Chronische körperliche Erkrankungen bedrohen nicht nur die somatische Existenz. Sie sind von vielfältigen sozialen und seelischen Problemen begleitet. Für den Patienten sind sie verknüpft mit Unsicherheit, Verlust von Selbstwertgefühl und Selbstkontrolle. Sie zwingen zur Anpassung an eine neue Lebenssituation. Es soll in diesem Artikel weniger um streng medizinische Inhalte gehen. Das Augenmerk wird gerichtet auf Probleme der Gesprächsführung bei der Erstdiagnose Diabetes und die daraus folgenden Reaktionen, Ängste und Befürchtungen auf Seiten des Patienten und seiner Angehörigen.

Bei Übermittlung einer unangenehmen, bedrohlich erscheinenden Nachricht haben wir auf Patientenseite mit unterschiedlichen Abwehr- bzw. Schutzmechanismen (Kasten 1) und Bewältigungsstrategien (Kasten 2) zu rechnen.

Bedrohliche Gefühle oder Wahrnehmungen können ausgeblendet und verdrängt werden. Bei einem "Check-up" wurden überraschenderweise ein Nüchternblutzucker von 132 mg/dl und ein Blutdruck von 170/90 mmHg festgestellt. Der Patient ist übergewichtig, er bewegt sich wenig. Wird der Patient sich ohne Weiteres für diese wichtigen Hinweise bedanken und vielleicht nach einem Vierteljahr mit einer Gewichtsreduktion und einem anderen Bewegungsmuster nochmals in der Praxis vorstellen? Der behandelnde Arzt und sein Team müssen auf unterschiedliche Reaktionsmuster des Patienten gefasst sein.

Auf Bewältigungsstil einstellen

Es kann bei Übermittlung der Messergebnisse zur Ungläubigkeit, Verleugnung und Ablehnung jeglicher Therapieempfehlung kommen. "Vor einem halben Jahr haben Sie mir noch gesagt, der Zucker sei in Ordnung. Ich habe vor einigen Wochen den Blutdruck in der Apotheke messen lassen und da war er völlig in Ordnung. Vielleicht hat die Helferin im Labor meine Probe vertauscht. Es war bei Ihnen sehr hektisch und die Helferin war schon ganz genervt."

Welcher Arzt kennt nicht folgende Vermeidungsstrategien: zu Hause werden die erbetenen Blutzuckerselbstmessungen nicht durchgeführt und bei Praxisbesuch werden geschönte Zahlen außerhalb jeglicher Realität vorgelegt. Patienten verschieben manchmal auch Angst und Ärger auf andere: Die Ehefrau ist schuld, da diese zu fett oder zu süß das Essen zubereitet. Es liegt an der mangelnden Kompetenz des Arztes und seiner Mitarbeiterinnen, dass die Blutzuckereinstellung nicht richtig gelingt. Werden die Probleme projiziert, hört man auch solche Sätze: "Meine Frau will nicht, dass ich abnehme; der gefalle ich, so wie ich bin. Bei uns in der Familie isst man aber gerne süß. Ich bin gerne mit meiner Frau zusammen und die bewegt sich wenig. Meine Frau hat große Angst, dass ich in eine Unterzuckerung hineinkomme, deshalb spritze ich weniger Insulin."

Es gibt aber auch den Bewältigungsstil der eigenen Entwertung: "Ich bin selbst schuld daran. Ich bin zu dick, aus der ganzen Sache kann nichts werden. Ich habe mich früher immer schon zu wenig bewegt, das kann man nicht mehr ändern. Ich bin unfähig, mir selbst den Blutzucker zu messen. Ich bin zu dumm, zu lernen, wie man Insulin injiziert."

Schutzmechanismen (Abwehrmechanismen)
  • Verleugnung (nicht wahrhaben wollen)
  • Vermeidung (alles vermeiden, was Angst macht)
  • Verschiebung (Ärger gegenüber Unbeteiligten)
  • Entwertung (damit kein Neid gegen andere entsteht)
  • Projektion (eigene Gefühle nur bei anderen zu sehen, z. B. Angehörige)

Sich in den Patienten hineinversetzen

Welche Fragen könnten in einem Menschen auftauchen, wenn er zum ersten Mal hört, er sei Diabetiker: Warum bin gerade ich betroffen? Was habe ich falsch gemacht? Wie werden meine Angehörigen, meine Freunde, meine Arbeitskollegen reagieren? Und ergänzend: Wie sind die Chancen für mein weiteres Leben (Lebensstandard, Lebensalter)? Wie sieht mein Tagesablauf zukünftig aus? Was darf ich überhaupt noch essen und trinken?

Patienten befürchten Ausgrenzung im Sinne eines krankheitsbedingten "Andersseins". Sie empfinden Angst und Zwang. Es werden Sonderstellungen im Betrieb und bei Kindern in der Schule gesehen. Man weiß oft um mögliche Begleit- und Folgeerkrankungen.

