Für die Diabetesdiagnose galten bislang Nüchternglukose und oraler Glukosetoleranztest als Goldstandard. Unter bestimmten Voraussetzungen empfiehlt die Schweizerische Gesellschaft für Diabetologie und Endokrinologie nun das HbA1c nicht nur zur Verlaufskontrolle, sondern auch zur Diagnose des Diabetes. Welche Vor- und Nachteile haben die verschiedenen Methoden und wie steht man in Deutschland dazu?

In einer kürzlich publizierten Stellungnahme spricht sich die Schweizerische Gesellschaft für Diabetologie und Endokrinologie (SGED) für die Einführung des HbA1c als Diagnoseparameter für Diabetes und Prädiabetes aus [1]. Die SGED übernimmt damit die Diagnosekriterien der American Diabetes Association (ADA). Ein HbA1c von 5,7 bis 6,4 % gilt als Prädiabetes, ab 6,5 % als Diabetes (Tabelle 1).

Die Befürworter der HbA1c-Messung zur Diabetesdiagnose betonen vor allem die einfachere Durchführung gegenüber der Nüchternplasmaglukose (NPG) beziehungsweise dem oralen Glukosetoleranztest (oGTT). So betont der Labormediziner David B. Sacks vom NIH in einem kürzlich im ADA-Journal „Diabetes Care“ publizierten Übersichtsartikel [2], dass die Voraussetzung des mindestens achtstündigen Fastens vor der Blutentnahme für die NPG ein erhebliches Problem darstelle. Er führt als Beispiel eine Studie an, wonach in einem medizinischen Zentrum nur 3 % der Patienten mittels NPG auf Diabetes gescreent werden konnten, der Rest nur mit dem weniger aussagekräftigen Gelegenheitsblutzuckerwert. Während es sich bei diesem Umstand möglicherweise um ein logistisches Problem handelt, beschränken Variabilität und mangelnde Reproduzierbarkeit die Aussagekraft der NPG-Befunde in jedem Fall.

Schwankungen der Glukosemesswerte

So berichtet Sacks, dass in einer Studie nicht bei allen Probanden, die einen NPG-Wert ≥ 7,0 mmol/l in der ersten Messung aufwiesen, dieser Wert auch in einer zweiten Messung zwei Wochen später bestätigt werden konnte: Nur bei 7 von 10 lag der NPG-Wert auch nach der erneuten Messung über dem Grenzwert. NPG-Werte können überdies bei der gleichen Person von Tag zu Tag schwanken. Legt man beispielsweise einen Variationskoeffizienten (Standardabweichung dividiert durch den Mittelwert) von 5,7 % zugrunde, könnten bei einer Person mit einem NPG-Wert ≥ 7,0 mmol/l in Wahrheit Werte von 6,1 bis 7,8 mmol/l vorliegen.

Auch Faktoren wie Medikamente, Fehler bei der Blutentnahme, Mahlzeiten kurz vorher, längeres Fasten, Sport oder einfach nur der Stress bei der Parkplatzsuche vor dem Arzttermin könnten den NPG-Wert verfälschen, schreibt Sacks. Als weiteren kritischen Punkt sieht er die Abnahme der Glukosekonzentration in einer Vollblutprobe über die Zeit. Sie beträgt bei Zimmertemperatur in der Regel 5 bis 7 % pro Stunde. In den ersten beiden Stunden nach der Blutentnahme stoppe Fluorid diesen Prozess entgegen landläufiger Meinung nicht, warnt Sacks. Dies sei erst nach vier Stunden der Fall.

Um die Zellen vom Plasma zu trennen und den Glukoseabbau damit zu stoppen, sei eine Zentrifugation zwar effektiv, aber unpraktisch, meint der amerikanische Autor.

Schwankung von HbA1c-Messwerten

Auf den ersten Blick liegen die Vorteile der HbA1c-Messung auf der Hand: Es kann in einer Vollblutprobe unabhängig von Tageszeit und Nüchternstatus bestimmt werden, und der Wert ist recht stabil. Faktoren wie Tageszeit, Aktivität, Erkrankungen, Stress und Ernährung unmittelbar vor der Blutentnahme spielen praktisch keine Rolle. Auch die Lagerung der Blutprobe führt nicht zu größeren Abweichungen, denn das HbA1c bleibt bei 4° C für eine Woche stabil, bei -70° C sogar für mindestens ein Jahr.

