Seit 1992 gibt es in Deutschland das Betreuungsrecht, das leider vielen Personen – auch Ärzten – unbekannt ist. Das Betreuungsrecht hat seinerzeit das Entmündigungsrecht aufgehoben. Zielsetzung war, die damals ca. 450.000 Entmündigungen zahlenmäßig zu reduzieren. Im Ergebnis liegen heute dafür über 1,4 Millionen Betreuungsfälle vor – die Zahlen steigen weiter. Prof. Dr. jur. Volker Thieler, Vorsitzender der Kester-Haeussler-Stiftung, erklärt hier, welche Bedeutung das Betreuungsrecht für Ärzte, Angehörige und Betroffene hat und warum eine Vorsorgevollmacht immens wichtig für alle Beteiligten ist.

Wir können in der Praxis feststellen, dass viele Ärzte nur unzureichende Kenntnis vom Betreuungsrecht haben. Insbesondere stellen wir immer wieder fest, dass gerade bei schweren Krankheiten der Patienten die Ärzte oftmals Angehörigen, Eheleuten oder Kindern Auskunft über die Krankheit bzw. Operationsmöglichkeiten erteilen, obwohl Ärzte sich hierdurch strafbar machen. Es muss eines ganz klar gesagt werden: Solange dem Arzt keine richtige Vorsorgevollmacht vorgelegt wird, die den Fragesteller – egal ob Angehöriger, Ehegatte oder Kind – bevollmächtigt, tätig zu werden, darf der Arzt keine Auskunft erteilen – andernfalls macht er sich strafbar.

Im Notfall – wenn niemand da ist, der eine Entscheidung bei wichtigen Behandlungsschritten oder Operationen treffen kann – muss der Arzt beim zuständigen Amtsgericht (das Amtsgericht des Ortes, in dem die betroffene Person wohnt) Antrag auf Betreuung stellen.

Bedeutung von Betreuungsbeschluss und Vorsorgevollmacht

Ein Betreuungsbeschluss des Gerichts bedeutet meist, dass der Betreute von dem Betreuer abhängig ist, bis die Entscheidung über seinen Wohnsitz, sein Vermögen (er hat keine Befugnis mehr, Geld abzuheben), seinen Aufenthalt, seine Post und sein Telefon getroffen wurde. Hierdurch können die Menschenrechte unter Umständen einschneidend verletzt werden.

Personen, die keine Vorsorgevollmacht haben, müssen wissen, dass im Betreuungsfall Angehörige, Ehepartner und Kinder keinerlei Recht haben, automatisch am Betreuungsverfahren teilzunehmen. Sie haben auch kein Recht auf Akteneinsicht. Manchmal erfahren sie auch erst später, dass ein Betreuer bestellt wurde. Der Betreuer selbst – falls es sich um einen fremden Betreuer handelt – ist nur schwer kontrollierbar, da die Gerichte völlig überlastet sind. Es gibt keine Auskunftspflicht der Betreuer gegenüber dem Gericht über die Häufigkeit der Besuche beim Betreuten. Betreuung bedeutet auch nicht Betreuung im eigentlichen Sinne: Der Betreuer vertritt den Betreuten bei rechtlichen Verträgen und Entscheidungen. Es ist nicht seine Aufgabe, mit dem Betreuten spazieren zu gehen, sich mit ihm zu unterhalten oder auch menschlich zu helfen. Der Betreuer ist lediglich der rechtliche Vertreter des Betreuten.

Der Arzt darf nur gegenüber einem vom Gericht eingesetzten Betreuer Auskunft erteilen. Voraussetzung ist aber, dass die Betreuung auf dem Gebiet der ärztlichen Versorgung erteilt wurde. Der Arzt muss sich den Betreuerausweis des Betreuten vorlegen lassen. Kopien bergen die Gefahr der Fälschung, so dass der Arzt sodann wieder die Strafbarkeit seines Verhaltens riskieren muss, nämlich durch die Auskunftserteilungen, die er nicht vornehmen darf.

Legt der Angehörige, der Elternteil oder das Kind eine Vorsorgevollmacht vor, so muss es sich um eine Originalvollmacht handeln. Die Vollmacht kann von dem Aussteller der Vorsorgevollmacht jederzeit widerrufen werden. Damit die Vollmacht noch gültig ist, empfehlen wir dringend, eine Originalvollmacht zu verlangen. In der Vollmacht muss der Bereich ärztliche Versorgung enthalten sein.

