Sophie-Christin Ernst, u.a. klinisch tätige Ärztin und Mitbegründerin der Initiative Patients4Digital, berichtet über ihre Erfahrungen mit der Digitalisierung und interviewt dazu Max Tischler vom Bündnis Junge Ärzte.

Die Auswirkungen der Digitalisierung beschäftigen Sophie-Christin Ernst sowohl in ihrer Rolle als klinisch tätige Ärztin als auch als Mitbegründerin der Initiative Patients4Digital und als Forscherin zu patientenzentrierten Versorgungsmodellen.

Aus meiner Sicht als Ärztin sollte die Arzt-Patienten-Beziehung eine partnerschaftliche sein: Ärzt:innen beraten basierend auf ihrer medizinischen Expertise ihre Patient:innen und versuchen unter Berücksichtigung individueller Bedürfnisse gemeinsam die bestmögliche Therapie zu erreichen. Ein Schlüsselelement dieser Beziehung ist gute Kommunikation und ihr Fundament ist Vertrauen – der Patient:innen in die Kompetenz der Behandelnden und der Ärzt:innen in die Richtigkeit der Angaben. Ärzt:innen, aber auch Patient:innen, die der Digitalisierung kritisch gegenüberstehen, sehen die Arzt-Patienten-Beziehung und das Vertrauensverhältnis durch diese gefährdet. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass digitale Lösungen die Beziehung im Gegenteil sogar stärken und verbessern können: Digitale Lösungen ermöglichen eine verbesserte Datenerhebung, -verarbeitung und -austausch zwischen den verschiedenen Akteur:innen. Aktuell gehen zu häufig Informationen zwischen verschiedenen Leistungserbringern verloren. Die Digitalisierung reduziert zudem die Informationsasymmetrie in der Arzt-Patienten-Beziehung und trägt zu mehr Transparenz bei: Haben Patient:innen z. B. Zugang zu ihren Daten und werden diese verständlich aufbereitet, kann der Krankheits- und Genesungsprozess besser nachvollzogen werden. Die Kommunikation mit Behandelnden kann unter Zuhilfenahme der erhobenen Daten gefördert und gemeinsame Entscheidungsfindung unterstützt werden. So werden verstärkte Einbindung und Teilhabe von Patient:innen am Behandlungsprozess, ein "Empowerment" und echtes partnerschaftliches Verhältnis erst möglich. Damit dies gelingt, bedarf es bestimmter Voraussetzungen: Neben Sicherheitsstandards und Transparenz wird daher entscheidend sein, dass es uns gelingt, die notwendigen digitalen Kompetenzen an die Patient:innen, aber auch die Ärzteschaft zu bringen.

Das Vertrauen stärken würde aus meiner Sicht auch, wenn die Datenhoheit bei den Patient:innen liegt, diese weiterhin bestimmen können, wer Zugang zu welchen Infos erhält. Gesundheit ist und bleibt ein gesellschaftliches Gut, wir dürfen auch im Zuge der Digitalisierung niemanden zurücklassen. Es gilt auch, alte und neue Versorgungsprozesse zu integrieren und den Zugang für alle zu gewährleisten – unabhängig von sozioökonomischen Ausgangsbedingungen und digitaler Affinität. Die Stimmen in der Ärzteschaft, die diese Position teilen, mehren sich. Für diesen Beitrag habe ich Dr. Max Tischler, der sich als praktizierender Arzt und Digital Entrepreneur engagiert, einige Fragen gestellt, mit denen die aktuelle Entwicklung die Ärzt:innen und Patient:innen konfrontieren.

Über die Initiative Patients4Digital (P4D)
Die gemeinnützige Initiative P4D setzt sich für eine demokratische Neugestaltung des Gesundheitswesens ein. Mitbegründerin und Geschäftsführerin Mina Luetkens erklärt: "Gesundheit ist ein Grundbedürfnis und geht jeden etwas an. Wenn wir das System Gesundheit öffnen, Partizipation ermöglichen und mehr Transparenz herstellen, wird es uns besser gelingen, innovative Versorgungsformen mit echtem Mehrwert gerade für Ärzt:innen und Patient:innen umzusetzen. Je mehr Digitalisierung, KI und Automatisierung Einzug hält, umso gewichtiger wird der Faktor Mensch. Wir wollen die verschiedensten Akteur:innen, insbesondere Bürger:innen, an Bord holen, ohne einen eigenen kommerziellen Zweck zu verfolgen. Wir sind überzeugt: Nur so kann die notwendige Vertrauensbasis geschaffen werden, um erfolgreiche Zusammenarbeit über etablierte Silos und Sektorengrenzen hinweg zu ermöglichen." http://patients4digital.com/



Autorin

© privat
Sophie-Christin Ernst

Assistenzärztin in der Ophthalmologie (Stadtspital Zürich)
Wiss. Mitarbeiterin am Fachgebiet Management im Gesundheitswesen der TU Berlin
Mitgründerin vonder Initative Patients4Digital


Interview: Sophie-Christin Ernst sprach für die doctors today mit Max Tischler

Interview zu Auswirkungen der Digitalisierung auf das Arzt-Patienten-Verhältnis

Wie steht die Ärzteschaft zur Digitalisierung?

