In der Pandemie zeigen digitale Werkzeuge wie Videosprechstunde und Online-Terminvereinbarung ihr organisatorisches Potenzial. Hat der Einsatz solcher digitaler Innovationen aber auch einen greifbaren finanziellen Nutzen für die einzelne Hausarztpraxis? Wir klären, was im Praxisalltag bereits möglich ist, und rechnen nach, ob daraus tatsächlich messbare wirtschaftliche Vorteile entstehen können.
Für eine Arztpraxis zählt jede Minute. Genau deswegen sind sie so ärgerlich, diese Minuten, die man mit umständlichen organisatorischen Prozessen verliert. Sind digitale Praxiswerkzeuge hier eine hilfreiche Unterstützung oder doch eher eine Spielerei, die zusätzliche Kosten verursacht?
Warum wir darüber reden sollten
Telemedizinische Anwendungen setzen vorrangig an einer Verbesserung zentraler Strukturen an (prozessualer Nutzen). Franziska Plessing hat sich in ihrer Master-Thesis mit ihrem Potenzial für die ambulante Versorgung beschäftigt und sieht hier die Chance auf eine Win-win-Situation für alle Beteiligten: Aufseiten der Kostenträger nennt sie z. B. die Vermeidung regionaler oder fachlicher Unterversorgung, die durch die Nutzung von Videosprechstunden in unterversorgten Gebieten erzielt werden könnte, sowie einen verbesserten Gesundheitszustand der Versicherten (denkbar z. B. durch eine fortlaufende Verlaufskontrolle). Auf der Seite der Leistungserbringer wie der Hausarztpraxen schlagen u. a. Verbesserungen bei Qualität und Kundenzufriedenheit zu Buche, aber auch ökonomische Aspekte im Sinne der Zeit- und Kostenersparnis. Aus Patientensicht erstrebenswert sei u. a. eine Stärkung des Patient-Empowerments sowie ein besserer Zugang zu medizinischen Leistungen.
Abläufe verbessern, Ausfälle reduzieren
Viele Patient:innen sind coronabedingt auf die telefonische Terminvereinbarung ausgewichen − und mussten dann feststellen, dass sich auch die telefonischen Warteschlangen erheblich verlängert haben. So kommen auch solche Patient:innen nicht mehr durch, die ihren Termin absagen bzw. verschieben wollen.
Das Team als wertvoller "Rohstoff"
Eine Arztpraxis, die ihre Mitarbeiter:innen gezielt entlastet, erhöht ihre Chancen, gut ausgebildete Teammitglieder auch langfristig zu halten. Denn diese Fachkräfte können sich dann auf die wichtige Arbeit mit den Patient:innen konzentrieren, wegen der sie sich dereinst für ihren Berufsweg entschieden haben. Gleichzeitig reduziert die Optimierung von Arbeitsprozessen die Wahrscheinlichkeit interner Reibungen, mit positiven Auswirkungen auf Arbeitsatmosphäre und Teamzusammenhalt. Dass die fortschreitende Digitalisierung im Gesundheitswesen das Demografieproblem sogar weiter verschärfen könnte, zeigt der Digital Health Care Index für 2021: Mit 22 % fürchten fast doppelt so viele Führungskräfte wie zuvor, dass zwischenmenschliche Kommunikation und informeller Austausch auf der Strecke bleiben. Gleichzeitig betrachten 71 % ihre individuelle Entwicklung als Führungskraft als größte Herausforderung in der digitalen Arbeitswelt, gefolgt von einer notwendigen Veränderung der Unternehmenskultur (25 %).
