen Studium der Humanmedizin gelehrt und abgeprüft [4] und sie werden zunehmend auch im klinischen Abschnitt in Form von Longitudinalcurricula implementiert [8]. Tabelle 2 führt einige mögliche Aussagen auf, mit denen bestimmte Wirkungserwartungen verbunden sind.

Tipp:
Nutzen Sie das Konzept eines "Kopfschmerzfrei-Tagebuchs", dies verschiebt den Aufmerksamkeitsfokus. Anstatt immer zu prüfen, was mit Kopfschmerzen zusammenhängt, werden die Patienten erfahren, was alles mit dem Nichtvorhandensein von Schmerzen zusammenhängt.


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Autor:

Prof. Dr. rer. soc. Peter Kropp, Rostock

Institut für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie
Universitätsmedizin Rostock
18147 Rostock

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (10) Seite 22-26