Allerdings ist das HbA1c nicht bei allen Personen für eine Diabetesdiagnose geeignet, beispielsweise nicht bei Schwangeren sowie bei Störungen des Blutbilds, wie sie bei Patienten mit chronischen Nieren- oder Lebererkrankungen, perniziöser Anämie, Eisenmangelanämie, Sichelzellanämie oder Thalassämie auftreten. Auch kürzlich durchgemachte starke Blutungen oder Bluttransfusionen verfälschen den HbA1c-Wert und können zu Fehldiagnosen führen.

Standardisierung der Messmethoden

Ein weiteres Problem ist die Messgenauigkeit. Während es bei der Verwendung von HbA1c als Monitoringparameter in erster Linie auf den langfristigen Trend und weniger auf einen ganz exakten absoluten Messwert ankommt, zählt bei einer diagnostischen Messung jeder Zehntelpunkt. Die SGED weist darum ausdrücklich darauf hin, dass der HbA1c-Wert zum Zweck der Diabetesdiagnose nur mit standardisierten Testverfahren ermittelt werden dürfe.

Verschiedene Messmethoden liefern nämlich durchaus unterschiedliche Messwerte. So ergab eine US-amerikanische Studie, dass die Abweichung des HbA1c- Werts zwischen verschiedenen Testgeräten im Praxis- und im Zentrallabor im Mittel 0,6 % betrug, Abweichungen bis zu 1,4 % kamen vor [3].

Angesichts der Tatsache, dass zwischen den neu definierten Grenzwerten ≤ 5,7 (kein Prädiabetes) und ≥ 6,5 (Diabetes) nur 0,8 Prozentpunkte liegen, ist dies durchaus ein relevantes Problem. So sah man sich im Februar 2011 auf der Website von Lab Tests Online (www.labtestsonline.org) zu einer Warnung vor nicht zertifizierten Messmethoden veranlasst, nachdem HbA1c-Messungen zur Diabetesdiagnose bereits auf Gesundheitsmessen, in Drugstores oder auf gesponserten Wellness-Aktionen in den USA mit nicht dafür geeigneten Messgeräten durchgeführt wurden.

In der Schweiz kommen im Wesentlichen nur vier verschiedene Praxislaborgeräte zum Einsatz. In entsprechenden Ringversuchen zeigte sich, dass nur mit Abweichungen von maximal ± 0,5 % zu rechnen ist, nur bei einem fünften, weniger verbreiteten Gerät, bei dem mehrere manuelle Pipettierschritte erfolgen, lag die Abweichung bei maximal ± 1 % [4].

Mehr Diabetiker gemäß HbA1c?

Befürworter der Diabetesdiagnose per HbA1c hoffen, damit vormals unerkannte Diabetiker aufzuspüren. Ob das tatsächlich so ist oder ob möglicherweise eine Phase der Überdiagnostizierung eingeläutet wird, bleibt abzuwarten.

Auf der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Klinische Chemie im vergangenen Jahr war zu hören, dass die Einführung des HbA1c als zusätzlicher Diagnoseparameter neben der einmaligen NPG-Bestimmung zu einer Steigerung der Diabetesprävalenz um sagenhafte 253 % bei den über 60-Jährigen führen würde [5]. Im Rahmen der Schweizer Seniorlabor-Studie hatte man bei 899 offenbar nicht diabetischen Personen im Alter von 60 bis 96 Jahren einmalig den NPG- und HbA1c-Wert bestimmt. Gemäß NPG sah es folgendermaßen aus: 71 % gesund, 26 % prädiabetisch, 3 % Diabetiker. Gemäß HbA1c waren nur noch 32 % gesund, aber 61 % prädiabetisch und 7 % Diabetiker.

Gleichzeitig wurde deutlich, dass HbA1c-Werte und NPG nicht unbedingt korrelieren: 18 % der gemäß NPG prädiabetischen Personen hatten ein normales HbA1c. Unter den „NPG-Diabetikern“ wiesen 3 % ein normales und 14 % ein prädiabetisches HbA1c auf. Anders ausgedrückt: Hätte man nur den NPG-Wert bestimmt, wären 60 % der Diabetiker in diesem Kollektiv unentdeckt geblieben, hätte man nur den HbA1c-Wert bestimmt, blieben 8 % unentdeckt.