** z. B. durch weniger Terminausfälle plus Neupatient:innen; berechnet für eine beispielhafte Praxis in Niedersachsen mit einer Behandler:in, durchschnittlichem GKV-Honorar/Behandlungsfall = 65,83 €, zwei Terminausfällen und 20 terminbezogenen Anrufen/Tag; samedi
Systemaktualität für mehr Rechtssicherheit
Ärztliche Aufzeichnungen sind für die Dauer von zehn Jahren nach Abschluss der Behandlung aufzubewahren, soweit nicht nach gesetzlichen Vorschriften sogar eine längere Aufbewahrungspflicht besteht. Eine sachgemäße Digitalisierung der Patientendaten und der Behandlungsabläufe kann sich auch hier bezahlt machen. Und kommt es zu einem Haftungsprozess, hat die Patientenakte entscheidende Bedeutung: Sie gibt Aufschluss, welche Maßnahmen die jeweiligen Ärzt:innen (nicht) getroffen haben. Vor Gericht gilt die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit von Patientenunterlagen, aber dafür muss laut BGH (Urteil vom 27.04.2021, VI ZR 84/19) erkennbar sein, wann welcher Eintrag wie genau erfolgt ist: damit sichergestellt ist, dass Einträge nicht nachträglich unbemerkt verändert werden können. Deswegen rät Rechtsanwalt Tim Müller allen Arztpraxen, die Aktualität ihrer Praxissoftware zu prüfen und sich z. B. durch den Softwareanbieter bestätigen zu lassen, dass die Anforderungen des § 630f Abs. 1 BGB (Dokumentation der Behandlung) eingehalten sind.
Wertige Ergänzung, aber kein Ersatz
Bisher nutzen zu einem hohen Prozentsatz insbesondere bessergestellte Bevölkerungsgruppen mit meist akuten Beschwerden den "Arzt online". Auf der einen Seite sind diese Patient:innen für eine Praxis natürlich finanziell besonders interessant, auf der anderen Seite verschärft eine solche Entwicklung aber auch Ungerechtigkeiten innerhalb der Gesundheitsversorgung − zulasten bereits benachteiligter Personengruppen wie z. B. chronisch kranker Menschen und/oder weniger digital affiner Patient:innen. Bei aller digitalen Begeisterung darf daher nicht vergessen werden, dass diese digitalen Innovationen möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden sollten und digitale Dienstleistungen gerade im medizinischen Bereich kein Ersatz für eine zuverlässige Erreichbarkeit vor Ort sein können.
Der Digitalisierungsgrad von Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen hat sich laut Digital Health Care Index durchschnittlich auf 60 % erhöht. Das ist umso wichtiger, als die Patient:innen heute immer umfassender (nicht zwingend auch besser) informiert sind und höhere Ansprüche stellen, gerade bei der Verfügbarkeit digitaler Angebote. Selbst ein hoher Altersdurchschnitt bei den Patient:innen schafft hier langfristig keine Abhilfe, denn auch bei "60 Plus" steigt die Begeisterung für multimediale Konzepte und digitale Dienste.
Richtig oder gar nicht?!
Eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass man das tatsächliche wirtschaftliche Potenzial digitaler Zusatzangebote in der eigenen Hausarztpraxis effektiv nutzen kann, ist ihr konsequenter Einsatz in der Praxis. Dazu gehört auch, dass alle Mitarbeiter:innen die Chance bekommen, sich praktisch mit den neuen digitalen Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Dann werden solche Innovationen in der Hausarztpraxis auch jenseits von Honorarplus und Neukundengewinnung noch wertvoller. Dann sind nicht "nur" wirtschaftliche Vorteile möglich, sondern die damit verbundenen Investitionen rechnen sich auch mit Blick auf Arbeitszufriedenheit und Mitarbeiterbindung.
Auf den Punkt gebracht
Die folgende Vorteile könnten je nach Praxisausrichtung bereits heute in der niedergelassenen Hausarztpraxis genutzt werden:
- Optimierung organisatorischer Kernprozesse wie z. B. Terminvergabe und Terminverschiebung
- Ressourcenschonung und Mitarbeiterbindung
- Reduktion von Terminausfällen
- Zusatzeinnahmen und Honorarplus
Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (2) Seite 20-22