Problematisch ist es, wenn die Vorsorgevollmacht auf mehrere Personen ausgestellt worden ist und diese Personen nur gemeinsam tätig werden dürfen. Tritt sodann nur eine Person auf, darf der Arzt keine Auskunft erteilen bzw. nach den Weisungen des Vollmachtnehmers handeln.

Entzug der Vollmacht

Durch die Vorsorgevollmacht wird der Einsatz eines Betreuers, der vom Gericht bestellt wurde, verhindert. Oftmals kommt es schon während der ärztlichen Behandlung zu Streitigkeiten zwischen den Bevollmächtigten oder Angehörigen oder vielleicht auch an der Erbschaft interessierten Personen. Diese stellen oftmals schnell einen Antrag auf Betreuung, obwohl eine Vorsorgevollmacht vorliegt. Hierzu muss gesagt werden: Solange die wirksame Vollmacht vorliegt und diese nicht widerrufen wurde, ist auf ein laufendes Betreuungsverfahren keine Rücksicht zu nehmen. Wenn ein Betreuungsbeschluss ergangen ist oder ein Beschluss, dass die Vollmacht durch einen Kontrollbetreuer entzogen wird, darf der Arzt auf Basis der Vorsorgevollmacht nicht mehr handeln.

Es kann auch passieren, dass ein Erbschleicher sich eine neue Vorsorgevollmacht hat geben lassen, um damit eine bestehende Vorsorgevollmach zu widerrufen. Forschungen im amerikanischen Recht haben ergeben, dass die Regelungen dort wesentlich besser sind. In anderen Ländern kann die Vorsorgevollmacht oftmals nur widerrufen werden, wenn drei Zeugen dies bestätigen. Eine derartige Regelung müsste in eine Vorsorgevollmacht aufgenommen werden. Leider wird diese von vielen Praktikern, die Vorsorgevollmachten anfertigen, versäumt.

Im Klartext bedeutet dies, dass eine Vorsorgevollmacht nicht schützt, wenn sie nicht vor einem schnellen Widerruf geschützt wird.

Sinn und Zweck der Vorsorgevollmacht

Nach deutschem Recht hat kein Deutscher nach dem 18. Lebensjahr einen Stellvertreter. Egal, ob es sich hier um Angehörige, Kinder, Eltern oder Lebensgefährten handelt. Jeder Deutsche ist ab dem 18. Lebensjahr allein entscheidungsfähig und entscheidungsbefugt. Kann er aufgrund eines Unfalls, einer Krankheit wie Demenz oder eines sonstigen Umstands nicht mehr entscheiden, dann vertritt nicht automatisch, wie beispielsweise in Österreich, der Angehörige, der Bruder, die Schwester, der Ehepartner oder ein Nachkomme den schwer Kranken. In diesem Fall muss, wenn keine Vorsorgevollmacht ausgefüllt wurde, ein Betreuer vom Gericht bestellt werden.

Der Nachteil eines Betreuers ist, dass er den Betreuten in der Regel nicht kennt, da es sich oft nicht um einen Angehörigen handelt. Es empfiehlt sich deswegen dringend, eine Vorsorgevollmacht anzufertigen.

Wie soll die Vorsorgevollmacht aussehen?

Es gibt eine Fülle von Formularen im Internet, vor denen wir warnen. Es gibt auch viele Berater, die berufsmäßig Vorsorgevollmachten anfertigen, aber nicht die tatsächlichen Probleme, die im Betreuungsrecht aufkommen könnten, in die Vorsorgevollmacht einbauen.

Wir empfehlen, unbedingt Berater aufzusuchen, die mit derartigen Fällen befasst sind. Wir empfehlen, Anwaltskanzleien auszusuchen, die auf das Betreuungsrecht spezialisiert sind, möglichst Rechtsanwälte, die auch die negativen Fälle kennen. Bei Notaren bekommt man zwar eine Vorsorgevollmacht, oftmals kennen die Notare aber die tatsächlichen Probleme nicht, da sie auf diesem Gebiet keine Prozesse als Praktiker führen. Wir sind auch der Ansicht, dass die Vorsorgevollmacht im Einzelnen besprochen werden muss. Der Berater muss Probleme, die in den letzten Jahren durch Urteile offensichtlich wurden, in der Vorsorgevollmacht berücksichtigen.