Auf der anderen Seite gibt es auch Studien, wonach der HbA1c-Wert ein guter diagnostischer Parameter sei, der sich bei mehreren Tausend Probanden als zuverlässig erwiesen habe [6]. Auch besteht die Aussage, dass mittels HbA1c-Messung weniger Prädiabetesfälle als mittels NPG-Messung erfasst würden [7]. Außerdem mehren sich die Stimmen, dass der HbA1c-Wert und der NPG-Wert unterschiedlichen Risikoprofilen entsprächen [8]. Keine Frage scheint es für den eingangs genannten Labormediziner David B. Sacks zu sein. Er geht jedenfalls davon aus, dass die Diagnose per HbA1c zu einem Anstieg der als Diabetiker erkannten Personen führen wird.

Vergleich mit oralem Glukosetoleranztest (oGTT)

Gegenüber dem oralen Glukosetoleranztest (oGTT) schneidet das HbA1c zur Diabetesdiagnose übrigens eher schlecht ab. Dies ergab die Auswertung von HbA1c- und oGTT-Resultaten einer Vier-Jahres-Kohorte mit 522 Übergewichtigen mit gestörter Glukosetoleranz zu Studienbeginn. Demnach wies das HbA1c für den Schwellenwert ≤ 6,5 % im Vergleich zu einem zweimaligen oGTT eine Sensitivität von 35 bis 47 % auf. Anders ausgedrückt: Rund 60 % der Diabetiker wären unerkannt geblieben, wenn man nur das HbA1c gemessen und keine oGTT durchgeführt hätte [9].

HbA1c und Lebensalter

Es gibt Hinweise darauf, dass der HbA1c-Wert mit dem Alter ansteigt. Insofern ist bislang auch die Frage offen, ab welchem Schwellenwert höhere HbA1c-Spiegel im Alter überhaupt als krankhaft zu betrachten sind. Ursachen und tatsächliches Ausmaß des Anstiegs seien aber noch unbekannt, so dass es zurzeit noch keine altersabhängigen Grenzwerte gebe, schreibt die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) in einer Stellungnahme [10].

Die DDG betrachtet den HbA1c-Wert aber zur routinemäßigen Untersuchung älterer Personen als gut geeignet, zumal in dieser Altersgruppe Diabetes häufig unterdiagnostiziert ist. Eine Größenordnung des physiologischen HbA1c-Anstiegs mit dem Alter gibt die SGED in ihrer Stellungnahme an, nämlich +0,4 % bei einem Alter über 70 Jahre.

Auch auf der anderen Seite des Altersspektrums wird über den HbA1c-Wert zur Diabetesdiagnose diskutiert. So warnte die pädiatrische Endokrinologin Joyce Lee von der Universität Michigan im „Journal of Pediatrics“ vor dem Gebrauch des HbA1c-Grenzwerts für Erwachsene zur Diabetesdiagnose bei Kindern und Jugendlichen [11]. Im Vergleich mit der NPG-Bestimmung wurde mit dem HbA1c-Grenzwert ≥ 6,5 % nur jeder zweite jugendliche Typ-2-Diabetiker erkannt. Lee hatte die Resultate beider Verfahren bei 1 156 übergewichtigen und adipösen Jugendlichen im Alter von 12 bis 18 Jahren verglichen. Allenfalls müsste demnach der diagnostische HbA1c-Grenzwert für Kinder und Jugendliche gesenkt werden, aber Joyce Lee empfiehlt, weiterhin beim NPG- und oralen Glukosetoleranztest zu bleiben.