Max Tischler (MT): "Logischerweise gibt es mehr Diskussionsbedarf, wenn etwas nicht funktioniert. Am Ende führen solche negativen Erfahrungen aber leider auch dazu, dass Chancen im Rahmen der Digitalisierung unter den Tisch fallen. Gleichzeitig hat sich keiner gekümmert, die digitalen Weiterentwicklungen den Betroffenen zu vermitteln: Patient:innen haben die Medizinische Fachangestellte (MFA) oder die Ärzt:in, die das Ganze erklärt. Eine entsprechende Vergütung für diesen Aufwand ist aber nicht vorgesehen. Ärzt:innen erklärt niemand etwas —keiner hilft bei technischen Problemen. Funktioniert der Konnektor nicht, dann wird es aber direkt schwierig. Und die Restriktionen beginnen sofort, wenn man irgendetwas nicht angeschlossen oder gestartet hat, von dem man weiß, dass es nicht einwandfrei funktioniert. Oft braucht es für die Umstellung der Systeme in der Praxis einfach deutlich länger. Wünschenswert wäre, dass ein fertiges Produkt geliefert wird — das setzen wir es in den Arztpraxen dann auch erfolgreich ein. Statt Sanktionierung würde dann auch Incentivierung die Ärzteschaft begeistern."

Macht Digitalisierung Kommunikation transparenter?

MT: "Viele Mediziner:innen würden ihre Kommunikation heute schon als sehr transparent bezeich-nen. Objektiv betrachtet ist das oft nicht deckungsgleich mit dem, was Patient:innen erleben. Für diese ist das direkte Arzt-Patienten-Gespräch entscheidend, das i. d. R. unter zeitlichem Druck abläuft und mit Aufregung verbunden ist. Es ist nicht selten, dass eine Patient:in etwas anderes meint, also sie sagt und das Gegenüber versteht. Wenn wir mehr digitale Systeme nutzen und über mehr Daten verfügen, kann das auch helfen, die Versorgung besser zu machen."

Bedeuten mehr Gesundheitsdaten automatisch eine bessere Therapie?

MT: "Insbesondere die DiGA, deren Datenqualität in Studien überprüft wird, sorgen bereits dafür, dass langfristige Daten aus dem Patientenalltag in die Versorgung einfließen − z. B. in die Bewertung einer Therapie. Digitale Daten können besser ausgewertet und dokumentiert werden. Das erleichtert die Therapieanpassung, bedeutet aber mehr Verantwortung: So muss die Patient:in digitale Werkzeuge nicht nur verwenden können, sondern auch die Wichtigkeit der Daten verstehen. Die Digitalisierung des Gesundheitssystems führt dazu, dass Patient:innen mehr Verantwortung erhalten für ihre Gesundheit, was gut ist. Aber sie müssen frühzeitig über diese Verantwortung informiert werden und die notwendigen Kompetenzen erwerben: zum Aufbau der Gesundheitsversorgung, zu ihren Daten und der Notwendigkeit der Weitergabe dieser Informationen."

Gibt es auch Schattenseiten?

MT: "Ich kann Kolleg:innen durchaus verstehen, die sich jahrelang für ihre Patient:innen und deren Wohl eingesetzt haben und sich nun durch mehr Transparenz nicht noch mehr unter Druck setzen möchten. Das liegt auch mit an der mangelnden Fehlerkultur hierzulande: Der Wert einer positiven Fehlerkultur wird im Medizinstudium nicht vermittelt. Auch werden Arzt-Fehler nicht verziehen. Fehler passieren, dies ist nur menschlich, der Umgang mit diesen muss jedoch erlernt und in einen Behandlungsablauf integriert werden. Grundsätzlich ist eine transparente Behandlung etwas Gutes. Wenn mir fortlaufend Daten zu meinem Patient:innen vorliegen, erkenne ich auch früher Optimierungs- potenzial und kann die Therapie anpassen."