Die Risiken der Formulare bzw. der Beratung durch fehlende Praxis werden in der neuen Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Patientenverfügung deutlich. Der Bundesgerichtshof hat solche mit dem Wortlaut: "keine lebensverlängernden Maßnahmen" als unwirksam angesehen, da diese Formulierung zu unbestimmt ist.

Musterformulare mit praktischem Inhalt können bei der Stiftung Vorsorgevollmacht, Finkenstraße 33, 82166 Gräfelfing (Telefon: 0170/2400335) bezogen werden.

Problematik der Patientenverfügung

Vielfach werden zusätzlich zu den Vorsorgevollmachten noch von Notaren oder Beratern oder aus dem Internet generierte Patientenverfügungen geschaffen. Wir sehen hierin eine große Gefahr, wenn die Vorsorgevollmacht von der Patientenverfügung getrennt ist. Hintergrund ist, dass oftmals Streitigkeiten zwischen den Angehörigen und den Ärzten über die Behandlungsmöglichkeiten entstehen können. Die Ärzte werden sich in derartigen Fällen nur auf die Patientenverfügung berufen und nicht auf den Willen des Bevollmächtigten.

Aus unserer Erfahrung heraus glauben wir, dass es besser ist, in der Vorsorgevollmacht die entsprechenden Genehmigungen zu erteilen und in der Patientenverfügung, wenn diese überhaupt notwendig ist, eine Regelung aufzunehmen, dass der Vorsorgebevollmächtigte auch diese Entscheidung treffen sollte. Der Vollmachtnehmer kennt den Vollmachtgeber gut und sollte auch hier die Entscheidung treffen. Bei sehr wichtigen Entscheidungen muss ohnehin das Gericht die Behandlung genehmigen, auch wenn eine Vorsorgevollmacht vorliegt.

Wir vertreten die Ansicht, dass die Patientenverfügung ausschließlich in Gegenwart von Ärzten erstellt werden sollte. Wir sind auch der Ansicht, dass der Bereich der ärztlichen Versorgung bei der Vorsorgevollmacht nicht von einem Anwalt, sondern besser von einem Arzt übernommen werden sollte, da dieser die ärztliche Versorgung besser beurteilen kann. Dies hat den zusätzlichen Vorteil, dass auch eine stärkere Bindung des Patienten an die Praxis bewirkt werden kann.

Missständen bei der Betreuung vorbeugen

Durch den missverständlichen Begriff "Betreuung" wird immer wieder übersehen, dass die Machtposition des Betreuers recht groß ist. So kommt es auch immer wieder vor, dass der Betreuer Besuchsverbote ausspricht. Wir haben erlebt, dass ein Sohn seine Mutter besuchen wollte. Die Betreuerin hat verboten, dass der Sohn mit der Mutter, der es noch relativ gut ging, einen Kaffee trinken ging. Die Betreuerin ließ daraufhin sogar den Sohn wegen Entführung der Mutter verhaften. Bei der Vorsorgevollmacht muss ein besonderes Augenmerk auf die Möglichkeit des Widerrufs gelegt werden. Wir stellen eine hohe Zunahme von Erbschleicherfällen in Deutschland fest. Fast immer laufen diese Fälle gleich ab: Der Erbschleicher pirscht sich an den alten Menschen heran, er isoliert ihn, indem er die Angehörigen schlechtmacht und erteilt den Angehörigen anschließend Besuchs-, Telefon- und Briefverbot.

Das Forschungsinstitut für Betreuungsrecht der Kester-Haeusler-Stiftung hat die Broschüre "Betreuer vor dem Strafgericht" herausgebracht, in der eindrücklich die Missstände im Betreuungsrecht aufgezeigt werden. Die Dokumentation ist unter http://www.kester-haeusler-stiftung.de/files/userfiles/Betreuer_vor_dem%20Strafgericht.pdf abrufbar.



Autor:

Prof. Dr. jur. Volker Thieler

Vorstandsvositzender der Kester-Haeusler-Stiftung
82166 München-Gräfelfing



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (18) Seite 88-90