Konsequenzen für die Praxis

Im Gegensatz zur SGED hat sich die DDG den Empfehlungen der ADA nicht vollständig angeschlossen: „Trotz der offensichtlichen methodischen Vorteile des HbA1c-Werts konnte sich die Arbeitsgruppe zum jetzigen Zeitpunkt nicht entschließen, die ADA-Empfehlung in vollem Ausmaß zu übernehmen“, heißt es in der DDG-Stellungnahme [10]. Begründet wird die Zurückhaltung vor allem mit der Tatsache, „dass die Schnittmengen zwischen Patienten, deren Diabetes in verschiedenen Populationen mit Glukose beziehungsweise mit HbA1c diagnostiziert wird, sehr variabel und zum Teil erstaunlich gering sind“. Die praxisrelevanten Punkte fasst die DDG folgendermaßen zusammen:

  • Die Spezifität des HbA1c-Werts ≥ 6,5 % ist für die Diagnose ­Diabetes groß.
  • Die Sensitivität des HbA1c-Werts < 5,7 % ist groß genug, um ­Diabetes auszuschließen.
  • Bei einem HbA1c-Wert von 5,7 bis 6,4 % sollte Glukose nach herkömmlichen Kriterien bestimmt werden.
  • Bei Diabetessymptomen (Gewichtsverlust, Polyurie, Polydipsie) sollte primär eine Glukosemessung erfolgen, ebenso bei HbA1c-verfälschenden Umständen (Tabelle 2).

Das HbA1c wird hier also eher als Screeninginstrument für Diabetes gesehen, während man sich bei der Diagnose doch lieber auf NPG oder oGTT verlassen sollte. Ähnlich sieht das Professor Peter Diem, Direktor und Chefarzt der Universitätspoliklinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung am Inselspital Bern: „Screening mittels HbA1c ist für mich eine sehr gute Option. Für die Diagnose eines Diabetes mellitus muss meines Erachtens irgendwann der Blutzucker erhöht sein. Es gibt einfach zu viele Gründe für einen falsch hohen HbA1c-Wert.“

Renate Bonifer


Genehmigter und bearbeiteter Nachdruck aus Ars medici 9/2011


Literatur
1. Henzen C (im Namen der SGED): Messung des HbA1c zur Diagnose des Diabetes mellitus. Eine Stellungnahme der SGED/SSED. Schweiz Med Forum 2011; 11(13): 233.
2. Sacks DB et al.: A1C versus Glucose Testing: A Comparison. Diabetes Care 2011; 34(2).
3. Holmes EW et al.: Analytic Bias Among Certified Methods for the Measurement of Hemoglobin A1c. Am J Clin Pathol 2008; 129: 540–547.
4. Wie treffsicher ist die HbA1c-Messung? ARS MEDICI thema Labor 2009; 1: 14–15.
5. Medina Escobar P, Risch M et al.: Prevalence of Prediabetes and Undiagnosed Diabetes mellitus in the Healthy Swiss Elderly: Results from the Seniorlabor Study. Abstract an der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Klinische Chemie 2010.
6. Selvin E, Steffes MW, Gregg E et al.: Performance of A1C for the classification and prediction of Diabetes. Diabetes Care 2011; 34(1): 84–89.
7. Mann DM et al.: Impact of A1c Screening Criterion on the Diagnosis of Pre-Diabetes Among U.S. Adults. Diabetes Care 2010; 33: 2190–2196.
8. Boronat M, Saavedra P, Lopez-Rios L et al.: Differences in cardiovascular risk profile of diabetic subjects discordantly classified by diagnostic criteria based on glycated hemoglobin and Oral glucose tolerance test. Diabetes Care 2010; 33(12): 2671–2673.
9. Pajunen P, Peltonen M, Eriksson JG et al.: HbA(1c) in diagnosing and predicting Type 2 Diabetes in impaired glucose tolerance: the Finnish Diabetes Prevention Study. Diabet Med 2011; 28(1): 36–42.
10. Stellungnahme der Deutschen Diabetes Gesellschaft, diabetesDE und des Kompetenznetzes Diabetes mellitus zur Verwendung des HbA1c-Wertes als Biomarker zur Diabetesdiagnose: www.deutsche-Diabetes-gesellschaft.de/redaktion/news/Stellungnahme_ HbA1c_final.pdf
11. Lee JM et al.: Diagnosis of Diabetes using Hemoglobin A1c: Should Recommendations in Adults BE Extrapolated to Adolescents? J Pediatrics 2011; doi: 10.1016/.jpeds.2010.11.026.

Interessenkonflikte:
keine deklariert

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2011; 33 (14) Seite 52-54