In der ersten Phase nach Diagnoseeröffnung können Schock und Ablehnung der Realität im Vordergrund stehen. Manchmal scheint der Patient kaum aufnahmebereit und in der Lage zuzuhören. Hier ist das Informationsangebot auf das Notwendigste zu begrenzen. Weitere Gesprächsangebote sind zu machen und zu verdeutlichen, dass der Patient nicht alleinsteht. Wenn gewünscht, kann bei einem nächsten Treffen der Patient von einem Angehörigen begleitet werden.
Angehörige von Betroffenen leiden gleichfalls unter Ängsten und Befürchtungen. Hier hat der Hausarzt, der in der Regel die gesamte Familie behandelt, eine strategisch wichtige Position. Verständnisfördernde Informationen sind Basis einer aktiven Teilnahme an der Therapie. Die Informationen sollten dem Patienten schrittweise vermittelt werden. Wichtig dabei sind insbesondere auch die Mitteilungen, die mit positiven Aussichten für den Patienten verbunden sind. Der Patient soll sich nicht passiv der Krankheit ausgeliefert fühlen, sondern erkennen, dass ihm ein aktives Management seines Diabetes möglich ist.

Ängste und Sorgen ansprechen

Zu den Ängsten und Sorgen gehören beispielsweise Angst vor Blutzuckerselbstkontrollen, Spritzenangst, Angst vor Insulintherapie und Unterzuckerungen, Gewichtsproblemen und Befürchtungen von Folgeerkrankungen. Betroffene und auch Angehörige sollen wissen, dass sie mit ihren Sorgen und Nöten nicht alleine sind. Sie können mit ihren Problemen und Fragen zu ihrem behandelnden Arzt und seinem Team kommen. Hausärzte sind regional gut vernetzt. Sie wissen um spezialisierte Einrichtungen wie Schwerpunktpraxen, zu denen sie im Bedarfsfall überweisen.

Viele Hausärzte nehmen am Disease-Management-Programm (DMP) Diabetes teil, das mit dazu beitragen kann, die Kontinuität der Betreuung und die Koordination der Behandlungsabläufe positiv zu beeinflussen. Auch in diesem Programm wird der hohe Wert der Diabetesschulung betont. In der Gemeinschaft mit anderen Betroffenen werden in der Schulung Ängste abgebaut, Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt und das Zutrauen zu eigener Fähigkeit und persönlichem Leistungsvermögen gesteigert. In zahlreichen Hausarztpraxen werden Schulungen angeboten. Wo dies nicht der Fall ist, wird der behandelnde Arzt auf entsprechende Schulungsmöglichkeiten in der Region hinweisen.

Nicht selten haben Betroffene bereits ein höheres Lebensalter erreicht, wenn erstmals die Diagnose Diabetes gestellt wird. Sie und möglicherweise auch ihre Angehörigen leiden an zusätzlichen Einschränkungen und Behinderungen, die in Beratungsgesprächen und Schulungen zu berücksichtigen sind.

Schlüsselrolle des Hausarztes

Gerade dem vertrauten Hausarzt, der häufig den Patienten, seine Familie und das Umfeld schon länger kennt, kommt nach Diagnosestellung in der Patientenbegleitung und Beziehungsgestaltung eine Schlüsselstellung zu. Er weiß, dass die Akzeptanz des Eingetretenen und der neuen Wirklichkeit nur in einem Anpassungsprozess möglich ist. Zu viele Restriktionen und Verbote wären hierbei wenig hilfreich und in aller Regel auch unnötig. Idealerweise finden bald nach Diagnosestellung Beratungsgespräche statt, in denen der Patient nach seinem Tagesrhythmus sowie seinem Ernährungs- und Bewegungsverhalten befragt wird. Sinnvollerweise wird auch ein Ernährungsprotokoll erbeten, um herauszufinden, wo Modifikationen möglich wären, zu denen der Patient sich in der Lage sieht. Die Diagnosestellung eines Diabetes mellitus kann durchaus auch den positiven Anfang einer bewussteren Lebensführung in Ernährung und Bewegung darstellen.

Bewältigungsstile (Beispiele)
  • sich auflehnen
  • sich ablenken
  • Gefühle unterdrücken
  • sich emotional entlasten
  • Krankheit herunterspielen
  • Rückzug
  • Resignation
  • aktive Bewältigung

Insgesamt werden der Hausarzt und sein Team den Patienten kundig und in Verständnis unterschiedlicher Reaktionsweisen begleiten. Ziel sind Stabilisierung des Selbstwerts und ein Gewinn neuer Selbstkontrolle. In Beratung und Schulung wird vermittelt, dass Diabetes eine chronische Krankheit ist, von der viele Menschen betroffen sind. Eine modifizierte Lebensweise bedeutet nicht Verschlechterung der Lebensqualität. Man braucht sich seiner Krankheit nicht zu schämen. Richtiges Verhalten und Therapie vorausgesetzt wird die Lebenserwartung nicht beeinflusst.

Im Laufe der Betreuung haben der Arzt und sein Team allerdings auch immer wieder einmal mit Nichtbeachtung von Empfehlungen, Unterlaufen von Ernährungsumstellungen und depressiven Anpassungsstörungen zu rechnen. Hierauf wird der erfahrene Hausarzt mit freundlichem Verständnis und in Konstanz seiner Hilfsangebote reagieren. Hilfreich hierbei sind die Kenntnis des Patienten und seiner Familie und vielleicht auch das Wissen vom Umgang mit Belastungen und Erkrankungen in der Vergangenheit. Ziel ist eine aktive Krankheitsakzeptanz, sowohl rational als auch emotional. Bei Bereitschaft zur Mitarbeit und Interesse an Beratung und gegebenenfalls Schulung wird in den allermeisten Fällen eine gute Stoffwechseleinstellung gelingen.



Autor:

Dr. med. Manfred Schnellbächer

Facharzt für Allgemeinmedizin, Diabetologische Schwerpunktpraxis, 55765 Birkenfeld/Nahe

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (22) Seite 32-36