Wie vermittelt man wichtige digitale Kompetenzen?

MT: "Die Zahnärzt:innen haben es z. B. schon recht früh verstanden, Karies und Zähneputzen in den Unterricht und damit an die Kinder zu bringen. Viele andere Themen fallen unter den Tisch. Oft wird z. B. kritisiert, dass Schüler:innen zwar den Satz des Pythagoras beherrschen, aber nicht wissen, wie eine Steuererklärung funktioniert, und keine Kenntnisse über das Gesundheitssystem haben. Von unten aufzubauen ist klug, auch hier. Aber das ist natürlich Vorarbeit für die kommenden Patientengenerationen."

Ist die Arztpraxis der richtige Ort?

MT: "In jedem Fall. Ich persönlich halte Ärzt:innen dafür geeignet, die notwendigen Informationen kurzfristig zu vermitteln und zu überbrücken, bis wir bei den nachwachsenden Generationen eine bessere Basis gelegt haben. Die Krankenkassen sehe ich in der Verantwortung, wenn es um die Schulung digitaler Handlungskompetenzen geht, in Form von Webinaren, in Form von Videos und durch die Bereitstellung von Informationsmaterial. In der Praxis erreichen wir insbesondere die Patient:innen mit vielen unterschiedlichen Erkrankungen: Sie sind häufig älter und regelmäßig in der Praxis. Genau die Personen, für die mehr Daten im Regelfall auch eine bessere Gesundheitsversorgung ermöglichen. Wir könnten anfangen bei den Kleinen in der Schule (um es für die Zukunft besser zu machen), informieren die mittleren Patient:innen, die nicht so häufig beim Arzt sind, über die Krankenkassen – und diejenigen, die öfter in der Hausarztpraxis sind, die nehmen wir hier mit. Es gibt aber auch Personen, die man so nicht erreicht. Ich habe z. B. in meiner dermatologischen Praxis erlebt, wie eine Patientin um die 70 völlig aufgelöst war, weil sie für die Reparatur eines Haushaltsgerätes ihre Handynummer hätte angeben sollen. Sie hatte doch gar kein Handy und schon gar keinen Internetzugang! In einem solchen Moment wird klar, dass die Welt außerhalb dessen, was man selbst als digital affiner Mensch kennt, anders funktioniert. Ich fände es z. B. gut, wenn die Termine in der Praxis nur noch online gebucht werden könnten, aber diese Patienten würden wir dann nicht mehr erreichen. Das muss bedacht werden."

Wie begeistert man Ärzt:innen?

MT: "Wenn man mehr Akzeptanz möchte, muss das "Gesamtprodukt Digitalisierung" besser werden und der Nutzen für alle Beteiligten einfach erkennbar sein. Gleichzeitig gibt es auf Ärzteseite auch ein sehr zurückhaltendes Nutzerverhalten und eine Abwehrhaltung gegenüber Neuem. Wenn entscheidende Gremien dann noch v. a. mit älteren Kolleg:innen außerhalb der Versorgung besetzt sind, ist das nicht zuträglich. Man hat hier vonseiten der Politik in den letzten Jahren auch sehr viel nicht korrekt abgewickelt, sodass diese ablehnende Haltung nicht von ungefähr kommt."

Ändert sich gerade das Arztbild?

MT: "Gottgleich in Weiß ist nicht mehr das, was junge Mediziner:innen anstreben. Die Patient:innen sind längst nicht mehr nur Informationsempfän- ger. Das Rollenbild auf Arztseite ändert sich dadurch grundlegend, was gerade nicht bedeutet, dass der Ärzt:innen nicht mehr als kompetent empfunden wird. Ich glaube vielmehr, die ärztliche Position wird in den nächsten Jahren noch wichtiger. Es werden uns zwar diagnostische Dinge abgenommen werden − aber Inhalte und Entscheidungen mit Empathie zu füllen, das bleibt hohe ärztliche Aufgabe und lässt sich nicht digitalisieren. Dahingehend müssen sich aber auch noch viele Dinge verändern: die Aus- und Weiterbildung der Ärzteschaft, aber auch Organisation und die Vergütung. Empathie geht i. d. R. über das Sprechen, geht über die Zeit mit und am Patiente:innen– und bei der Gesprächsqualität, da läuft es eben nicht über die Masse, die Fallzahl oder Ähnliches."

Das Interview führte Sophie-Christin Ernst



Interviewpartner

© privat
Dr. med. Max Tischler

Sprecher des Bündnisses Junger Ärzte
Facharzt für Dermatologie & Allergologie
Medical Director OnlineDoctor

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Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (9) Seite 22-24